»Ruhm der Ukraine!«

Zuweilen kann ein schmaler Erzählband intensiver über das Leben erzählen als eine seitenstarke politische Analyse.

Mann mit Gasmaske sitzt in einem Sessel vor dem Fernseher

Text: Frank Keil
Foto: plastikman1912, photocase.de

 
Männerbuch der Woche, 28te KW. – Serhij Zhadan schildert in seinen heldenfreien Geschichten »Keiner wird um etwas bitten« mit zu Herz gehender Dringlichkeit vom Kriegsleben in der Ukraine.

Zur Rezension

Ein Tag auf dem Rad mit der Endlichkeit

Dem Wissen um die Endlichkeit, der eigenen, der anderer, das Ende von Möglichkeiten und Lebensabschnitten, haftet auch immer etwas Magisches an.

Fahrrad vor weitem Himmel mit Horizont

Text: Guido Wiermann
Foto: Alexander Bentheim
Schwerpunkt »Endlichkeiten«


Ich fahre. Der kühle Wind weht mir um die Nase. Ich genieße das gemächliche Fortkommen, denn ich bin mit dem Bio-Bike unterwegs. So nennt sich seit dem Boom der E-Bikes das ganz einfache Fahrrad. Gefühlt schwebe ich, gleite vor mich hin. Und behalte im besten Falle doch Bodenkontakt. Am liebsten radele ich ohne Ziel, ohne Plan und Termin. Und ohne E-Antrieb. Einfach so. Ich spüre den Moment der Endlosigkeit. Endlos wie die Reifen, die mein Fahrrad tragen und immer und immer wieder ihre Runden drehen. Der Kreis als Symbol des Nichtendendwollenden. Keine Ecken oder Kanten. Kein Wenn und Aber – endlos glücklich.

Es ist Mitte Mai 2025. Als Kind hatte ich mir das Leben in der Zeit dieser Jahreszahl oft als utopisches Zukunftsszenario à la Raumschiff Enterprise vorgestellt. Aber ich erwache am Morgen des 16. Mai in einer relativ normalen Welt. Selbst die Nachrichten, die um 6 Uhr morgens aus dem Radiowecker erklingen, erscheinen mir fast gewöhnlich. Drohnenangriffe in der Ukraine, Bundeswehrstationierung in Litauen, Kämpfe und Tote in Gaza und das Erstarken von rechtsradikalen Kräften und Jugendgruppen in Deutschland. Das Wetter…
Wenn da nur nicht dieser Schwindel wäre. Schon beim Wachwerden, noch im Liegen, bemerke ich ihn. Es dreht sich. Ich drehe mich im Bett. Da es mir sonst gut geht, beruhige ich mich. Spiele kurz mit dem Gedanken, heute zu Hause zu bleiben, beschließe dann aber, es zu probieren. Wenn ich Radfahren kann, bin ich arbeitstauglich, so mein logischer Schluss – Endlichkeit ahnend.

Ich fahre, also radele, vorsichtig los – und es geht. Wer Rad fährt, vergisst sogar körperliche Unzulänglichkeiten. Beim Radfahren komme ich immer in einen Zustand der Entspannung, des Träumens. Wie schon erwähnt, gerne ohne Plan und Ziel.
Leider hat der Fahrer des Audi Q3, der aus der Seitenstraße auf die Einmündung zufährt und meinen Radweg kreuzt, sehr wohl einen Plan und auch einen Termin. Nur leider verschwendet er keinen Gedanken an andere Verkehrsteilnehmer. Und zum Glück fahre ich auch träumend fast immer mit dem 7. Sinn, dem aus der bekannten Sendung der 1970er Jahre. Und zum Glück hat mein Fahrrad, fast neu und wenig benutzt, weil ich für die vielen Tausend Kilometer Arbeitsstrecke sonst das E-Bike nehme, auch schon eine moderne Scheibenbremse. Die greifen sehr gut. Was stand in der Werbung des Anbieters? »Schneller bringt dich nur eine Mauer zum Stehen«. Ich stehe also, etwa 20 Zentimeter vor der metallic schwarzen Fahrertür des Wagens. Dessen Insasse schaut erst einigermaßen verdattert, aber nicht schuldbewusst und gibt dann Gas. Ich kann nach einem tiefen Atemzug weiter radeln – endlich.

Ich bin in den 1970ern auf einem abgelegenen Dorf in Schleswig-Holstein aufgewachsen. Und zu der Zeit gab es dort modernste Vorschulen, denn es gab kaum Kindergärten und irgendwo mussten die Kinder ja hin. Also erfand man die Vorschule. Um dort hinzugelangen, mussten die Kinder sehr früh Radfahren lernen. Das war mein Riesenglück. Auch wenn ich in den Lehrwochen vor Beginn meiner Vorschulzeit handfeste Erfahrungen mit der Schwerkraft machen musste. Das Radelvirus hatte mich gepackt.
Fortan fuhr ich morgens los, holte eine Mitschülerin ab und wir radelten gemeinsam zur Grundschule, also Vorschule. Und mittags zurück nach Hause. An einem Tag auf dem Nachhauseweg aber passierte ein Unglück, bei dem sie unter einen Lkw geriet und verstarb. Für heutige Verkehrsverhältnisse mag das einigermaßen möglich erscheinen. Aber wir waren dort auf einem Dorf mit wenigen Hundert Einwohnern und einer einzigen kleinen Raiffeisenkasse. Von dieser jedoch fuhren ein- bis zweimal täglich Lkws ab. Schicksal? Vielleicht, ich weiß es nicht – Ende.

