Über das Älterwerden und den Tod

Text: Holger Barth
Foto: iotas, photocase.de
Schwerpunkt »Endlichkeiten«
Sprachlos
Als ich jung war,
drehte sich die Welt um mich,
und ich erhob meine Stimme,
mit den Fäusten zum Himmel.
Jetzt im Alter
dreh ich mich um die Welt,
mit den Händen in der Tasche,
und es verschlägt mir die Sprache.
Prolog
Um es gleich vorwegzunehmen: Ich will in diesem Beitrag, wo es um die eigene Endlichkeit gehen soll, nicht nur mit Witz oder gar Klugschwätzerei brillieren. Denn dafür ist mir das Thema viel zu ernst und zu wichtig. Würde ich das tun, ließe ich das Wesentliche nicht an mein Herz heran. Womit wir vielleicht gleich beim Anlass des Schreibens wären. Nämlich, welchen Zugang speziell Männer dazu haben. Meist wird dieses Ende von ihnen – so lautet ein gängiges Vorurteil – eher theoretisiert oder objektiviert. Um ihm den Stachel zu nehmen, den Horror. Um die eigene Endlichkeit nicht denken zu müssen.
MännerWege stellt sich nicht nur die Aufgabe, Männern eine Stimme zu geben, sondern bietet ihnen ein Forum, neue (Lebens)Perspektiven zu entwickeln. Deshalb möchte ich das Privileg der Alten nutzen, über das Ende nachdenken zu dürfen. Denn die Jungen können sich seiner Bedeutung nur wenig bewusst werden, weil es schlicht nicht auftaucht an ihrem Horizont. Ganz nach dem Motto des griechischen Philosophen Epikur: »Wenn wir sind, dann ist der Tod nicht da, wenn der Tod da ist, sind wir nicht.« (1)
Bevor ich aber darauf zu sprechen komme, muss ich mich der Vorstufe, dem Älterwerden zuwenden. Warum dieser Exkurs? Man kennt die Alten, denen man auf der Straße oder im Supermarkt begegnet. Diese ewigen Nörgler! Ihnen ist nichts recht und früher war alles besser. Sie haben den Anschluss an die Gegenwart verpasst und sich in ihrem Panoptikum eingerichtet, einbalsamiert von ihrem durchweg geregelten Dasein. Im Gegensatz dazu gibt es die Variante, permanent jugendlicher Vitalität und körperlicher Attraktivität nachzueifern. Das Ende jedoch zu ignorieren und sich in einer subjektiven Idealwelt einzurichten, ist auch keine Lösung.
Vieles spricht dafür, dass die Frage des Lebensendes eine Frage des vorangegangenen Lebens ist. Nähere ich mich dieser Vermutung aus der Perspektive des Schreibens: Will ich wie jetzt zu einem bestimmten Thema etwas schreiben, lese ich mich in fremde Texte ein, schreibe prägnante Zitate ab, mache mir eigene Gedanken. So langsam entsteht eine Idee, worüber und wie ich darüber schreiben will. Doch mit dem Anfang tue ich mich immer schwer: Steige ich gleich ein oder hole weit aus? Überrasche ich oder wähle einen gewohnten Einstieg? Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass ich den Leser oder die Leserin gleich zu Anfang catchen muss, sonst habe ich ihn oder sie verloren, bevor es überhaupt losgeht. Das gilt aber auch gleichermaßen für das Ende: Soll es offenbleiben oder mit einer Gewissheit enden? Habe ich die richtigen Schlussfolgerungen gezogen? Ein schlechtes Ende kann das ganze Lesevergnügen verderben. Man kann am Ende viel falsch machen.
Okay, will ich also über das unwiderrufliche Ende schreiben. Das Ende, nach dem nix mehr kommt. »We are on a road to nowhere«, wie es die Talking Heads Mitte der 1980er Jahren gesungen haben, als wir Boomer noch in der Blüte unseres Lebens standen.
