Neue Typenlehre mit Rechtsdrall

Eine aktuelle Studie geht dem Phänomen der vermehrten Orientierung junger Männer an traditionellen, autoritären, rechten bis rechtsextremen Einstellungen nach und empfiehlt »professionelle junge Männerarbeit«.

drei junge Männer schauen über einen Zaun

Text: Thomas Gesterkamp
Foto: schifferklavier, photocase.de (Symbolbild)

 
Über die Lebenslagen von Männern zwischen 18 und 29 Jahren ist bislang relativ wenig bekannt. Wissenschaftliche Untersuchungen konzentrierten sich in der Vergangenheit vorwiegend auf die biografischen Phasen von Kindheit und Jugend – oder sie nahmen männliche Erwachsene unabhängig von ihrem Alter in den Blick. Carsten Wippermann vom DELTA-Institut für Sozial- und Ökologieforschung im bayerischen Penzberg versucht diese empirische Lücke zu schließen. Auftraggeber seiner gerade veröffentlichten Studie ist das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

Zur Rezension

Vom Hashtag zum globalen Massenprotest

Recherchen über sexualisierte Gewalt, Machtmissbrauch in der Arbeitswelt und die notwendige Wahrnehmung der Erfahrungen anderer, um selbst erlebten Missbrauch erkennen zu können.

Frau hält sich ihre Hände vor das Gesicht

Text: Thomas Gesterkamp, zum Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen
Foto: PCK-Photography, photocase.de

 
Was ist ein harmloser Flirt, was schon belästigend oder gar sexuell übergriffig? Wie kann ein Mann einer Frau signalisieren, dass sie ihm gefällt, ohne dass sein Verhalten gleich als »toxisch« angesehen wird? Die enorme Resonanz auf den Hashtag #MeToo hat viele Männer verunsichert, doch hinter dieser von Feministinnen ausgehenden Initiative steckt ein berechtigtes geschlechterpolitisches Anliegen. Denn viel zu lange wurden sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch bagatellisiert und verschwiegen. Juliane Löffler beschreibt in »Missbrauch, Macht und Gewalt«, was #MeToo in Deutschland verändert hat.

Zur Rezension

»Der Beitrag der LSBTIQ+Bewegung zur Kritik und Transformation von Männlichkeitsnormen wird immer noch unterbewertet.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Andreas Heilmann, Berlin

Mann riecht an einem Schaffell

Interview und Redaktion: Alexander Bentheim
Fotos: vortritt, photocase.de | privat

 
Andreas, was war oder ist dein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen-, Männer- und Väterthemen? Was dein politisch-thematischer Zugang?
Mein schwules Coming-out habe ich als biografischen Einschlag von individueller Freiheit und persönlicher Authentizität erlebt, inmitten eines vor- und nachlaufenden Prozesses der schmerzhaften Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Männlichkeitsnormen. Drängend war für mich in dieser Zeit eine Frage, die unmittelbar auf mein Selbstbild zielte: Bin ich als Schwuler kein Mann (mehr) oder ein Mann mit mehr Möglichkeiten? – Dieser biografische Moment führte mich politisch-thematisch über die Sozialwissenschaften zur kritischen Männlichkeitsforschung im Anschluss an Pierre Bourdieu und Raewyn Connell, die Männlichkeiten im Plural und im Kontext von gesellschaftlichen Machtverhältnissen reflektierten. Interessiert haben mich dabei immer auch die Mikroperspektiven auf Subjektivierung und alltägliche Lebenspraxen, irritiert und inspiriert von queeren, binaritätskritischen Perspektiven auf Geschlecht. Lust und Leben fanden damals eine neue Heimat im Hafen der Schwulenbewegung und ihrer assoziierten sozialen Infrastrukturen. Väterthemen wurden dann auch unmittelbar zu meinen Themen, als mein Lebensmensch und ich Co-Väter in einer Regenbogenfamilie wurden. Aus ihr sind zwei prächtige junge Menschen erwachsen.

Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen, Männern und Vätern?
Um es auf ein paar Stichworte zu bringen (aber da ist sicher noch mehr drin – the best is yet to come): Coming-out-Forschung und Heteronormativitätskritik, Regenbogenfamilien, neue Arbeitswelten und Geschlecht, Männlichkeit und Rechtsextremismus, Vereinbarkeit und Care, Krisen der Männlichkeit, Männlichkeit und Für/Sorge (Caring Masculinities), Männlichkeit und Nachhaltigkeit …

Wie hat sich dein Engagement für Jungen, Männer und Väter entwickelt, ggf. verändert?
Ich bin alt genug, um mich noch in der jüngeren, (west)deutschen Schwulenbewegung beheimatet zu fühlen, aus der ich einerseits wichtige Impulse erfahren habe und die mir andererseits immer ein bisschen fremd geblieben ist. Auch wenn ich eben von neuer »Heimat« gesprochen habe – es hat nie ganz »gematcht« zwischen uns. Aktiv engagiert habe ich mich in diesem Rahmen bspw. in der Coming-out-Begleitung und in der HIV-Präventionsarbeit. Während meines Studiums, das ich privilegierterweise vor den Bologna-Reformen absolvieren durfte, hatte ich noch die Zeit und Muße für hochschulpolitisches Engagement, zum Beispiel für ein autonom organisiertes Seminar der Queer Studies. Im Jahr nach meinem Studienabschluss sammelte ich Erfahrungen als Bildungsreferent für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt bei dem Berliner Bildungsprojekt »KomBi«, aus dem später die heutige Fachstelle Queerformat hervorgehen sollte. Inspirierend war die Mitarbeit im »Forum Männer in Theorie und Praxis der Geschlechterverhältnisse« bei der Heinrich-Böll-Stiftung. Über die Böll-Stiftung wurde ich auch für den Pilotausbildungsgang Gender-Training gewonnen und leistete Gleichstellungsarbeit zunächst im freiberuflichen Netzwerk Genderforum Berlin und dann auch als Gender-Mainstreaming-Berater im GenderKompetenzzentrum der Humboldt-Universität zu Berlin. Gemeinsam mit meinen Kolleg*innen im Genderforum Berlin befeuerten wir die junge Disziplin des Gender Trainings mit unserem breit diskutierten Debattenbeitrag »Gender-Manifest« (veröffentlicht erstmals 2006 im »Switchboard«, Heft 177). Es folgten Hochschullehre als wissenschaftlicher Mitarbeiter in den Studiengängen der Sozialwissenschaften, der Gender Studies und der Sozialpädagogik, stets eng angebunden an wissenschaftliche Forschung zu den oben genannten Themenschwerpunkten, sowie diverse wissenschaftliche Publikationen und kritische Interventionen, etwa meine empirisch angelegte Dissertation zur medialen Konstruktion homosexueller Männlichkeit in den Spitzen der Politik (es war die Ära von Wowereit, von Beust, Westerwelle und Beck) oder die zusammen mit Sylka Scholz an der Universität Jena initiierte Debatte um Caring Masculinities. In reiferem Alter ist es mir gelungen, mich von der Hochschule abzunabeln, und bin froh, nun völlig freiberuflich und inhaltlich ressourcenorientierter arbeiten zu können. Mit meiner eigenen Beratungspraxis in Berlin-Prenzlauer Berg biete ich Mediation, supervisorische und Coaching-Begleitung an für Gruppen und Teams im Bereich sozialer Arbeit und für Männer* zu Männlichkeitsthemen. Mein Angebot umfasst auch Körperarbeit und Achtsamkeitsübungen auf Yoga-Basis, sowie wissenschaftliche Beratung zu Geschlechter- und Männlichkeitsthemen (bspw. für die Männerarbeit und -seelsorge in der Katholischen und Evangelischen Kirche oder für das Bundesforum Männer).