Nun hatte ich wohl von Natur aus eine gute Resilienz mitbekommen und die ließ mich trotz des schrecklichen Ereignisses weiter am Radfahren festhalten. Zum Glück. Denn viel mehr konnte man dort in der Weite des flachen Landes auch nicht machen. Handballspielen noch, aber das wurde nie meins und das ist eine andere Geschichte. Also setzte ich mich immer nach der Schule auf mein Rad und erkundete die Umgebung. Diese kannte ich natürlich schon in- und auswendig, und doch erschien sie mir immer wieder neu. Je nach eigener Laune und nach Jahreszeit. Raus in die Stapelholmer Endmoränenlandschaft. Runter ins Moor, zwischen den alten Torfgruben und lichten Birkenwäldchen drehte ich meine Runden. Und schon damals philosophierte ich wohl still über die Endlichkeit. Denn meine Eltern hatten mir von den schwierigen Bedingungen des Torfabbaus und der landwirtschaftlichen Erschließung in diesem Gebiet erzählt. Von umkippenden Heuwagen und ertrinkenden Pferden erzählten sie Geschichten aus dem Leben ihrer Kindheit und Jugend. Und von einem Besuch im Landesmuseum Gottorf kannte ich schon die dort ausgestellten Moorleichen. Meine Phantasie war unermesslich angeregt. Ich genoss dabei die strahlende Sonne, den duftenden Wind im Gesicht, das vielstimmige Singen der Vögel, die unterschiedlich quakenden Frösche und die scheinbar endlose Weite des Landes. Und radelte ohne Ziel und Ende vor mich hin …

Mit dem Schulabschluss und dem Beginn der ersten Berufsausbildung war dann spätestens das Ende der sorglosen Kindheit eingeläutet. Zweiter Beruf und Studium. Familiengründung und Kindererziehungszeiten. Eins kam nach dem anderen und es mangelte mir nie an Ideen, die es noch umzusetzen galt. Jede Station für sich trug eine gewisse Endlichkeit in sich und doch ging es immer weiter. Alles wurde zu Ende gebracht und immer wieder gab es einen Anfang. Fürs Radfahren fand ich aber dauernd, mal mehr, mal weniger Zeit. Es blieb ein Kontinuum – dauerhaft.

Während der Zeit der Kindererziehung hatte ich Gelegenheit, mich in die Gestaltung und Programmierung von Onlineauftritten einzuarbeiten. So kam mir der Wechsel vom gedruckten »Switchboard« zum online Männerwege-Portal gerade recht, um damit auch persönlich etwas beitragen zu können. Auch ein Ende mit Neuanfang.

Heute in meinem Büro aber, der technischen Verwaltung an einer großen Gesamtschule, bat mich eine Mutter um Rückruf. Sie liegt im Krankenhaus und sagt mir, sie hätte noch etliche Operationen vor und schon einige hinter sich. Sie schildert mir Ihr Anliegen und ihre Situation. Ich ahne, dass es nicht so gut um sie steht. Sie kann sich nicht um die notwendigen Dinge für ihre drei Kinder an dieser Schule fürs nächste Schuljahr kümmern. Ich sage ihr, dass ich alles Nötige übernehmen werde, damit ihre Kinder Schulbücher ausleihen können. Ich spürte ihre Erleichterung, wünschte alles Gute, legte den Hörer auf und schaute dann lange aus dem Fenster – letztendlich.

Nach getaner Arbeit schwinge ich mich wieder aufs Rad und der Fahrtwind vertreibt mir dabei sämtliche Gedanken an den Stress des Tages, die Ungeduld einiger Eltern und den Lärm der Schülergruppen im Gebäude. Vor mir biegt ein seltsames Gefährt auf den Radweg ein. Ich erkenne ein Liegerad mit drei Rädern. Aus dem Gepäckkorb hinter dem knallroten Fahrersitz ragt ein Gehstock, ganz klassisch aus Holz mit aufwendig geschnitztem Griff. Bevor er Gas gibt, der Elektromotor dieses Gefährts befindet sich offenbar nicht mehr im Originalzustand, kann ich den Fahrer noch als älteren Herrn identifizieren. So kann es also weitergehen, vielmehr -fahren, denke ich. Das ist doch beruhigend, selbst wenn das Laufen mal mühsamer werden sollte – unendlich.

Schürfwunden an Knien, Händen und Ellenbögen. Blutige Lippen, zwei zerschlagene, ehemals wunderschöne Schneidezähne, der einzige Stolz meines Karies geplagten Gebisses, und ein ganz leichter, aber sehr schmerzhafter Kapselriss am Fußgelenk. Ein paar Kleinigkeiten habe ich sicher einfach vergessen in meiner Aufzählung von Verletzungen, die mir im Laufe der Jahrzehnte beim Ausfahren meiner Leidenschaft passiert sind. Und es lag immer eine gewisse Zeit dazwischen, so dass ich nie ans Aufhören dachte – niemals!

Doch ich weiß, dass das auf Dauer nicht stimmen wird …

Dem Wissen um die Endlichkeit, der eigenen, der anderer, das Ende von Möglichkeiten und Lebensabschnitten, haftet auch immer etwas Magisches an. Ich habe nie Hermann Hesses berühmten Satz »Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne« wirklich begriffen. Denn wer einen Anfang hat, weiß zumindest grundsätzlich schon, dass es – und vielleicht auch wie – weiter geht. Der wahre Zauber aber steckt im Ende. Oder wie es Edward Cole (gespielt von Jack Nicholson) in »The Bucket List« auf seine Art auf den Punkt bringt; er spielt in dem Film von 2007 einen todkranken Milliardär, der noch einiges erleben möchte vor seinem Abgang: »Ich muss mich wenigstens nicht mit Reinkarnation rumschlagen«, schließt er für sich, als er ins buddhistische Himalaja reist – Neuanfang.

Ich drehe noch eine kleine Feierabendrunde. Der Wind weht mir um die Nase und das Gefühl von Zuhausesein ist mein Gepäck. Angekommen im Fortfahren. Der Horizont scheinbar unendlich. Endlichkeit – du kannst mich mal!

Ich wünsche allen MännerWege-Mitmacher*innen zum 10. Jahrestag immer genug Kraft und Kreativität zum Schreiben, Setzen, Fotografieren, Rezensieren und stets eine Handbreit Tinte auf dem Füller.
Und allen Leser*innen weiterhin viel Neugier und endlose Freuden beim Lesen und Schauen.