Abschied auf Raten
»Älterwerden ist nichts für Feiglinge«, steht es gedruckt auf einer Postkarte. Was hier spaßig gemeint ist, lässt sich durchaus als eine ernstzunehmende Erfahrung verstehen. Eine Erfahrung, die subjektiv und deshalb nur schwer vermittelbar erscheint. Man spricht nicht gerne darüber, auch, weil sie mit Verlusten zu tun hat. Anders als in manchen Urvölkern, wo Ältere verehrt werden, fällt ihnen in unserer Gesellschaft keine tragende Rolle zu. Sie verschwinden in einem Paralleluniversum, in dem sie sich gut einrichten. Man sieht sie in Cliquen auf ihren E-Bikes den Elbradweg entlangradeln. Aber auch in der Philharmonie oder im Deutschen Theater trifft man sie an, weil sie an Kunst und Kultur interessiert sind. Sie setzen sich am Ku’damm in Cafés zusammen, und vereinzelt verabreden sich Großeltern zum Eisessen mit ihrem Enkelkind. Doch meist bleiben sie unter sich, weil sie Vertriebene sind. Vertrieben aus einer Welt, die sie zu kennen glaubten. Aber diese Welt verändert sich in einem rasanten Tempo und es ist für sie nicht mehr möglich, Schritt mit ihr zu halten. Die Vertreibung findet dabei auf allen Ebenen statt: zeitlich, räumlich, geistig und emotional.
Der stetige Verlust der Bedeutsamkeit, der Gesundheit und der Leistungsfähigkeit – solche existenziellen Verluste machen uns zu Vertriebenen (2). In meiner Generation waren es oft noch die Männer, die Projekte entwickelt und umgesetzt haben. Sie haben Bücher geschrieben, Häuser gebaut oder einen Betrieb geleitet. Wie geht es ihnen, wenn sie nicht mehr gebraucht werden? Es heißt ja, dass Männern der Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand schwerfällt, sie nicht selten an depressiven Verstimmungen erkranken. Sind da Frauen anders, weil sie weicher fallen? Frauen haben als Mütter oft sehr starke Bindungen zu ihren Kindern. Sie haben durch das Zusammenleben mit ihnen gelernt, Veränderungen anzunehmen, und können loszulassen. Allgemein sagt man Frauen ebenso nach, dass sie mehr als Männer Beziehungen pflegen. Solche gelebten Bezüge kann man im Alter gut gebrauchen. Doch wie muss es erst denen gehen – egal, ob Mann oder Frau – für die sich im Leben nicht alles erfüllt hat, die gescheitert sind? Irgendwann stellt sich der Zeitpunkt ein, wo es gilt, sich auch damit arrangieren zu müssen und Niederlagen in die eigene Biografie einzubinden.
Kurzum, es geht gar nicht um das Älterwerden an sich, sondern um die Verluste, die damit einhergehen. Es sind Herausforderungen, denen sich jeder im Alter stellen muss. Abschied auf Raten: Wir trauern um Freunde, die zu früh aus dem Leben geschieden sind. Wir trauern um unsere Zähne, die durch eine Teilprothese ersetzt werden. Und vom Libidoverlust ganz zu schweigen. Für mich war es persönlich mit einer sehr traurigen Erfahrung verbunden, die eigenen Eltern ins Pflegeheim begleiten zu müssen. Da bricht etwas hinter einem weg, das eine große Bedeutung im eigenen Leben hatte. Der anschließende Verkauf des Elternhauses führte zu einem spürbaren Heimatverlust. Ich war plötzlich auf mich allein gestellt.
Sich selbst begegnen
Augenblick mal, wird jetzt der eine oder die andere Leser:in zurecht widersprechen, bei aller Schwarzmalerei ist das Älterwerden doch auch ein Zugewinn. Stimmt, zumal jede:r auch für sich entscheidet, wann er oder sie sich zum »alten Eisen« zählt, wie es so schön heißt. Für mich gab es diesen Moment in der Kita meiner Enkeltochter, als ich meine eigene Stimme hörte, während ich mich als »Opa« outete. Erschreckend und beruhigend zugleich, festzustellen, dass man das Zepter an die junge Generation weitergibt. Nun lädt man zu Weihnachten nicht mehr die Kinder und ihre Familien ein, sondern feiert bei ihnen. Auf der Arbeit habe ich als Sozialarbeiter die höchste Erfahrungsstufe erreicht, obwohl es die junge Kollegin ist, die den Laden zusammenhält. Die Lebensumstände und Verantwortlichkeiten kehren sich zwischen den Generationen um.