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche/historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Spontan beantwortet, kommen mir drei Akte individuellen und nachhaltigen zivilen Widerstands in den Sinn – und sei es, dass sie als Erzählungen einem zivilgesellschaftlichen Aufbruch die geeigneten Ankerpunkte geboten haben: Stonewall 1969 (der Beitrag der Schwulen- bzw. LSBTIQ+Bewegung zur Kritik und Transformation von Männlichkeitsnormen wird meines Erachtens immer noch unterbewertet), etwa zeitgleich mit dem berühmten Wurf der Tomate auf dem SDS-Delegiertenkongress 1968 als Fanal der jüngeren (westdeutschen) Frauenbewegung und – 14 Jahre zuvor – die Weigerung von Rosa Parks, den Sitzplatz im Bus für einen Weißen freizugeben. Auch verneige ich mich vor der bewundernswerten Solidarität, mit der HIV-Positive und ihre Alliierten die in der AIDS-Krise der 1980er Jahre steckende Chance zur kollektiven Emanzipation ergriffen haben. Aktuell interessieren mich die vielfältigen, oft ganz unspektakulären Experimente zur Entwicklung einer selbstgenügsamen, suffizienten Lebensweise, die sich in den wenigen noch bestehenden gesellschaftlichen Nischen entfalten.

Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deinen privaten und/oder beruflichen Beziehungen?
Wie ich in Montréal mein Coming-out als innere Befreiung erleben durfte im Foucault‘schen Sinne, »dass diese Entscheidung das ganze Leben durchdringt« und daraus ein »Motor für eine Veränderung der ganzen Existenz« werden kann: wie meine Eltern und meine Freunde mich dennoch – oder gerade deswegen – als Person in meinem So-Sein annahmen und bestärkten; wie ich meinen lieben Lebensmenschen Paul kennengelernt habe und seitdem mit ihm ein gemeinsames Leben führe; wie wir als Teil einer Regenbogenfamilie Väter wurden und unsere Kinder in ihrer Entwicklung begleiten durften; wie wir für Patenkinder und Neffen/Nichten zu wichtigen Ansprechpartnern wurden und daraus nachhaltige Lebensbeziehungen entstanden; wie ich im Gespräch mit lieben Kolleg*innen und Freund*innen immer wieder auf Offenheit stoße und Inspiration gewinne; wie ich im Yoga und im modernen Tanz ein neues, selbstfürsorgliches Körpergefühl als Mann entdeckte; wie ich mich mit Bruder und Schwester über Männlichkeit und Mannsein frei und unbefangen, nicht ohne Kontroversen, austauschen kann.

 

 
 
 
 
 
:: Andreas Heilmann, Dr. phil, arbeitet in eigener Praxis für Coaching und Supervision in Berlin, www.praxis-heilmann.com.

»Das Eis der Traditionalisten begann zu schmelzen, wir konnten betroffenen Jungen Gesicht und Stimme geben.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Harry Friebel, Hamburg

junger Mann stützt den Kopf in die Hände

Interview und Redaktion: Alexander Bentheim
Fotos: cottonbro, pexels.com | privat

 
Über die Rezeption der Frauenforschung bin ich Mitte der 1980er Jahre zum Jungen- und Männerforscher geworden. Studierende regten mich im Sommersemester 1986 an, mit ihnen eine informelle Arbeitsgemeinschaft zum Thema »Geschlecht und Gesellschaft« an der Universität Hamburg zu generieren. Es war für mich ein Perspektivwechsel, von der empirisch-statistischen Erfassung der Geschlechtermerkmale hin zur Analyse individueller Biographien im Kontext des Strukturgebers Geschlecht.

Es folgten viele Lehrveranstaltungen an verschiedenen Hochschulen und Universitäten zum Themenbereich. Sehr interessierte mich der sozial-strukturelle Herstellungsprozess von dominanter Männlichkeit und unterworfener Weiblichkeit in der patriarchal organisierten Gesellschaft. Dieser Herstellungsprozess war – als ich ihn begriff – Stein des Anstoßes verstärkter Zuwendungen zum männlichen Lebenszusammenhang als Risiko (wurde und wird verschiedentlich mit dem Begriff »toxisch« bezeichnet). Zwei Bücher schrieb ich dazu in dieser anregungsreichen Lebens-, Forschens- und Unterrichtsphase: 1991 »Die Gewalt, die Männer macht« (Rowohlt) und 1995 »Der Mann, der Bettler« (Leske und Budrich). In den Klappentext des Buches von 1991 notierte ich: »Ich habe dieses Lese- und Handbuch zur Geschlechterfrage geschrieben, weil ich das Geschlechterverhältnis zwischen Mann und Frau permanent sehe, weil ich mich an dieser Normalität stoße, weil ich viel von gleichen Lebenschancen für Frau und Mann halte, weil ich mir Geschlechteremanzipation – als Befreiung von Mann und Frau aus diesem Gewaltverhältnis – vorstellen kann …«. Und angemerkt hatte ich in der Einleitung zum Buch von 1995: »Erziehung zur Männlichkeit soll hier einmal von ihrem Risiko her – nicht von ihren chancenreichen Möglichkeiten – gesehen werden … Männlichkeit hat in der Moderne nicht nur durch die feministische Kritik einen Prestigeverlust erfahren, sie hat sich in ihrer Sachzwangerstarrung und Verdinglichung zum Risiko Nr. 1 in der modernen Menschheitsgeschichte gemacht«. In beiden Büchern habe ich mich bemüht, die »Gewalt« (1991) der »gefallenen« (1995) Männer vorzustellen. Weil diese Kritik auch nicht folgenlos für mich war, habe ich mich ganz alltäglich einer Männergruppe – als Resonanzgruppe – angeschlossen. Ein drittes Buch in diesem Kontext mit Erwartungen an das Konstrukt des »neuen« Mannes wollte ich immer noch schreiben. Aber meine doch wachsende Skepsis über die Realitäten des »neuen« Mannes hinderte mich.

Anfang der Nuller Jahre dieses Jahrhunderts kam es dann für mich anders und noch aufregender: Ich nahm an einem Workshop der Initiativgruppe »Forum Männer in Theorie und Praxis der Geschlechterverhältnisse« in Berlin teil. Wow, das war eine engagierte Männergruppe, dieses Forum; wow, der Arbeits- und Lernzusammenhang in diesem Forum war elektrisierend und erleuchtend; wow, ich blieb für mehr als 10 Jahre Akteur in diesem sozial-räumlichen »Nest« der Selbstreflexion und Gesellschaftskritik. Ich lernte viel; gemeinsam gestalteten und veranstalteten wir Workshops über aktuelle Männer- und Männlichkeits-Themen.

Dabei berührte mich das Jungenthema zunehmend. Mehr zufällig hatte ich in einschlägigen Fachzeitschriften gelesen, dass Jungs – in vermeintlich typischer Weise – als aggressive Täter unverändert häufig in allerlei Gewaltexzesse involviert seien; dass Mädchen – in ebenso vermeintlich typischer Weise – hingegen unverändert häufig bestehende Aggressionen gegen sich selbst richteten. Ich hielt diese »Beton«-These geschlechtsspezifischer Reproduktion für eine missbräuchliche Anleihe an traditionalistischen Zirkeln. Daraus resultierten für mich allerlei Fragen. Parallel zum und inmitten der Gruppe des »Forum Männer« suchte ich nach Relevanzkriterien der Jungensozialisation und ihres selbstverletzenden Verhaltens. Ich fragte nach Sinn, nach Kontexten, nach biographischen Risikolagen der Männlichkeitssozialisation. Ich demontierte dabei in Zusammenarbeit mit Lehrer*innen, Psychotherapeuten*innen, Mediziner*innen und Psychiater*innen die Suggestionskraft traditioneller Geschlechterbilder: hier die junge Frau, zart und verletzlich, dort der junge Mann, kraftvoll und verletzend. Der – wirklichkeitswidrige – herrschende Diskurs zum geschlechtsspezifischen Selbstverletzen reproduzierte, wie in Stein gemeißelt, die Botschaft, dass Mädchen etwa zehnmal häufiger davon betroffen seien als Jungen. Der alarmierende Befund war jedoch: Immer mehr Jungs und junge Männer verletzen sich selbst. Ich schrieb ab Ende der Nuller Jahre mehr und mehr gegen den traditionalistischen Zeitgeist in relevanten Fachzeitschriften und Jugendberatungsstellen an. Dabei kam ich auf meine Erkenntnis der 1980er und 1990er Jahre über die »Gewalt« der »gefallenen« Männer zurück. In der traditionellen Lesart der Geschlechtersozialisation durfte oder sollte der Junge ja aggressiver Täter sein, keinesfalls aber autoaggressives Opfer seiner selbst. Nur: Jungs erfahren – wie Mädchen – Leid und Verletzung, und sie spüren zugleich die Erwartung, dass sie »coole« Jungs sein müssen, um »harte« Männer zu werden. Diese Erwartung ängstigt viele und sie bräuchten sozial entgegenkommende Bewältigungskonzepte – jenseits einer individualisierenden Selbstverletzung. Die Jugendarbeit müsste also sensibilisiert werden für das selbstverletzende Verhalten auch von Jungs! Dafür wäre mehr interdisziplinäre Forschung notwendig.