Endlichkeiten als Wegmarken

Ohne Endlichkeiten gibt es keine Übergänge und Entwicklungen. Und wir brauchen Endlichkeiten, um uns orientieren zu können.

Text: Alexander Bentheim
Foto: Sia Panayidou, pexels.com
Schwerpunkt »Endlichkeiten«

 
Ein eigenes Zimmer, endlich, da war ich fast acht Jahre alt, und auch wenn es nur ein kleiner Bereich in einem Flur war, der durch einen Vorhang abgetrennt war. Geschwisterfreie Zone, endlich! Dann eine andere Schule, mit einem anderen Morgenweg, und endlich gab es mal wieder Neues zu entdecken, Umgebungen, Freundschaften, Herausforderungen. Einige Jahre später dann endlich auch das erste selbstverdiente Geld, als Handlanger in einem Sägewerk in den Sommerferien, nun konnte der eine oder andere Wunsch wahr werden, ein neues Keyboard für die Band war drin. Und endlich auch der erste Kuss, der nicht nur aufregend schmeckte, sondern auch erwachsener machte. Und dann endlich 18 und Führerschein, mit neuen Freiheiten: Entschuldigungen für die Schule selber schreiben dürfen, mobil über größere Distanzen sein, wo ein Fahrrad nicht mehr hinreichte, und von der Welt einmal mehr ernst genommen werden; ab jetzt konnte man auch darauf bestehen, gesiezt zu werden, wenn jemand einem zu nahekam. Bald danach auch endlich raus in eine andere Stadt, eigene Wohnung, eigenen Gestaltungsmöglichkeiten, eigene Verantwortungen. Dann irgendwann auch endlich mal fertig mit der Uni, und es gab den ersten Lohn im erlernten Beruf, auch wenn es nur ein Teilzeitjob war, noch dazu befristet … Endlichkeiten waren für mich meist etwas, wo ich ankommen konnte – vorläufig, bis es wieder weiterging. Biografische Wegmarken. Orientierungshilfen. Erfahrungen machen, Kräfte einschätzen, schlauer werden. Bei einigem, das begann, war es gut, dass es wieder endete. Anderes wurde zur angenehmen Erinnerung, wenn es vorbei war. Manches hätte gern weitergehen können, da stand die Endlichkeit nur dumm im Weg. Rückblickend aber hatte alles seinen Ort und seine Zeit. Meine Mutter sagte oft: »Wer weiß, wozu das noch gut sein wird …« und hatte dabei durchaus auch die ungewollten Endlichkeiten im Blick.

Denke ich an Endlichkeiten, dann sogleich auch an Unendlichkeiten. So wie ein Zaun ein Gelände begrenzt, und es dahinter mit Sicherheit weitergeht. Oder eine Frage nach einer Antwort verlangt und zugleich die nächste Frage mitliefert. Oder Menschen Kinder kriegen, die wiederum Kinder kriegen, die dann selbst auch wieder Kinder kriegen, wenn nichts dazwischenkommt. Endliches ist aufgehoben im Unendlichen, ohne Zweifel. Umgekehrt kommen die Vorstellungskräfte schon eher an ihre Grenzen, auch wenn wir noch so neugierig sind: Wo komme ich her, wo gehe ich hin? Was war vor mir, was kommt nach mir? Ist die letzte Antwort wirklich die letzte? Was steckt hinter einer Idee, einer Reaktion? Macht Liebeskummer Sinn und wie lange dauert der Shice? Es gibt keine Endlichkeit an sich, vielleicht nur einen kurzen Stopp, eine längere Unterbrechung, manchmal auch einen sehr langen Aufschub, jedoch immer nur ein selbst- oder fremdgesetztes Ende, kontextuell eingebettet in Überforderung, Langeweile, Ärger, Ermüdung oder Zeitmangel.

Bei kleinen Kindern ist die berühmt-berüchtigte Frage: »Und dann?« bekannt. Sie wollen wissen, was passiert und was danach und was auch dann noch. Es könnte ewig so weiter gehen, wenn nicht der strapazierte Nerv des Erwachsenen dem ein (temporäres) Ende setzt oder das Kind von selbst wieder da rauskommt, wo es mit seiner Frage angefangen hat. Ein Kreisfragen quasi, bei dem es nicht nur um die Antworten geht, sondern auch um das In-Kontakt-gehen und -bleiben mit dem Gegenüber, was ja ebenfalls einer Selbstvergewisserung gleichkommt. Endlich ist die Fragerei, aber unendlich der Kreis. Ein Spaziergang um einen See ist nichts anderes und nur zeitlich überschaubarer als eine Weltumrundung. Endlichkeiten im Unendlichen sind biografische Wegmarken, um sich in den eigenen Entwicklungen räumlich, zeitlich und seelisch verorten und Halt finden zu können.

Zeit und Vertrauen tief fühlen

(…)

Mann mit offenen Armen vor Sonnenaufgang

Text: Martin Verlinden
Foto: Peggy Anke, pexels.com
Schwerpunkt »Endlichkeiten«


Rucksack der Pflichten ablegen, einfach dran vorbeigehen.

Mich den Momenten hingeben, befreit von »unabdingbaren Wünschen und Hoffnungen«.

Momente öffnen in Freiheit. Verweilen, wo ich willkommen bin und jederzeit gehen kann!

Zeitlos wachsen und spüren, wie tief am Nichts alles möglich –
ohne Zerren um eigene und anderer Wünsche.

So knüpf‘ ich Ketten von »JA‘s« in die eigene Seele und entspanne. So lieb ich mit starkem »JA«, das sich mein Gegenüber nicht erst verdienen muss.

Ein unbedingtes »JA«: mutig, entledigt der Ansprüche, selbstbewusst und klar, unabhängig vom Auf und Ab steifer Lebensumstände.
Vertrauend auf alles, was ich bewirken und spüren kann.

Ein so umfassendes, tägliches »JA«, wortlos gegeben,
enthält auch Zeiten erfüllenden Alleinseins –
wissend, dass alles möglich bleibt und enden darf.