Was den Alten bleibt, sind Lebenserfahrungen und Alltagswissen, die zu ihrem Leidwesen in der digitalen Welt von ihren Nachkommen nicht mehr so nachgefragt werden. Ich erinnere mich noch, wie viele Telefonate es mich gekostet hat, bis ich den Oldenburger Grünkohl so wie meine Mutter kochen konnte. Meine Kinder dagegen rufen bei solchen Angelegenheiten eher ein Tutorial bei YouTube auf. Abgesehen davon, machen die Lebenserfahrungen vor allem mit uns und unserer Einstellung zum Leben etwas; sie haben unser Sein und Wesen über die vielen Jahre geprägt. Den Alten sagt man Tugenden wie Gelassenheit, Klugheit und die Kraft des Verzeihens nach. In der Tat, wir haben so manche Krisen durchlebt, Schicksalsschläge durchlitten und Herausforderungen gemeistert. Und, wir leben noch! Es ist die Kombination aus dem Wissen, dass mich so schnell nichts mehr erschüttern kann, und dem Erleben von Vergänglichkeit, die das Gefühl erzeugt, nicht mehr »so an dem Leben gebunden zu sein, ohne jedoch dem Leben gegenüber gleichgültig zu sein«, wie es Ina Schmidt so vortrefflich in ihrem Buch »Über die Vergänglichkeit« formuliert. (3)
Nun ist der Zeitpunkt gekommen, um mich auf das vorangestellte Gedicht zu beziehen. Denn uns wird ja nicht nur bewusst, dass unser Leben vergänglich ist, sondern durch die Verlusterfahrung gewinnen wir Distanz zu uns selbst und begegnen uns anders. Am Ende des Lebens empfindet man sich nicht mehr als Zentrum, vielmehr vermute ich wie Hans Blumberg, »dass der Welt unser Leben gleichgültig bleibt« (4). Dieses Bewusstsein verschafft ungeahnte Freiheiten. Ich muss nicht immer Recht haben, sondern nehme die eigene Bekehrbarkeit in den Blick. In politischen Diskussionen bin ich neugierig auf die Position meines Gegenübers, denn die eigene kenne ich ja bereits. Weil ich vermute, dass das Gesagte so nicht gemeint war, kann ich meinem Onkel nach 20 Jahren seinen damaligen Lapsus verzeihen. Und weil ich nicht weiß, was nach meinem Ende kommt, kann ich im Sinne Ernst Blochs wieder Hoffnung haben (5), dass die Welt eine Bessere sein wird. Auch wenn es mir in Anbetracht der derzeitigen Weltlage nicht leicht fällt.
Erzählung & Resonanz
Mein Vater wollte zeitlebens, dass ich als Sohn in seine Fußstapfen trete und sein Architekturbüro weiterführe. Also geht es zum Lebensende auch um Hinterlassenschaften. Um etwas, was von mir bleibt und das an mich erinnern soll. Neben materiellen Dingen, wie ein Familienunternehmen, ein vererbtes Elternhaus oder das Lieblingsporzellan der Oma, sind es vor allem Erzählungen, die die Hinterbliebenen an den oder die Verstorbene:n erinnern. Denn »nicht was wir gelebt haben, ist das Leben, sondern das, was wir erinnern und wie wir es erinnern, um davon zu erzählen« (6), schreibt Gabriel García Márquez in einem seiner Romane. Dabei werden Geschichten immer wieder repetiert, schließlich muss jede Erzählung glaubhaft gemacht und von anderen bestätigt werden.
Bereits zu Lebzeiten ist das biografische Erzählen von großer Bedeutung für die persönliche Identitätsbildung, also für das Selbstverständnis und die Darstellung der eigenen Person. Erst über das Erzählen ist das Verstehen der Mitmenschen, sind zwischenmenschliche Beziehungen möglich. Erst über das Erzählen lassen sich Wissen und Erfahrungen über die Welt vermitteln, kann das »Nicht-Erfahrbare erfahrbar« gemacht werden. Jeder erinnert sich an seine Kindheit und Jugend als eine Lebensphase, wo das Herz offen ist und man Eindrücke aufsaugt wie ein Schwamm.
Doch im Alter kann der Vorrat an Empathie verbraucht sein. Dann wird das Leben zur Last, weil es einen Zustand der Langeweile, Gleichgültigkeit und Kälte erreicht hat. Dieser Bedrohung durch ein Leben, in dem wir keine Resonanzen mehr erleben (7), lässt sich entgegenwirken, indem wir den Verlust von Sinn und Bezogenheit anerkennen. Die Trauer erlaubt uns, verletzbar zu sein und genau dadurch wieder empfänglich zu werden. Es fällt mir manchmal schwer, auf das kindliche Glucksen meiner Enkeltochter adäquat zu reagieren: nämlich glucksend! Aber nur so kann ich mit ihr und der Welt in Resonanz gehen. So robbe ich mich ins eigene Leben zurück und gewinne die Deutungshoheit über das eigene Leben zurück. Es ist letztlich der Versuch, in einer Welt wieder heimisch zu werden, die einem das Gefühl von Zugehörigkeit genommen hat und die auf dieselbe Weise nie wieder Heimat werden kann.