Als dann erstmals 2016 ein führender Jugendpsychiater im Kontext zu empirischen Befunden bei Jugendlichen mit einer Borderline-Störung schrieb: »… vergleicht man Mädchen und Jungen mit einer ähnlichen Belastung durch depressive Symptome, dann gibt es keinen Geschlechterunterschied«, da wackelte die Front der Traditionalisten kräftig; dieser Text stand in einer medizinisch-klinischen Leitlinie für Ärzte. Im Juli 2020 schrieb ich dann im aerzteblatt.de, »dass eine ins Absurde gesteigerte traditionelle Überlegenheitsmeinung der Jungen von sich selbst zwangsläufig durch die vorgefundene gesellschaftliche Wirklichkeit enttäuscht wird. Dies kann eine gravierende Irritation in Bezug auf Männlichkeit auslösen und damit eine (Selbst)Verletzungsoffenheit generieren. Eine mögliche Reaktion der Jungen auf diesen Verlust von (Männlichkeits)Gewissheiten ist das Selbstverletzende Verhalten – als letzte Kontrolle über den eigenen Körper«. Das Eis der Traditionalisten begann zu schmelzen, wir konnten den betroffenen Jungen Gesicht und Stimme geben. In vielen aktuellen Arbeiten zur Selbstverletzungsproblematik ist nur noch von einer statistischen Relation von 2:1 (Mädchen / Jungen) zu lesen.
Jungs versagen sich häufig »weiblich« etikettierte Symptome und Verhaltensweisen wie Niedergeschlagenheit, Kummer und Traurigkeit. Die Jungen »maskieren« dabei ihre Depressionen durch Risikoverhalten und Selbstverletzung; und die medizinischen wie therapeutischen Professionen sind primär geschult für »typisch weibliche« Depressionssignale. Es ist daher überhaupt nicht abwegig, anzunehmen, dass im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess ein zunehmend enger werdender Zusammenhang zwischen der Männlichkeitssozialisation einerseits und »sozialer Desorganisation« bzw. »Identitätsdiffusion« andererseits besteht. Die soziokulturelle Integration des Jungen in der Moderne scheint immer fragiler zu werden, wenn nicht …. und hier überlasse ich die Satzvollendung den Leser*innen.

Mittlerweile bin ich in einem anderen für mich wichtigen Arbeitsfeld angekommen. Einerseits wollte ich schon seit einigen Jahren ein Buch über meinen verstorbenen väterlichen Freund Franz von Hammerstein schreiben (er hatte sein ganzes Leben nach 1945 für NS-Erinnerungsarbeit und Versöhnung gearbeitet, und er hat mich als Arbeiterkind mit Hauptschulabschluss in den schulischen und hochschulischen Bildungsprozess gleichsam transformiert). Andererseits signalisierte mir seine Familie, dass es schon genug Schriften über ihn gäbe – sie also mein Buchprojekt nicht wollten. Das akzeptierte ich und führte mich zu dem Entschluss, ihn auch damit würdigen zu wollen, wenn ich verstärkt selbst in der NS-Erinnerungskultur arbeite. Das habe ich dann in meiner typisch selbstaktivierenden Art strategisch vollzogen: erst zum Thema viel zu lesen, dann viel zu diskutieren und danach viel zu schreiben. Jetzt gestalte ich mit Kollegen*innen in Hamburg, Bielefeld, Berlin und Oldenburg einen Forschungsverbund zu rassistischen und eugenischen Krankenmorden in der NS-Diktatur. Das wird meinem Franz im Himmel auf Wolke 7 sicher freuen und viele Verbrechen der Nationalsozialisten entdecken helfen. Wir folgen mit unserer Forschungsarbeit der Überzeugung: Das Vergessen der NS-Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst. Wir arbeiten gegen das Vergessen. Auch für diese antifaschistische Arbeit sind meine männlichkeitstheoretischen Einsichten von großem Belang.

 

 
 
 
 
 
:: Harry Friebel, Jg. 1943, Dr. phil., Professor an der Hochschule für Wirtschaft und Politik 1995-2005 und Professor für Soziologie an der Universität Hamburg 2006-2009. Forschungsschwerpunkte: Bildungs- und Sozialisationstheorie, Weiterbildung, Biographieforschung, Geschlechterverhältnisse, Gender- und Männerforschung und empirische Methoden. Kontakt: friebelh-projekte@mailbox.org

»… weil männliche Verletzbarkeit immer noch nicht als gleichwertig anerkannt wird.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Hans-Joachim Lenz, Ebringen bei Freiburg/Breisgau

Ein Junge läuft durch eine Park

Interview und Redaktion: Alexander Bentheim
Fotos: nektarstock, photocase.de | privat