»Aufhören – ja, warum denn nicht?«

Eine Begegnung und ein Gespräch mit dem Fotografen Klaus Andrews über die Werkstatt seines Vaters, Hubschrauberflüge in der Arktis und warum sein Berufsleben nun für immer endet.

Mann mit Eselswagen vor alter Tankstelle

Text: Frank Keil
Foto: Klaus Andrews
Schwerpunkt »Endlichkeiten«


Ich lerne den Fotografen Klaus Andrews kennen, als ich im Stadtmuseum Schleswig seine Ausstellung besuche. Es geht um Tankstellen in Georgien.
Tankstellen in Georgien?
Er holt mich vom Bahnhof ab. Er trage eine blaue Jacke und stehe auf dem Parkplatz neben einem roten Auto, hatte er mir zuvor gemailt. Und nun steht neben einem roten Auto ein Mann in einer blauen Jacke. Wir fahren zum Museum, im Erdgeschoss (knarrender Holzfußboden, jeder Schritt ist zu hören) sind rundum seine Bilder gehängt.

Klaus Andrews stammt aus Norddeutschland, er hat in Hamburg vor vielen Jahrzehnten an der dortigen HfBK Visuelle Kommunikation studiert, und eine seiner ersten konzeptionellen Arbeiten, er ist damals im dritten Semester, war eine Foto-Serie über stillgelegte Tankstellen im Landkreis Pinneberg.
Ihm seien seinerzeit eines Tages die vielen Tankstellen aufgefallen, die nicht mehr in Betrieb waren und wie sie da verloren in der Landschaft gestanden hätten; er sei damals als junger Mann recht schüchtern gewesen, Leute anzusprechen und mit ihnen zu reden, nicht so sein Ding; da wären Tankstellen, noch dazu stillgelegte, verwaiste, genau das Richtige für ihn gewesen, passend, sozusagen, erzählt er mir während des Rundganges.
Und danach habe er immer wieder Tankstellen fotografiert, auf seinen vielen Reisen, etwa durch die USA, entlang der legendären Routen, die man aus Film und Literatur so gut zu kennen meine (Route 66 und Co). Und zuletzt ging es eben nach Georgien, dort gezielt und ausschließlich Tankstellen fotografieren: stillgelegte, aufgegebene und längst verlassene Tankstellen wie auch die, die unbeeindruckt in Betrieb seien; an die man fahre, um zu tanken, nachts weithin hell erleuchtet.

»Für mich schließt sich mit dieser Ausstellung ein Kreis«, sagt er.
Er sagt: »2600 Kilometer in zwei Wochen.« Und er zeigt auf eine Landkarte von Georgien, das von der Fläche etwa so groß ist wie Bayern.
Denn so viele Kilometer fahren sie (ihn begleitet die Übersetzerin Eto Jincharadse) mit einem Leihwagen kreuz und quer durchs Land; sie besuchen die Hauptstadt Tbilissi, fahren ans Schwarze Meer, reisen ins Grenzgebiet zu Aserbaidschan, zu den weitgehend versiegten Erdölquellen des Landes. Die so genannten abtrünnigen und vom Nachbarland Russland kontrollierten Provinzen Abchasien und Ossetien müssen sie auslassen.

Ich erfahre bei unserem Rundgang viel über die Geschichte Georgiens anhand seiner Tankstellen: dass zu Sowjetzeiten Tankstellen gebaut wurden, wenn immer Material vorhanden war, egal, ob man sie brauchte oder nicht; heute stehen viele von ihnen als zugewachsene Ruinen in der Landschaft herum. Dass mit der Unabhängigkeit des Landes 1991 ein regelrechter Tankstellenboom einsetzte; immer neuere Autos, die man sich vorher nicht leisten konnte, bevölkerten das Land und brauchten unentwegt Benzin. Korruption und Misswirtschaft wie auch Wirtschaftskrisen beendeten dann den Boom, von vormals 4.500 Tankstellen wurden 1.600 wieder geschlossen, heute sind die großen Tankstellenbetreiber in russischer Hand so wie auch die neue, zentrale Autobahn, die einmal quer durch das Land von Ost nach West führt, von chinesischen Investoren gebaut wird, womit China seinen auch politischen Einfluss auf Georgien erheblich ausbaut, während es besonders die junge Bevölkerung nach Europa drängt.

Mir gefallen seine Fotos; ihr schlichter, auf den Punkt gebrachter dokumentarischer Charakter ohne Kunstschnörkelei. Ich habe das alles nicht gewusst, was er mir erzählt, etwa über Tankstellenruinen als Treffpunkte für die Lkw-Trucker, die sich hier zu Konvois zusammenfinden, es wird geschätzt, dass jeden Tag bis zu 1.000 Lkws das Land durchqueren, auf dem Weg nach Russland, in die Türkei, nach Aserbaidschan und das mit ihm verfeindete Armenien; dass man an jeder noch so abgeschiedenen Tankstelle selbstverständlich mit der Bank- oder Kredit-Karte bezahlen kann, dass man aber selbst in der Hauptstadt sein Fahrzeug nicht selbst betanken kann, sondern das ein Tankwart erledigt, und wie er das visuell umgesetzt hat – das ist sehr gelungen.

Und zum Abschied sage ich etwas aufgekratzt: »Sie halten mich auf dem Laufenden, wenn Ihr nächstes Projekt spruchreif ist?«
»Es wird kein nächstes Projekt geben«, sagt er. Denn dies sei seine letzte Ausstellung gewesen, er höre auf zu fotografieren. Und zwar ganz und gar. Er sei jetzt Rentner.
Ich bin irritiert, er bemerkt das. »Aufhören – ja, warum denn nicht?«, sagt er freundlich und reicht mir die Hand.

Zum Gespräch und mehr Fotos.

Ein gutes Ende finden!

Über das Älterwerden und den Tod

Handinnenfläche
Text: Holger Barth
Foto: iotas, photocase.de
Schwerpunkt »Endlichkeiten«


Sprachlos

Als ich jung war,
drehte sich die Welt um mich,
und ich erhob meine Stimme,
mit den Fäusten zum Himmel.