Bilanz ziehen
Mein 21-jähriger Sohn erzählte mir vor Kurzem voller Bewunderung von dem US-amerikanischen Influencer Bryan Johnson, der sich Longevity auf die Fahnen geschrieben hat, also die Aufgabe, niemals zu sterben. Dafür nutzt er mit sichtbarem Erfolg Körperscans, Tests, Nahrungsergänzungsmittel und einen Lebensstil, der seinen Alterungsprozess verlangsamen oder gar umkehren soll.
Ich denke an meine Schwester, die seit letzter Woche zum Sterben im Hospiz liegt. Der Verlust eines geliebten Menschen ist Grund genug, den Tod ein Arschloch zu nennen. Und doch fehlt mir die Vorstellungskraft, wie kümmerlich ein Leben ohne Ende wäre. Dabei hängt es nicht von der Lebensdauer ab, denn ein kurzes Leben kann genauso gelungen sein wie ein langes Leben. Die Endlichkeit des Lebens zwingt uns, wichtige Projekte rechtzeitig zu Ende zu bringen. Ein endliches Leben ist auf den Tod als Ziel- und Endpunkt ausgerichtet. Viele Menschen treffen in Angesicht ihres bevorstehenden Todes Vorkehrungen. Sie setzen ein Testament auf, um für ihre Angehörigen zu sorgen und mit ihrem Leben abzuschließen. Die Biografie wird so zu einer Geschichte, die irgendwann zu Ende erzählt ist und ihren Abschluss findet. Ein Sterblicher kann am Ende seines Lebens Bilanz ziehen und aus seiner subjektiven Perspektive beurteilen, ob sein Leben gut oder schlecht war.
Nun kommt die Zeit, über Gott nachzudenken. Sind wir als Jugendliche aus der Kirche ausgetreten, stellen wir nun im Alter fest, dass wir das Leben nicht vom Ende her gedacht haben. Gott kann Trost geben. Auferstehung von den Toten, Wiedergeburt, Seelenwanderung – alles Strategien, um dem Ende seinen Schrecken zu nehmen.
Uns treibt die Frage um, ob wir selbst entscheiden können, wie das Ende aussehen soll, denn schließlich wollen wir nicht sabbernd in einem Alten- und Pflegeheim dahinsiechen und auf den Tod warten, oder? Das Ende wollen wir selbst in die Hand nehmen. Am besten noch den Soundtrack für die Trauerfeier auswählen. Obwohl es uns doch völlig egal sein kann, denn wir werden ja nicht dabei sein.
Epilog
Ich schrieb anfangs von dem Verkauf meines Elternhauses und wie ich mich dadurch heimatlos fühlte. Heute wohnt dort eine junge Familie mit zwei Kindern, für die das Haus ein Anfang ist. Ich habe sie letztens besucht und mich davon überzeugt, dass das Haus in guten Händen ist.
Anmerkungen
(1) Epikur: Briefe, Sprüche, Werkfragmente. Stuttgart, 1980: 45.
(2) Den Zusammenhang zwischen Verlust und Vertreibung, Verlust als soziales Phänomen, stellt der Soziologe Andreas Reckwitz in seinem neuen Buch her. Vgl. Andreas Reckwitz: Verlust. Ein Grundproblem der Moderne. Frankfurt a.M., 2024.
(3) Ina Schmidts Buch habe ich viele inspirierende Gedanken zum Thema zu verdanken. Vgl. Ina Schmidt: Über die Vergänglichkeit. Hamburg, 2019: hier S. 24.
(4) Hans Blumberg: Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt a.M., 1986.
(5) Vgl. Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt a.M., 1985.
(6) Gabriel García Márquez: Leben, um davon zu erzählen. Köln, 2002.
(7) Den Begriff der Resonanz, wie ich ihn hier verwende, hat der Soziologe Hartmut Rosa geprägt. Vgl. Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Frankfurt a.M., 2016.