 
Hans-Joachim, was war dein persönlicher, biografischer Zugang zu Jungen-, Männer- und Väterthemen?
Bereits früh in meinem Leben wurde »das Männliche« zum vorbewussten Thema, das meinem Leben zugrunde lag und das sowohl eine Sehnsucht danach und eine Angst davor weckte. Zweieinhalb Jahre nach Ende des Krieges wurde ich in die Nachkriegszeit »geworfen«. Damals war eine nicht-verheiratete Frau (ein »Fräulein«), die ein Kind gebar, dem üblichen moralinsauren »Ehr-Makel« ausgesetzt, der insbesondere von kirchlichen Kreisen vehement verfolgt und gepflegt wurde. Mithin galt ich als »illegitim geborenes Kind«. Erst sehr viel später wurde mir bewusst, dass sich aus dieser Konstellation des »Unnormalen« heraus Scham und Unsicherheit im Kontakt mit Menschen auf mich übertragen und mich in meinem Umgang mit anderen Menschen beeinträchtigt haben.
Von Lebensbeginn an musste ich meinen Vater entbehren, da er sich nie für mich entschieden hat und sich nicht um mich kümmerte. Er behandelte mich »wie Luft«. Nur unter starkem Druck kam er unregelmäßig seinen monatlichen Zahlungsverpflichtungen nach. Die Hoffnung meiner Mutter, dass er sie doch noch heiraten würde, löste sich bald auf, als bekannt wurde, dass er parallel zu ihr eine andere Frau geschwängert hatte und diese dann heiratete. Trotzdem gab es zwei Großväter, da meine Großmutter ein zweites Mal geheiratet hatte. Beide waren mir wohlgesonnen, freuten sich, mich zu sehen und beeindruckten mich, jeder auf seine Art. Dies waren meine ersten nachhaltigen Erfahrungen mit Männern.
Der »kleine« Großvater (etwa 165 cm groß) wurde als 19-Jähriger zum Kriegsdienst in den Ersten Weltkrieg eingezogen und bereits kurze Zeit später in der Schlacht von Ypern schwer verwundet. Die Folge war ein versteifter linker Arm. Als kleiner Junge erlebte ich ihn in den Ferien mir zugewandt und gutmütig, aber – selbst bei Nachfragen – nie über die Verwundung redend. Mit zunehmendem Alter brach das Kriegszittern bei ihm aus, ein Anzeichen des damals millionenfach auftretenden Kriegstraumas. Der Großvater verlor nach und nach die Kontrolle über seinen Körper und konnte sich nicht mehr alleine bewegen. Parallel dazu ging seine geistige Orientierung verloren. In den letzten Lebensjahren war er auf ständige Hilfe angewiesen. Nachts jammerte er vor Schmerzen und schrie immer wieder nach seiner Mutter. Das jahrelang sich hinziehende, leidvolle Sterben eines einfühlsamen Mannes, der, fast noch ein Kind, im Krieg »verheizt« worden war, hatte auf mich eine tiefgreifende Wirkung. Außer dem Bedauern über den Verlust eines mir wohlgesonnenen Menschen fokussierte sich in seinem Tod sehr stark die Ausweglosigkeit seiner Situation, in der Jugendzeit zum Militärdienst gezwungen worden zu sein und durch seine Verwundung dann »doppelt« bezahlen zu müssen.
Der »zweite« Großvater war das »Gegenprogramm« zu seinem Vorgänger. Meine Großmutter hatte mit 22 Jahren ihren – kriegsversehrten – Mann nach fünf Ehejahren zugunsten von dieser neuen und beeindruckenden Erscheinung verlassen. Sie hatte ihn geheiratet und mit ihm eine (neue) Familie gegründet. Er war ein ca. 1,90 Meter großer, ehemaliger Angehöriger der Kaiserlichen Garde, dessen Bataillon um 1900 unter großer Eile nach Tsingtau/China geschickt worden war. Die Aufgabe dort bestand in der Niederschlagung des Boxeraufstands. In meinen jungen Jahren erlebte ich diesen Großvater immer prahlend, mit seiner ehemaligen Zugehörigkeit zur kaiserlichen Garde, mit seinem Wissen, seinen Fähigkeiten und seiner Kraft. Mit lauter Kasernenhofstimme trat er selbst im privatesten Kreis beim Kaffeetrinken übertrieben selbstbewusst (heute wurde man sagen: machohaft) auf. Obwohl er mich mochte, war er für mich kein Vorbild – im Gegenteil, seine Art stieß mich ab. Der »kleine Opa« in seinem Leid war mir näher.
Trotz vieler Widrigkeiten und finanzieller Engpässe ermöglichte mir meine Mutter eine Schulausbildung und ein Studium, wozu sie selbst nicht die Gelegenheit bekommen hatte. Sie war in dieser Hinsicht Ermöglicherin für mich, aber auch eine übergriffige Verhinderin meines Selbstständig-Werdens. In den ersten zwei Lebensjahrzehnten war ich ihren vielfältigen, subtil-intimen und offenen Gewaltübergriffen und Grenzverletzungen ausgesetzt. Auf dem Hintergrund ihrer Lebensgeschichte (Jahrgang 1921) hatte sie – als ehemaliges BDM-Mitglied – sehr autoritäre Erziehungsvorstellungen (»Solange Du Deine Füße unter meinen Tisch hast …«), die sie von Fall zu Fall durch Prügel mit dem Kochlöffel durchsetzte. Eine andere Seite zeigte sie regelmäßig nach dem leckeren sonntäglichen Mittagessen im sich anschließenden Mittagsschlaf, wenn sie eng mit mir kuschelnd auf dem Sofa lag. Ihre körperliche Nähe stürzte mich bereits mit der Vorpubertät beginnend in Gefühlsambivalenzen, zwischen Peinlichkeit und Attraktion. Meine Abwehr ignorierte sie. Schließlich sollte ich ihr phantasierter Ersatzmann sein, den sie nicht nur zur Begleitung beim Kauf ihrer BHs (Marke »Triumpf«, in großer Sondergröße) über Jahre hinweg missbrauchte. Ihre Übergriffe hielten bis zum Abitur an. Dann zog ich von zu Hause aus, dem Wehrdienst sei Dank. Zuvor fühlte ich mich ohnmächtig, hilflos und ihr völlig ausgeliefert. Ich lebte angepasst und verstummte, da mein Empfinden zwischen überaus beschämendem Abgestoßen-Sein und Sich-Angezogen-Fühlen schwankte. Die von mir absolut empfundene Peinlichkeit der Situation verhinderte, dass darüber weder mit ihr noch mit anderen Menschen geredet werden konnte. Ich konnte nicht anders damit umgehen, als zu versuchen, sozialen Situationen aus dem Weg zu gehen, indem ich mich versteckte, weil ich in meinem Sosein nicht gesehen werden wollte, weil ich einfach nicht dazu in der Lage war. Dies reichte lange bis in spätere intime Beziehungen, vor denen ich flüchtete. Nur wenn es nicht anders ging, »trat ich in Erscheinung« und funktionierte eben insbesondere in beruflichen Kontexten.
Das so angehäufte Megathema war die Befreiung aus der Unselbständigkeit, mich zu lösen aus dem Mich-benutzen-Lassen, dem Ausgeliefertsein, der Ohnmacht, dem Mich-Unterordnen … Auf diesen verschlungenen Wegen begegnete ich immer wieder Menschen beiderlei Geschlechts, jedoch deutlich mehr Frauen, die mich dabei freimütig unterstützten, meinen eigenen Weg zu finden. Sie waren durch das Hinterfragen gesellschaftlich-politischer Verhältnisse in eine Lage versetzt, die teilweise zu Um- und Aufbrüchen auch im privaten Raum führten (Emanzipationsbewegung). Völlig fehlte damals – Ende der 1970er Jahre – jedoch eine Idee von Männeremanzipation. In Gesprächen mit »bewegten« Frauen bemerkte ich, dass deren Notwendigkeit von diesen eher nachvollzogen werden konnte als von Männern.
Im späteren Leben war ich zudem mit einer anderen übergriffigen und gewalttätigen Seite konfrontiert: durch zwei Pfarrer, die mich in meinen 40er- bis 50er Jahren mittels sexualisierter Gewaltübergriffe überrumpelten. Die Degradierung zum Objekt der Begierde vor dem Hintergrund einer fehlenden Beziehung und fehlender Empathie bedeutet (heute) für mich Gewalt. Damals war ich nicht einmal in der Lage, für das Widerfahrene Worte zu finden, geschweige denn mich anderen Menschen mitzuteilen.

Was ist dein politisch-thematischer Zugang?
Die 1968er Jahre waren die Zeit des Aufbruchs. Die durch (studentische) Minderheiten verbreitete neue Haltung war das Infragestellen des scheinbar »Selbstverständlichen« und »Normalen«: Es ging um »Kritik an den herrschenden Verhältnissen und deren Umwälzung, in denen der Mensch ein geknechtetes Wesen« ist. So titelte eines der frühen Paperback-Bücher dieser Zeit, »Kommune 2. Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums«. Der Umbruch gesellschaftlicher Verhältnisse sollte nicht ohne Veränderung der Subjektivität, also der inneren Normen, der Denkweisen, der Haltung aller Menschen vonstattengehen.
Eine Veröffentlichung von Dieter Duhm, »Angst im Kapitalismus«, der (neben einigen Anderen) eine Subjektivitätsdebatte (als ergänzenden Gegenpol zur Veränderung der »objektiven polit-ökonomischen Verhältnisse«) in Gang gesetzt hatte, beinhaltete den Ausspruch: »Revolution ohne Emanzipation ist Konterrevolution«. Ich war fasziniert davon. Folglich rückten Sexualität und ihre Unterdrückung in meinen Fokus und persönlich konnte ich daran anknüpfen.
Eine Zeitlang arbeitete ich in einem der ersten Nürnberger Kinderläden regelmäßig in der Kinderbetreuung mit, nahm an den kontroversen Elternabenden teil. »Antiautoritäre Erziehung«, »Sexualität der Kinder«, »Wieviel Grenzen braucht unser Kind?«, aber auch die »Sexualität der Eltern untereinander«, waren Dauerbrenner. Ich »berauschte« mich an der Vorstellung, über Kindererziehung die Gesellschaft verändern zu können. Daraus ergaben sich für mich erste Reflexionen über Sozialisation und Geschlecht: Was ist der Natur, was der Umwelt geschuldet? Was brauchen Mädchen und was Jungen? Was ist befreite Sexualität?
Erst Jahre später wurde ich gewahr, dass die Beschäftigung mit kindlicher Sexualität auch eine höchst problematische Seite hatte, und noch immer hat: Im Dunstkreis der Diskussion über kindliche Sexualität kamen massenhaft sexualisierte Grenzüberschreitungen von Erwachsenen an Kindern ans Licht, teilweise legitimiert und moralisch aufgeladen durch »die gute Sache der Befreiung« (Pädosex). Kentler war mir – damals bereits – als »führender Sexualwissenschaftler« bekannt, und ich erlebte bei verschiedenen Gelegenheiten, dass seine »Experimente« mit sozial auffälligen Jungen durchschienen. Allerdings verstand ich nicht, was da geschah. Ich wunderte mich nur und war abgestoßen. In der Folge wandte ich mich von diesem Kontext bald wieder ab.
Die vorherrschende, auf Männer als Repräsentanten der Gesellschaft reduzierte Sichtweise des Normalen aufzudecken und das völlig verdrehte Männerbild zu überwinden, wurde für mich zur persönlichen Herausforderung. Die beginnende Neue Frauenbewegung, die an der alten, im 19. Jahrhunderte entstandenen Frauenbewegung anknüpfte, wurde dafür sehr wichtig. Als eine globale soziale Bewegung, welche die Gleichheit und Anerkennung von Frauen fordert, fokussierte sie im Geschlechterverhältnis auf das Sichtbarwerden des Verdeckten und machte die Missstände öffentlich. U.a. waren dies neben der verborgenen Diskriminierung die verdeckte Gewalt gegen Frauen im öffentlichen Raum, zunehmend aber auch die Gewaltübergriffe, die meistens in der Privatheit verschwanden. Für die Entwicklung meines Engagements für Männer empfinde ich die Frauenbewegung auch heute noch als wichtiges Vorbild – zugleich führen deren Überbleibsel den Gleichstellungsdiskurs inzwischen in die Enge, weil männliche Verletzbarkeit immer noch nicht als gleichwertig anerkannt wird.
In diesem Zusammenhang der Faszination über die bewegten Frauen zog ich Ende der 1980er Jahre für zwei Jahre als einziger Mann in eine Lesben-WG ein. Deren späterer Auszug »aufs Land« machte die große Altbauwohnung dann für mehrjährige Erfahrungen in verschiedensten Wohnkonstellationen möglich.

Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen, Männern und Vätern? Und wie hat sich dein Engagement zu diesen entwickelt, ggf. verändert?
In den 1970er Jahren lag Emanzipation – diese Spur von »Befreiung jetzt – und zwar sofort!« – in der Luft, nicht nur für immer mehr werdende Frauen, sondern auch für einige wenige Männer. Mein wachsendes Bewusstwerden darüber, was Männlichkeit sein kann und wie ich mich diesbezüglich den Erfordernissen des Wandels im Kontext von Erwachsenenbildung stellen müsste, führte zur Idee, Männerbildung als Aufklärungsprojekt zu betrachten. So begann ich am Städtischen Bildungszentrum – der Nürnberger Volkshochschule – im Jahre 1976 einen Gesprächskreis zur »Emanzipation des Mannes« anzubieten. Inhaltlich wurde ein damals frisch erschienener Text von Peter Schneider aus dem neue erschienenen Kursbuch »Die Sache mit der Männlichkeit« gelesen und besprochen. Auftauchende Fragen waren u.a.: Wann ist ein Mann ein Mann? Wie wird man zum Mann? Was sind die Schwierigkeiten von Männern? Welche die Zwänge?
Die Idee von Männeremanzipation im Rahmen von Männerbildung (»Nicht mehr gelebt werden, sondern selbstbewusst als Mann leben«) war in die Welt gesetzt (der Ursprung liegt in den USA) und ist bis heute (m)ein verbindender Gedanke für alle Projekte zur Unterstützung des männlichen Wandels und der Gleichstellung der Geschlechter.
Über zwölf Jahre versuchte ich in den 1980er und 1990er Jahren, an der Nürnberger Volkshochschule mit Angeboten zur Männerbildung (Vortragsveranstaltungen, Selbsterfahrungsgruppen, thematische Gesprächskreise in Abend- und Wochenendkursen) zu experimentieren. Das breite Themenangebot von »Männergesundheit« über »Psychosexuelle Gewalt gegen Jungen« bis »Militarisierte Männlichkeit«, »Gewalt in der Männergesellschaft« und »Dialog der Geschlechter« kann nachträglich hier eingesehen werden.
Zwei absolute Renner fanden in der ersten Hälfte der 1990er Jahre statt. Der eine war ein Vortrag des Bremer Geschlechterforschers Gerhard Amendt über seine zuvor erschienene Studie »Wie Mütter ihre Söhne sehen«. Beim zweiten handelte es sich um den Vortrag des Düsseldorfer Psychoanalytikers Bernd Nitzschke über »Die Ohnmacht der Männer, die Allmacht der Mütter und die Übermacht des männlichen Prinzips«. Beide Veranstaltungen sprengten mit jeweils ca. 130 Zuhörenden die Kapazitäten des Veranstaltungsraums, sehr zum Leidwesen der Direktion der Volkshochschule.
Irgendwann wurde mir klar, dass in dieser Einrichtung die Möglichkeiten für solche anspruchsvollen Themen nur sehr beschränkte waren. Insbesondere auch, weil der männliche Direktor (ein von seiner Universität beurlaubter Professor für Erwachsenenbildung) der für die Männerangebote institutionell verantwortlichen Abteilungsleiterin für Frauenbildung (ca. 1.200 Unterrichtsstunden pro Semester) unterstellte, dass sie ihn mit einem »Männerprogramm« (ca. 85 Unterrichtsstunden pro Semester) provozieren wolle. Die Folge war seine umfassende Blockade. Aus der Not wurde die Idee eines Männertreffs außerhalb der VHS geboren. Sie führte zum inzwischen über dreißig Jahre bestehenden Projekt »Männerforum Nürnberg (mfn)«, einem selbstorganisierten, monatlichen Treffen von Männern in einem Stadtteilkulturzentrum (hin und wieder und je nach Thema sind auch Frauen eingeladen).
In den Selbsterfahrungsgruppen und Gesprächskreisen tauchte bereits in den 1980er Jahren das Thema der Männern widerfahrenden Gewalt auf. Als Gruppenleiter hatte ich aufgrund meiner Biografie mehr als eine Ahnung davon und konnte so die anwesenden Männer auf dem Weg der Vertiefung in das Thema mitnehmen. Meine eigene Geschichte war aber nie ein Thema, diese blieb gut verkapselt, in meinem alltäglichen Funktionieren verschlossen. Ende der 1980er Jahre begann ich, Gewaltbetroffene und psychosoziale Fachleute zu interviewen. Ein Fundus an Geschichten und Fallvignetten sollte aufgebaut werden, aus dem dann später der Text für eine der ersten deutschsprachigen Veröffentlichungen zur Gewalt gegen Jungen und Männer entstand. Anfang der 1990er Jahre war das Manuskript fertiggestellt. Wegen juristischer Auseinandersetzungen nach der Wiedervereinigung meines ehemaligen DDR-Verlags Morgenbuch mit dem westlichen Literaturgiganten Bertelsmann um die Rechte von Stefan Heym (Morgenbuch hatte die Ostrechte, Bertelsmann die Westrechte) lag mein Text über drei Jahre lang auf Halde. Schließlich erschien er 1996. Da mein Verlag als Verlierer aus dem kostenaufwändigen Verfahren hervorging, musste er (mit meinem noch nicht veröffentlichten Manuskript) Konkurs anmelden. Nach weiteren zeitaufwändigen Verhandlungen konnte das Buch dann doch erscheinen, ohne dass der Verlag jedoch an den Urheber ein Honorar bezahlen konnte bzw. wollte. Eine erneute Ohnmachtserfahrung aufgrund patriarchal-kapitalistischer Denk- und Handlungsweisen, die für mich strukturelle Gewalt bedeute(te)n. Diese Publikation war die erste einer ganzen Reihe weiterer Veröffentlichungen zum männlichen Opfersein, der Männern widerfahrenen Gewalt und der Missachtung der männlichen Verletzungsoffenheit (hier einzusehen), gefolgt von zahlreichen thematischen Lesungen, Vorträgen, Seminaren und Konferenzen (bei Interesse gibt es hier eine Übersicht).
Ein daraus folgender wichtiger Schritt war, dass aufgrund meiner Vorarbeiten 2002-2004 ein Projekt zur erstmaligen Erforschung der gegen Männer gerichteten Gewalt durch das BMFSFJ auf den Weg gebracht werden konnte: »Gewalt gegen Männer – Personale Gewaltwiderfahrnisse von Männern in Deutschland«. Diese Untersuchung war als Vorstudie (N = 266) für eine Hauptstudie (N = 10.000) angekündigt, »um einen belastbaren Vergleich mit den Ergebnissen der Frauengewaltstudie anstellen zu können“«, so die damalige Formulierung, die als politisch-rhetorisches Zugeständnis anscheinend unverbindlich gemeint war. Denn die analoge Hauptstudie bezüglich der Zielgruppe Männer in einer umfassenden Perspektive, die zudem die Gewaltübergriffe gegen Männer im öffentlichen Raum aufgreift, steht auch zwanzig Jahre später noch aus.