Jetzt im Alter
dreh ich mich um die Welt,
mit den Händen in der Tasche,
und es verschlägt mir die Sprache.



Prolog

Um es gleich vorwegzunehmen: Ich will in diesem Beitrag, wo es um die eigene Endlichkeit gehen soll, nicht nur mit Witz oder gar Klugschwätzerei brillieren. Denn dafür ist mir das Thema viel zu ernst und zu wichtig. Würde ich das tun, ließe ich das Wesentliche nicht an mein Herz heran. Womit wir vielleicht gleich beim Anlass des Schreibens wären. Nämlich, welchen Zugang speziell Männer dazu haben. Meist wird dieses Ende von ihnen – so lautet ein gängiges Vorurteil – eher theoretisiert oder objektiviert. Um ihm den Stachel zu nehmen, den Horror. Um die eigene Endlichkeit nicht denken zu müssen.

MännerWege stellt sich nicht nur die Aufgabe, Männern eine Stimme zu geben, sondern bietet ihnen ein Forum, neue (Lebens)Perspektiven zu entwickeln. Deshalb möchte ich das Privileg der Alten nutzen, über das Ende nachdenken zu dürfen. Denn die Jungen können sich seiner Bedeutung nur wenig bewusst werden, weil es schlicht nicht auftaucht an ihrem Horizont. Ganz nach dem Motto des griechischen Philosophen Epikur: »Wenn wir sind, dann ist der Tod nicht da, wenn der Tod da ist, sind wir nicht.« (1)

Bevor ich aber darauf zu sprechen komme, muss ich mich der Vorstufe, dem Älterwerden zuwenden. Warum dieser Exkurs? Man kennt die Alten, denen man auf der Straße oder im Supermarkt begegnet. Diese ewigen Nörgler! Ihnen ist nichts recht und früher war alles besser. Sie haben den Anschluss an die Gegenwart verpasst und sich in ihrem Panoptikum eingerichtet, einbalsamiert von ihrem durchweg geregelten Dasein. Im Gegensatz dazu gibt es die Variante, permanent jugendlicher Vitalität und körperlicher Attraktivität nachzueifern. Das Ende jedoch zu ignorieren und sich in einer subjektiven Idealwelt einzurichten, ist auch keine Lösung.

Vieles spricht dafür, dass die Frage des Lebensendes eine Frage des vorangegangenen Lebens ist. Nähere ich mich dieser Vermutung aus der Perspektive des Schreibens: Will ich wie jetzt zu einem bestimmten Thema etwas schreiben, lese ich mich in fremde Texte ein, schreibe prägnante Zitate ab, mache mir eigene Gedanken. So langsam entsteht eine Idee, worüber und wie ich darüber schreiben will. Doch mit dem Anfang tue ich mich immer schwer: Steige ich gleich ein oder hole weit aus? Überrasche ich oder wähle einen gewohnten Einstieg? Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass ich den Leser oder die Leserin gleich zu Anfang catchen muss, sonst habe ich ihn oder sie verloren, bevor es überhaupt losgeht. Das gilt aber auch gleichermaßen für das Ende: Soll es offenbleiben oder mit einer Gewissheit enden? Habe ich die richtigen Schlussfolgerungen gezogen? Ein schlechtes Ende kann das ganze Lesevergnügen verderben. Man kann am Ende viel falsch machen.

Okay, will ich also über das unwiderrufliche Ende schreiben. Das Ende, nach dem nix mehr kommt. »We are on a road to nowhere«, wie es die Talking Heads Mitte der 1980er Jahren gesungen haben, als wir Boomer noch in der Blüte unseres Lebens standen.

Abschied auf Raten

»Älterwerden ist nichts für Feiglinge«, steht es gedruckt auf einer Postkarte. Was hier spaßig gemeint ist, lässt sich durchaus als eine ernstzunehmende Erfahrung verstehen. Eine Erfahrung, die subjektiv und deshalb nur schwer vermittelbar erscheint. Man spricht nicht gerne darüber, auch, weil sie mit Verlusten zu tun hat. Anders als in manchen Urvölkern, wo Ältere verehrt werden, fällt ihnen in unserer Gesellschaft keine tragende Rolle zu. Sie verschwinden in einem Paralleluniversum, in dem sie sich gut einrichten. Man sieht sie in Cliquen auf ihren E-Bikes den Elbradweg entlangradeln. Aber auch in der Philharmonie oder im Deutschen Theater trifft man sie an, weil sie an Kunst und Kultur interessiert sind. Sie setzen sich am Ku’damm in Cafés zusammen, und vereinzelt verabreden sich Großeltern zum Eisessen mit ihrem Enkelkind. Doch meist bleiben sie unter sich, weil sie Vertriebene sind. Vertrieben aus einer Welt, die sie zu kennen glaubten. Aber diese Welt verändert sich in einem rasanten Tempo und es ist für sie nicht mehr möglich, Schritt mit ihr zu halten. Die Vertreibung findet dabei auf allen Ebenen statt: zeitlich, räumlich, geistig und emotional.

Der stetige Verlust der Bedeutsamkeit, der Gesundheit und der Leistungsfähigkeit – solche existenziellen Verluste machen uns zu Vertriebenen (2). In meiner Generation waren es oft noch die Männer, die Projekte entwickelt und umgesetzt haben. Sie haben Bücher geschrieben, Häuser gebaut oder einen Betrieb geleitet. Wie geht es ihnen, wenn sie nicht mehr gebraucht werden? Es heißt ja, dass Männern der Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand schwerfällt, sie nicht selten an depressiven Verstimmungen erkranken. Sind da Frauen anders, weil sie weicher fallen? Frauen haben als Mütter oft sehr starke Bindungen zu ihren Kindern. Sie haben durch das Zusammenleben mit ihnen gelernt, Veränderungen anzunehmen, und können loszulassen. Allgemein sagt man Frauen ebenso nach, dass sie mehr als Männer Beziehungen pflegen. Solche gelebten Bezüge kann man im Alter gut gebrauchen. Doch wie muss es erst denen gehen – egal, ob Mann oder Frau – für die sich im Leben nicht alles erfüllt hat, die gescheitert sind? Irgendwann stellt sich der Zeitpunkt ein, wo es gilt, sich auch damit arrangieren zu müssen und Niederlagen in die eigene Biografie einzubinden.

Kurzum, es geht gar nicht um das Älterwerden an sich, sondern um die Verluste, die damit einhergehen. Es sind Herausforderungen, denen sich jeder im Alter stellen muss. Abschied auf Raten: Wir trauern um Freunde, die zu früh aus dem Leben geschieden sind. Wir trauern um unsere Zähne, die durch eine Teilprothese ersetzt werden. Und vom Libidoverlust ganz zu schweigen. Für mich war es persönlich mit einer sehr traurigen Erfahrung verbunden, die eigenen Eltern ins Pflegeheim begleiten zu müssen. Da bricht etwas hinter einem weg, das eine große Bedeutung im eigenen Leben hatte. Der anschließende Verkauf des Elternhauses führte zu einem spürbaren Heimatverlust. Ich war plötzlich auf mich allein gestellt.

Sich selbst begegnen

Augenblick mal, wird jetzt der eine oder die andere Leser:in zurecht widersprechen, bei aller Schwarzmalerei ist das Älterwerden doch auch ein Zugewinn. Stimmt, zumal jede:r auch für sich entscheidet, wann er oder sie sich zum »alten Eisen« zählt, wie es so schön heißt. Für mich gab es diesen Moment in der Kita meiner Enkeltochter, als ich meine eigene Stimme hörte, während ich mich als »Opa« outete. Erschreckend und beruhigend zugleich, festzustellen, dass man das Zepter an die junge Generation weitergibt. Nun lädt man zu Weihnachten nicht mehr die Kinder und ihre Familien ein, sondern feiert bei ihnen. Auf der Arbeit habe ich als Sozialarbeiter die höchste Erfahrungsstufe erreicht, obwohl es die junge Kollegin ist, die den Laden zusammenhält. Die Lebensumstände und Verantwortlichkeiten kehren sich zwischen den Generationen um.

Was den Alten bleibt, sind Lebenserfahrungen und Alltagswissen, die zu ihrem Leidwesen in der digitalen Welt von ihren Nachkommen nicht mehr so nachgefragt werden. Ich erinnere mich noch, wie viele Telefonate es mich gekostet hat, bis ich den Oldenburger Grünkohl so wie meine Mutter kochen konnte. Meine Kinder dagegen rufen bei solchen Angelegenheiten eher ein Tutorial bei YouTube auf. Abgesehen davon, machen die Lebenserfahrungen vor allem mit uns und unserer Einstellung zum Leben etwas; sie haben unser Sein und Wesen über die vielen Jahre geprägt. Den Alten sagt man Tugenden wie Gelassenheit, Klugheit und die Kraft des Verzeihens nach. In der Tat, wir haben so manche Krisen durchlebt, Schicksalsschläge durchlitten und Herausforderungen gemeistert. Und, wir leben noch! Es ist die Kombination aus dem Wissen, dass mich so schnell nichts mehr erschüttern kann, und dem Erleben von Vergänglichkeit, die das Gefühl erzeugt, nicht mehr »so an dem Leben gebunden zu sein, ohne jedoch dem Leben gegenüber gleichgültig zu sein«, wie es Ina Schmidt so vortrefflich in ihrem Buch »Über die Vergänglichkeit« formuliert. (3)

Nun ist der Zeitpunkt gekommen, um mich auf das vorangestellte Gedicht zu beziehen. Denn uns wird ja nicht nur bewusst, dass unser Leben vergänglich ist, sondern durch die Verlusterfahrung gewinnen wir Distanz zu uns selbst und begegnen uns anders. Am Ende des Lebens empfindet man sich nicht mehr als Zentrum, vielmehr vermute ich wie Hans Blumberg, »dass der Welt unser Leben gleichgültig bleibt« (4). Dieses Bewusstsein verschafft ungeahnte Freiheiten. Ich muss nicht immer Recht haben, sondern nehme die eigene Bekehrbarkeit in den Blick. In politischen Diskussionen bin ich neugierig auf die Position meines Gegenübers, denn die eigene kenne ich ja bereits. Weil ich vermute, dass das Gesagte so nicht gemeint war, kann ich meinem Onkel nach 20 Jahren seinen damaligen Lapsus verzeihen. Und weil ich nicht weiß, was nach meinem Ende kommt, kann ich im Sinne Ernst Blochs wieder Hoffnung haben (5), dass die Welt eine Bessere sein wird. Auch wenn es mir in Anbetracht der derzeitigen Weltlage nicht leicht fällt.

Erzählung & Resonanz

Mein Vater wollte zeitlebens, dass ich als Sohn in seine Fußstapfen trete und sein Architekturbüro weiterführe. Also geht es zum Lebensende auch um Hinterlassenschaften. Um etwas, was von mir bleibt und das an mich erinnern soll. Neben materiellen Dingen, wie ein Familienunternehmen, ein vererbtes Elternhaus oder das Lieblingsporzellan der Oma, sind es vor allem Erzählungen, die die Hinterbliebenen an den oder die Verstorbene:n erinnern. Denn »nicht was wir gelebt haben, ist das Leben, sondern das, was wir erinnern und wie wir es erinnern, um davon zu erzählen« (6), schreibt Gabriel García Márquez in einem seiner Romane. Dabei werden Geschichten immer wieder repetiert, schließlich muss jede Erzählung glaubhaft gemacht und von anderen bestätigt werden.