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche/historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Mehrere Ereignisse fallen mir ein, zwei möchte ich herausgreifen. Zum einen ist das die aktuelle Kriegsbegeisterung und Remilitarisierung Deutschlands, und diese beziehen sich auf den Zusammenhang von Krieg, Männlichkeit und Frieden: Während des Grundwehrdienstes (1969-1970, 18 Monate) begann ich mich mit Kriegsdienstverweigerung zu beschäftigen und führte darüber zahlreiche Gespräche mit einem erstaunlich liberal gesinnten Kompaniechef. Zum Abschluss des Wehrdienstes stellte ich den Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer – die erste selbstständige Entscheidung meines Lebens! Nach einer dreistündigen, demütigenden »Gewissensprüfung« erkannte mich der Prüfungsausschuss an. Das Bewahren des Friedens und der Friedfertigkeit war seither ein mich stark beschäftigendes Thema. Daher auch meine Teilnahme an Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg oder das Anfertigen mehrerer sozialwissenschaftlicher Seminararbeiten über »Die Geschichte des Vietnamkriegs und seine Ursachen«, »Der militärisch-industrielle Komplex im Kontext der US-amerikanischen Politik« oder »Soziale Verteidigung als Alternative zu Krieg und militärischen Versuchen der Konfliktlösung«. In den 1970er Jahren wurde diese Perspektive vor dem Hintergrund des Vietnamkrieges bereits theoretisch-historisch erforscht (z.B. Mahatma Gandhi, Martin Luther King). Der langsam sich entwickelnden »Friedensbewegung« fühlte ich mich zunehmend verbunden, etwa als Teilnehmer 1981 an der ersten großen Demonstration der westdeutschen Friedensbewegung im Bonner Hofgarten gegen die »Logik der Abschreckung« und den Ausbau der Atombewaffnung Europas. Weitere Stichworte wären Brandts Entspannungspolitik, Gorbatschows Perestroika und seine Idee eines gemeinsamen europäischen Hauses, der daraus sich ergebende freiwillige Rückzug der Sowjetunion aus Deutschland und die Ermöglichung der deutschen Wiedervereinigung, aber auch die – aus meiner Sicht leider fatale – NATO-Osterweiterung, die das russische Sicherheitsempfinden offenbar so existentiell tangiert, dass seit 2014, mehr noch seit 2022, kriegerische Maßnahmen („Spezialoperationen“) getroffen wurden. Der gegenwärtige Glauben, ohne Verhandlungen, mit Waffen, aus einem – mit einer langen bis nach dem Ersten Weltkrieg zurückreichenden Vorgeschichte und geopolitisch aufgestellten – Stellvertreterkonflikt als Sieger hervorgehen zu können, täuscht sich, insofern es in diesem Konflikt keine Gewinner, sondern nur Verlierer geben wird, mit Ausnahme der Rüstungsindustrie und der Öl- und Gasindustrie. Vom früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt stammt die Aussage: »Leute, die keinen Krieg erlebt haben, wohl aber selbst Krieg führen oder provozieren, wissen nicht, was sie Furchtbares anrichten.«
Zum anderen ist das die – zu einem großen Teil gegen Jungen und Männer gerichtete – sexualisierte Gewalt in beiden Kirchen. In diesem Feld üben zahlreiche überwiegend männliche Experten um den Mythos der Verletzungsgeschichte eines als besonders beschriebenen Mannes ihren Beruf aus. Zentral sind hierbei die institutionell gebotenen Ermöglichungsräume für Gewalt, Machtmissbrauch und Instrumentalisierung. Die seit etlichen Jahren punktuell sichtbar werdende, weltweite Missbrauchspandemie im Feld der christlichen Kirchen steht erst am Anfang ihrer Aufdeckung, in der erste (nicht belastbare) Zahlen deren grundlegende Relevanz belegen. Eine eigentliche Aufarbeitung wird noch lange auf sich warten lassen, da es hierbei insbesondere um die kritische Auseinandersetzung mit Gewaltübergriffen und Grenzverletzungen des reglementierten Christentums und den diese begünstigenden Hierarchien in ihren formellen und informellen Strukturen geht. Auf diesem Hintergrund ist es für zahlreiche gewaltbetroffene Männer jedoch irritierend, vielleicht sogar problematisch, dass kirchlich eingebundene Männerprojekte aus einem Feld kommen, das als toxisch kontaminiert empfunden wird. Da nicht alle Männer potentielle Vergewaltiger sind, nur weil sie Männer sind, so sind auch nicht alle Kirchenleute potentielle Kinderschänder, nur weil sie Kirchenleute sind. Trotzdem wünschte ich mir im Anschluss an die ritualisiert verbale Entschuldigungskultur katholischer und evangelischer Gemeinschaften eine ernsthafte und tiefgründige, hegemoniekritische und systemadressierte Auseinandersetzung, gerade auch nach den in den letzten Jahren so vielen bekannt gewordenen sexualisierten Übergriffen, Vertuschungsversuchen und damit erneuten Beschämungen. Gerne ohne, strategisch geschickt, die hegemoniale Oberhand im Feld weiterhin behalten zu wollen – und die Betroffenen und ihre sozialen Problemlagen erneut zu benutzen. Ansonsten unterliegt deren Wirken dem Schein, in einer dubiosen Zwielichtigkeit zu agieren. Projekte im »Interesse von Männern« sollten sich dem nicht aussetzen, um umfänglich glaubhaft werden und bleiben zu können.
Es ließen sich noch weitere für mich nachhaltige Ereignisse anführen, etwa das Beschneidungsgesetz aus dem Jahre 2012 mit der geschlechtsspezifischen Diskriminierung hinsichtlich der Schutzbedürfnisse männlicher Kinder oder die Machtverteilung zwischen den Geschlechtern mit der Frage, wie die subtile Diskriminierung von Männern funktioniert. Doch ich belasse es – für den Moment – bei den obigen Ausführungen.

 
 

 
 
 
 
 
 
:: Hans-Joachim Lenz, geb. 1947, lebt im Markgräflerland bei Freiburg, Sozialwissenschaftler, als Pionier und Vater des Themas »Gewalt gegen Männer« und »männliche Verletzbarkeit« ist er Autor zahlreicher Veröffentlichungen und als Dozent tätig.

»… von Männern nicht nur Veränderung fordern, sondern auch etwas für sie, besser mit ihnen tun.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Gunter Neubauer, Tübingen

Junge mit Schaufel am Strand

Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Redaktion: Alexander Bentheim
Fotos: Aridula, photocase.de | privat

 
Gunter, was war oder ist dein persönlicher, biografischer Zugang zur Jungen-, Männer- und Väterthematik? Und was dein politisch-thematischer Zugang?
In meiner Jugendzeit war ich in einem Jugendverband aktiv, bei den Pfadfindern. Es war die Zeit, in der »Der Tod des Märchenprinzen« kursierte, ein autobiographischer Roman von Svende Merian. Eines Tages teilten uns die Frauen in einem Gremium mit, dass sie sich beim nächsten Mal ohne uns treffen würden. Wir fanden das ziemlich seltsam und waren enttäuscht. Aus Trotz beschlossen wir, es ihnen gleich zu tun und uns auch mal nur unter Männern zu treffen. Irgendeiner hatte wohl auch schon was von Männergruppen gehört. Und siehe da: Wir kamen ganz gut ins Gespräch. Es war irgendwie anders als sonst, aber auch gut – so gut, dass wir das dann eine ganze Zeitlang beibehalten haben, mit Gesprächen, Wanderungen, Saunabesuchen usw. Dabei ging es um uns, um die Frauen, ums Mannsein und um vieles andere. Nicht so ganz sortiert, aber ein Anfang. Dem Miteinander hat es nicht geschadet, im Gegenteil.
Eine eigene Erfahrung waren auch meine Jahre als Erzieher in einer Kita, nämlich als erster männlicher Kollege dort überhaupt, mit über 20 Kolleginnen; die spezielle Geschlechterdynamik, die in so einer Konstellation entsteht, das Interesse der Jungen und Mädchen an mir »als Mann«, was man nicht ignorieren, aber auch nicht einfach bedienen will. Was ich damals für mich gelernt habe, versuche ich noch heute an Jüngere weiterzugeben.
Auf politischer Ebene haben mich zwei Zugänge mobilisiert. Einmal Diskussionen Ende der 1990er Jahre darüber, dass es eine Jungen- und Männerpolitik gar nicht braucht, ja streng genommen nicht einmal geben kann. Ich war da anderer Meinung, und zum Glück sind wir heute doch etwas weiter. Eine noch stärkere Wirkung hatte aber die Initiative für einen ersten deutschen Männergesundheitsbericht ab 2001, genauer gesagt die damals insgesamt ablehnende Haltung der Politik und die dabei vorgetragenen, aus unserer Sicht ziemlich fragwürdigen Argumente, noch nachzulesen auf den Seiten der DIEG. Das führte 2005 auch zur Gründung des Netzwerks Jungen- und Männergesundheit. Unsere Forderung von 2021 – nämlich: »Deutschland braucht eine Männergesundheitsstrategie!« – zeigt, dass es hier immer noch einiges zu tun gibt.