Bereits zu Lebzeiten ist das biografische Erzählen von großer Bedeutung für die persönliche Identitätsbildung, also für das Selbstverständnis und die Darstellung der eigenen Person. Erst über das Erzählen ist das Verstehen der Mitmenschen, sind zwischenmenschliche Beziehungen möglich. Erst über das Erzählen lassen sich Wissen und Erfahrungen über die Welt vermitteln, kann das »Nicht-Erfahrbare erfahrbar« gemacht werden. Jeder erinnert sich an seine Kindheit und Jugend als eine Lebensphase, wo das Herz offen ist und man Eindrücke aufsaugt wie ein Schwamm.

Doch im Alter kann der Vorrat an Empathie verbraucht sein. Dann wird das Leben zur Last, weil es einen Zustand der Langeweile, Gleichgültigkeit und Kälte erreicht hat. Dieser Bedrohung durch ein Leben, in dem wir keine Resonanzen mehr erleben (7), lässt sich entgegenwirken, indem wir den Verlust von Sinn und Bezogenheit anerkennen. Die Trauer erlaubt uns, verletzbar zu sein und genau dadurch wieder empfänglich zu werden. Es fällt mir manchmal schwer, auf das kindliche Glucksen meiner Enkeltochter adäquat zu reagieren: nämlich glucksend! Aber nur so kann ich mit ihr und der Welt in Resonanz gehen. So robbe ich mich ins eigene Leben zurück und gewinne die Deutungshoheit über das eigene Leben zurück. Es ist letztlich der Versuch, in einer Welt wieder heimisch zu werden, die einem das Gefühl von Zugehörigkeit genommen hat und die auf dieselbe Weise nie wieder Heimat werden kann.

Bilanz ziehen

Mein 21-jähriger Sohn erzählte mir vor Kurzem voller Bewunderung von dem US-amerikanischen Influencer Bryan Johnson, der sich Longevity auf die Fahnen geschrieben hat, also die Aufgabe, niemals zu sterben. Dafür nutzt er mit sichtbarem Erfolg Körperscans, Tests, Nahrungsergänzungsmittel und einen Lebensstil, der seinen Alterungsprozess verlangsamen oder gar umkehren soll.
Ich denke an meine Schwester, die seit letzter Woche zum Sterben im Hospiz liegt. Der Verlust eines geliebten Menschen ist Grund genug, den Tod ein Arschloch zu nennen. Und doch fehlt mir die Vorstellungskraft, wie kümmerlich ein Leben ohne Ende wäre. Dabei hängt es nicht von der Lebensdauer ab, denn ein kurzes Leben kann genauso gelungen sein wie ein langes Leben. Die Endlichkeit des Lebens zwingt uns, wichtige Projekte rechtzeitig zu Ende zu bringen. Ein endliches Leben ist auf den Tod als Ziel- und Endpunkt ausgerichtet. Viele Menschen treffen in Angesicht ihres bevorstehenden Todes Vorkehrungen. Sie setzen ein Testament auf, um für ihre Angehörigen zu sorgen und mit ihrem Leben abzuschließen. Die Biografie wird so zu einer Geschichte, die irgendwann zu Ende erzählt ist und ihren Abschluss findet. Ein Sterblicher kann am Ende seines Lebens Bilanz ziehen und aus seiner subjektiven Perspektive beurteilen, ob sein Leben gut oder schlecht war.

Nun kommt die Zeit, über Gott nachzudenken. Sind wir als Jugendliche aus der Kirche ausgetreten, stellen wir nun im Alter fest, dass wir das Leben nicht vom Ende her gedacht haben. Gott kann Trost geben. Auferstehung von den Toten, Wiedergeburt, Seelenwanderung – alles Strategien, um dem Ende seinen Schrecken zu nehmen.

Uns treibt die Frage um, ob wir selbst entscheiden können, wie das Ende aussehen soll, denn schließlich wollen wir nicht sabbernd in einem Alten- und Pflegeheim dahinsiechen und auf den Tod warten, oder? Das Ende wollen wir selbst in die Hand nehmen. Am besten noch den Soundtrack für die Trauerfeier auswählen. Obwohl es uns doch völlig egal sein kann, denn wir werden ja nicht dabei sein.

Epilog

Ich schrieb anfangs von dem Verkauf meines Elternhauses und wie ich mich dadurch heimatlos fühlte. Heute wohnt dort eine junge Familie mit zwei Kindern, für die das Haus ein Anfang ist. Ich habe sie letztens besucht und mich davon überzeugt, dass das Haus in guten Händen ist.



Anmerkungen
(1) Epikur: Briefe, Sprüche, Werkfragmente. Stuttgart, 1980: 45.
(2) Den Zusammenhang zwischen Verlust und Vertreibung, Verlust als soziales Phänomen, stellt der Soziologe Andreas Reckwitz in seinem neuen Buch her. Vgl. Andreas Reckwitz: Verlust. Ein Grundproblem der Moderne. Frankfurt a.M., 2024.
(3) Ina Schmidts Buch habe ich viele inspirierende Gedanken zum Thema zu verdanken. Vgl. Ina Schmidt: Über die Vergänglichkeit. Hamburg, 2019: hier S. 24.
(4) Hans Blumberg: Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt a.M., 1986.
(5) Vgl. Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt a.M., 1985.
(6) Gabriel García Márquez: Leben, um davon zu erzählen. Köln, 2002.
(7) Den Begriff der Resonanz, wie ich ihn hier verwende, hat der Soziologe Hartmut Rosa geprägt. Vgl. Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Frankfurt a.M., 2016.

Momente in Leichtfüßigkeit

Das Leben kann uns oft an unsere Grenzen führen und unsere Endlichkeit demonstrieren. Wenn wir dem Anspruch auf ewig Beständiges und dem Wunsch nach vertrauter Gleichförmigkeit widerstehen, schreckt uns die Endlichkeit von Momenten, Etappen oder Lebensphasen weniger.

Text: Martin Verlinden
Foto: Alexander Bentheim
Schwerpunkt »Endlichkeiten«


Hunger verzerrt deinen sichernden Geschmack.
Fassade weckt statt Verstehen nur kurzen Appetit.
Suchen überlagert genügsames Glück.

Nicht-Müssen gebärt moralische Freiheit. Den zarten Moment des flüchtigen Zufalls gewähren lassen, lockt zum Glücklichsein mit leichtem Nichts.