Was waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen, Männern und/oder Vätern?
Dass man von Männern nicht nur Veränderung fordern kann, sondern auch etwas für sie, besser mit ihnen tun muss. Dass man durchaus vorhandene Veränderungsbereitschaft und Veränderungswünsche von Männern entsprechend aufnimmt und unterstützt. Gelandet bin ich damit bei der Männergesundheitsförderung, da gilt ja das Gleiche: Nicht nur Problemdiskurse führen, sondern auch Ressourcen, auch manche Bedarfe anerkennen und mit den noch offenen Potenzialen arbeiten.

Wie hat sich dein Engagement für Jungen, Männer und/oder Väter entwickelt, ggf. verändert?
Meine erste Berufserfahrung war ja die als Erzieher in der Kita. Von dort aus lag die Beschäftigung mit Jungensozialisation und Jungenpädagogik nahe. Ich hatte vielleicht auch die Idee, dass man am besten früh anfängt, also bei den Jungen, wenn man was erreichen will. Heute sehe ich das entspannter – die machen eh ihr eigenes Ding. Wichtiger finde ich mittlerweile, dass die erwachsenen Männer erst mal ihre eigenen Aufgaben anpacken, dass sie bei sich selbst anfangen, sich besser verstehen lernen, sich mit sich selbst und untereinander auseinandersetzen. Ich habe heute auch mehr mit erwachsenen, mit älteren Männern zu tun und weniger mit den Jungen. Und das Körperliche ist mir wichtiger geworden, ich finde da einen guten Zugang für mich in der Eutonie.

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche/historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Ich erinnere mich, dass ich die Mondlandung mitansehen durfte. Irgendwie schien jetzt alles möglich. Auf der anderen Seite die Erfahrung als Babyboomer, dass es überall voll, dass da schon jemand anderes ist. Der Deutsche Herbst. Diskussionen um Atomkraft und Nachrüstung. Kriegsdienstverweigerung und Musterung, ein Platz in der großen Menschenkette 1983. Deprimierende Besuche in der DDR. Dann etwas zunächst eher Persönliches: Nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 1991 habe ich beim Standesamt mit einem Doppelnamen den Antrag gestellt, wieder nur mehr meinen Geburtsnamen verwenden zu dürfen. In diesem Zusammenhang habe ich dann angefangen, mich mit der Rechtsgeschichte der Gleichstellung zu beschäftigen – vom Frauenwahlrecht 1918 über Art 3 (2) Grundgesetz und die lange noch verfassungswidrigen Bestimmungen des BGB bis hin zur »Ehe für alle« und der »Dritten Option« im Personenstandsgesetz. Die Ergänzung von Art 3 (2) GG in 1994 – nämlich: »Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.« – und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz von 2006 hatten auch berufliche Folgen, z.B. in Projekten zum Gender Mainstreaming oder im Bereich Antidiskriminierung.

Wichtige persönliche Erfahrungen im Zusammenhang mit deinen privaten und beruflichen Beziehungen?
Der frühe Tod meines Vaters 1999. – Eine Schwitzhütte zum Abschluss unseres Projekts Jungenpädagogik 2000. – Der definitive Eintritt in die berufliche Selbständigkeit mit der Gründung von SOWIT 2003. – Die Fahrradtouren mit meinen Neffen. – Der Schreck über die Silberhochzeit: Was, schon so alt?! – Neue Aufgaben als Pateneltern. – Die Besuche unserer Großneffen. – Die Pflege von Mutter und Schwiegermutter.

Drei Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und/oder Beziehungen zu anderen ausmachen?
Klar, entschieden – ausdauernd, beständig – mal gründlich, mal flott.

Was ist für dich »Erfolg« in deiner Auseinandersetzung mit Jungen-, Männer- und Väterthemen? Hast du Beispiele?
Halbwegs gut durch‘s Leben kommen und dabei möglichst wenig Schaden anrichten – bei mir selbst, bei anderen, für die Nachwelt.

Was gibt dir persönlich Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen?
Zusammen mit anderen etwas bewegen, sich wirklich begegnen, feiern, sich ausruhen.

Was ist dir (mit) gelungen, worauf bist du (zusammen mit anderen) vielleicht auch stolz?
Gelungen: mich zu beheimaten. Stolz: nicht so mein Ding; mir reicht »zufrieden, wenn’s läuft«.

Mit welchen Institutionen und Personen warst du gerne beruflich oder privat verbunden oder bist es noch?
Das gibt eine ganz lange Liste – ich nehm‘ das lieber als Anstoß, das denen bei nächster Gelegenheit mal wieder selbst zu sagen …

Was hat die Männer/* ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast?
Das klingt ja wie eine Aufforderung zum Nachruf – zum Glück leben die allermeisten noch! Aber im Ernst: Die Männer sind bei genauerer Betrachtung so vielfältig wie das, was alles auf einer schönen Wiese lebt. Was sie vielleicht verbindet, ist die Auseinandersetzung mit sich selbst und der Wunsch, dass es irgendwie besser wird mit dem Mannsein, mit der Gesellschaft, mit der Welt.

Hast du eine Lebensphilosophie, ggf. ein Lebensmotto?
Eher nicht – meine 92-jährige Schwiegermutter hat uns kürzlich auf dem Sterbebett mitgegeben: »Kinder, bleibt flexibel!« Und als ich sie mal fragte: »Mutter, was hältst du eigentlich von feministischer Außenpolitik?«, war ihre Antwort: »Warum nicht?!«

Wo siehst du Brüche in deinen beruflichen oder freundschaftlichen Beziehungen? Wodurch wurden diese verursacht?
Ja, die gibt’s. Vielleicht auch, weil man denkt und dachte, wir sind doch alle die Guten, wir haben im Grunde das gleiche Interesse, ohne die übliche Konkurrenz. Enttäuscht bin ich vor allem, wenn dann plötzlich doch wieder der persönliche oder institutionelle Vorteil zählt. Oder wenn ich das Gefühl habe, dass man mich hängen lässt. Manches hat sich aber auch wieder eingerenkt, zu Kündigungen kam’s selten.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis vom Umgang mit Jungen-, Männer- und Väterthemen?
In uns selbst.

Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deiner Arbeit an?
Ganz allgemein gute Rückmeldungen und Anerkennung für das, was ich mache. Mein Engagement und meine Aktivitäten verlegen sich aber – durchaus altersentsprechend – zunehmend an meinen Wohnort und in den sozialen Nahraum. Dort geht’s dann oft weniger um die ganz großen Projektionen, sondern mehr um das Sichtbare, Spürbare, Konkrete. Große Freude macht mir auch der Umgang mit Tieren und die körperliche Arbeit im Naturschutz.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest? Und was möchtest du gegen Ende deines Lebens erreicht haben?
Mein Projekt wäre, mich gleich morgen auf‘s Rad zu setzen und in Etappen so lange zu fahren – am besten nicht alleine –, bis das Meer zu sehen ist. Dann schwimmen, noch eine gute Rückfahrt und ungefähr so weiter machen wie bisher. Aber letztlich möchte ich erreichen, dass ich nichts mehr erreichen muss.