Begriffe verschleiern dein klares Erleben.
Anziehung geht Worten voraus – tief in uns und leis.
Abscheu bannt kein wohlgeformter Satz.

Worte verführen schnell den, der wankt.

Verstehen kann nur, wer Stille in sich wachsen lässt.
Sätze sind Schatten, verfliegen wie Nebel vor der Sonne in uns.

Momente des flüchtigen Zufalls gewähren lassen, lockt zum Glücklichsein mit leichtem Nichts und mit ihrem Enden.

Der wenig erforschte Diskurs

Mit Männlichkeiten haben sich die Gender Studies bislang nur am Rande beschäftigt. Sylka Scholz, Soziologin an der Uni Jena, hat jetzt ein Grundlagenwerk zu dem weithin unterbelichteten Thema vorgelegt.

Mann hält seine Hand ans Ohr

Text: Thomas Gesterkamp
Foto: Andrea Piacquado, pexels.com

 
Bücher über Männer und männliche Emanzipation sind im Vergleich zur viel umfangreicheren feministischen Literatur nach wie vor eine subkulturelle Angelegenheit. In Buchhandlungen oder Bibliotheken werden sie nur am Rande präsentiert, und wenn, dann meist nur in geringem Umfang. (…) Seminare und Vorlesungen zu Themen wie Rollenstereotype oder sexuelle Orientierung an den Hochschulen sind sehr beliebt – und häufig überfüllt. Diese Erfahrung hat auch Sylka Scholz gemacht. Die Soziologin an der Universität Jena, die wie andere Dozentinnen oft nur »nebenbei« Veranstaltungen zu Gender-Themen anbieten kann, hat gerade ein materialreiches Grundlagenwerk zur Männlichkeitsforschung vorgelegt. Es richtet sich, als Lehrbuch konzipiert, vorrangig an Studierende, liefert aber zudem anregende Details zur Geschichte eines bisher weitgehend unterbelichteten Fachgebiets. Scholz benennt und analysiert Schlüsselbegriffe wie hegemoniale Männlichkeit, männlicher Habitus und männliche Sozialisation. Sie liefert einen Überblick über die wichtigsten Bereiche der Konstruktion von Männlichkeiten wie Erwerbsarbeit, Vaterschaft, Paarbeziehung, Migration und Rechtspopulismus; auch neuere alternative Ansätze wie Queer- und Transtheorien hat sie eingearbeitet. (…)

Zur Rezension

Später ist es irgendwann zu spät

Es kommt nicht drauf an, den Gipfel zu bezwingen, sondern zu wissen, wann man umkehren muss.

zwei Männer vor einem Haus

Text und Foto: Tom Focke
Schwerpunkt »Endlichkeiten«


Also mein Leben ist eine Uhr, oder ein Kuchen. Geviertelt. Das letzte Viertel bricht an. Vielleicht wird es das Schönste nach der Jugend. Als Atheist glaube ich im Gegensatz zu Udo Lindenberg nicht daran, dass es hinter‘m Horizont weitergeht; im Radio läuft ein Podcast »Der Tod gehört zum Leben«.

Nach 40 Jahren Selbständigkeit als Tischlermeister fahre ich noch Senioren zur Tagespflege – es ist ein guter Abschluss, gerade zum Thema Endlichkeit. Da ich so ziemlich alle Gebrechen an Bord habe, überlege ich gerade, was besser ist, Schlaganfall oder Demenz. Ich entscheide mich für Schlaganfall, sollte es soweit sein, denn dann kann ich noch mit Leuten plaudern, wenn alles gut geht, so wie oben im Bild mit Genosse Scharfenberg, früher VoPo, dann Westcop und jetzt im betreuten Wohnen. Dafür erzähle ich ihm von den Grenztruppen der DDR, wo ich als Kurier mal eine Bild-Zeitung nach Berlin fahren musste. War ja schließlich ein Grenzdurchbruch und faxen konnte man nicht. Mit Demenz wird‘s schwierig mit der Konversation, die ich so liebe.

Ja, nach fünf Kindern, mehreren Häusern und einigen Turbulenzen werden meine eher rückständigen Tugenden Demut und Geduld noch etwas weiterentwickelt, denn die Endlichkeit nun täglich vor Augen und zuvor jahrzehntelang verdrängt, fühle ich mich jetzt gewappnet für die Dinge, die da noch kommen. Gute Freunde und Freundinnen haben mittlerweile Krebs – was auch ich meinem sudeten-wolgadeutschen Körper über die Jahre angeboten habe, war schon fahrlässig. Jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen bei jeder Zigarette – mit so viel mühsam errungener Erkenntnis und Lebenslust wäre es jetzt echt blöd, vor der Ziellinie zu sterben. Aber Helmut Schmidt ist mein Argument: alles kann, nichts muss.

Ich bin jedoch auch vorbereitet, Patientenverfügung, etwas Rente und frei im Kopf, freue ich mich auf die nächsten 10 Jahre und ziehe nach MV. Vier Wohnungen und eine Scheune bieten genug Möglichkeiten für MännerWG, FeWo, Werkstatt oder Pflegefachkraft. »Oben fit und unten dicht – mehr wünsch‘ ich mir für‘s Alter nicht«? Mal schauen was wird … Es kommt nicht drauf an, den Gipfel zu bezwingen, sondern zu wissen, wann man umkehren muss. Zweite Scheidung läuft 🙂

Endlichkeit, 5

(…)

leeres Zimmer mit Bett und Stuhl

Text: Ralf Ruhl
Foto: Wendelin Jacober, pexels.com
Schwerpunkt »Endlichkeiten«


Eine Schicht Zeit
Noch unverklärt
Auf den Regalen und
Dem Ohrensessel

Die Zimmer nur Zimmer
Unnötig, auf Befehle
Und Erwartungen zu horchen

Der Rasenmäher arbeitet
Mulch auf, freiwillig,
legt zwischen Frühlingsblumen
eine Schicht Zeit