Eine nicht gestellte Frage, die du aber dennoch gerne beantworten möchtest?
Lieber mal daneben liegen als immer nur vorsichtig? – Ja!

 
 

 
 
 
 
 
 
:: Gunter Neubauer, Jg. 1963, Tübingen-Hirschau. Diplompädagoge, Erzieher u.v.a.m., www.sowit.de.

Aggression als Ressource für Beziehungen

Seminarreihe über 4 Wochenenden ab 27. April 2024 (bis November) in Hamburg

Zwei Frauen, die sich von Angesicht zu Angesicht anschreien

Text: Alexander Bentheim (Redaktion)
Foto: nektarstock, photocase.de

 
»Konflikte wagen, Aggression entgiften, Klarheit gewinnen« – zu dieser Herausforderung laden Thomas Scheskat (Göttinger Institut für Männerbildung) und Heide Gerdts Frauen, Männer und diverse Menschen ein. Ob als Einzelne, als Paare oder zusammen mit Freund*innen geht es über diese vier Reisestationen:

:: Aggression – im erweiterten Sinn als Grundkraft und Ressource;
:: Sexualität als erotische Lebenskraft;
:: Abschied, Endlichkeit und Loslassen von idealen Beziehungserwartungen;
:: Lebenserfüllung im Alltag zwischen Wollen und Sollen.

Gearbeitet wird in einer festen Gruppe auf der Grundlage von Körperpsychotherapie, Tiefenpsychologie und weiteren Humanistischer Disziplinen. Details zur Reihe wie Ort, Anmeldung, Termine, Kosten etc. finden sich hier.

Es sind aktuell noch 3 Plätze frei.

»Auch Opfer, selbstverständlich!«

Das bundesweite Männerhilfetelefon berät betroffene Männer zu Bewältigungs- und Handlungsmöglichkeiten nach Gewalterfahrungen.

Ausschnitt Gesicht alter Mann

Text: Thomas Gesterkamp
Redaktion: Alexander Bentheim
Foto: Ruben Jacob, photocase.de (Symbolbild)

 
Gewalt gegen Männer ist ein besonders heikles Thema in der geschlechterpolitischen Debatte. Antifeministische Maskulinisten greifen das Thema auf und stilisieren sich gern zum Opfer. Sie verharmlosen die Tatsache, dass im häuslichen Umfeld überwiegend Frauen die Leidtragenden sind. Umgekehrt war es lange ein Tabuthema, dass manche Männer ebenso gewaltbetroffen sein können. Ein Pilotprojekt in Ostwestfalen bietet ihnen seit knapp vier Jahren Hilfe an.

Zum Beitrag

»Zuhören, in beide Richtungen, und nicht versuchen, andere Menschen zu bekehren.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Jeff Hearn, Örebro

Animation zweier Bäume mit Gesicht im Gedankenaustausch

Interview, übersetzt: Alexander Bentheim (Original in englisch)
Fotos: wildpixel, iStockphoto.com | privat

 
Ich bin Jeff Hearn, geboren 1947 in London. Ich habe in Charlton gelebt, in der Nähe des Fußballplatzes, auch in der Nähe des berühmten Greenwich-Meridians mit seiner Mittleren-Ortszeit-Linie. Vielleicht hat das mein Interesse an Geografie geweckt … und dann an Kolonialismus und Imperialismus.

Mein familiärer Hintergrund war respektabel, aufstrebend aus der Arbeiterklasse, aufbauend auf dem ausgeprägten Gefühl meiner beiden Eltern, Bildungschancen verpasst zu haben, auch wenn mein Vater bis zu seiner Pensionierung in einer leitenden Position landete.

Mein Interesse an Feminismus, Gender und dann an Männern und Männlichkeiten kommt aus vielen Richtungen. Ich sehe zum Beispiel deutliche familiäre Einflüsse von meiner Schwester, meiner Mutter, meinen Großmüttern und vor allem der Urgroßmutter; und ich könnte auch erwähnen, dass mein Interesse unbewusst entstand, als ich mit sieben Jahren plötzlich von all meinen besten Freundinnen in eine geschlechterhomogene Schule für Jungen versetzt wurde, wie es damals völlig normal war – die Bedeutung dessen wurde mir erst viele Jahre später klar. Dieses Erziehungsmuster blieb dann auch bis zur Einheitsschule an der Universität bestehen – und das war 1965, nicht etwa 1865. Dort waren »die Sechziger« in vollem Gange; ich machte meinen Abschluss im Mai 1968, erlebte die Studentenrebellion, soziale Bewegungen einschließlich neue Sexualpolitiken, den irischen Republikanismus, Frieden, Gemeinschaft, grüne Alternativen, generell neue Formen der Organisation und Bildung. In dieser Zeit studierte ich den afrikanischen Kontinent und besonders Südafrika mit seiner Apartheid; in vielerlei Hinsicht ging die Klassen- und Rassenpolitik der Geschlechterpolitik voraus.

Später fing ich an, die feministische Zeitschrift »Spare Rib« zu abonnieren, engagierte mich ab 1978 öffentlich in antisexistischen Männergruppen (was damals manchmal »Männerpolitik« genannt wurde) und in der feministischen Kinderbetreuungspolitik. Ich habe mich in verschiedenen CR-Gruppen, antisexistischem Aktivismus, Politik- und Praxisentwicklung sowie Forschung und Lehre engagiert. Mein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen, Männern und Vätern ist daher profeministisch, pro-queer und dekolonial. Seit 1978 engagiere ich mich öffentlich für Themen rund um Feminismus, Männer und Männlichkeit.

Meine akademischen Studien haben sich von der Geographie zur Stadtplanung, Soziologie, Organisationsforschung, Sozialpolitik und Frauen- und Geschlechterforschung verlagert, einschließlich Studien zur Patriarchatstheorie und kritischen Studien zu Männern und Männlichkeiten. Es dauerte auch einige Jahre, bis ich erkannte, dass die persönlichen und politischen Anliegen meinen akademischen und theoretischen Anliegen sehr nahe waren – die also seit den frühen 1980er Jahren im Mittelpunkt meiner politischen und akademischen Orientierung und Arbeit stehen – auch wenn sie sich tendenziell einer anderen Sprache bedienten. Im Laufe der Jahre hat sich mein Schwerpunkt etwas verlagert. Seit 1974 arbeite ich an Universitäten und habe viel geforscht, gelehrt und geschrieben zu kritischen Studien über Männer und Männlichkeit, aber auch zu Geschlecht, Sexualität, Gewalt, Alter, Arbeit, Pflege, Organisationen, Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT), Kulturwissenschaften, Sozialtheorie und transnationalen Themen.

Viele, wenn nicht alle meiner Arbeitsumgebungen, waren feministisch oder vom Feminismus beeinflusst. 1978 gründeten ein Freund von mir, Pete Bluckert, und ich eine Männergruppe, die (nach einigen Schwierigkeiten bei den ersten beiden Treffen) weitgehend antisexistisch war und auf Bewusstseinsbildung basierte. Im Dezember desselben Jahres wurde ich Teil einer neuen Kampagnengruppe für Kinder unter fünf Jahren und ihre Betreuerinnen, also hauptsächlich Mütter und Frauen. Diese Gruppe knüpfte an die Debatte über Hausarbeit und die feministische Politik der Betreuung an. In den späten 1970er und frühen 1980er Jahren interessierte ich mich somit vor allem für Kinderbetreuungspolitik, Reproduktion und die Kritik an der herrschenden Vaterschaft. Besonders beunruhigt war ich über das mangelnde Interesse und Engagement der meisten Männer an der Betreuung und Arbeit für Kinder – ich nannte das »Kinderarbeit«, ein Begriff, der sich nicht durchgesetzt hat.

Ab Mitte der 1980er Jahre begann ich, Masterstudiengänge zum Thema »Männer und Männlichkeit« zu unterrichten, und zwar sowohl für Studierende der Frauenstudien als auch für Studierende der Sozialen Arbeit und der Gemeinwesenarbeit. Ich interessierte mich auch viel mehr für die Gewaltproblematik, d.h. für die Arbeit gegen die Gewalt von Männern, und dies war in den 1990er Jahren ein Hauptanliegen in Forschung, Lehre und Aktivismus, vor allem mit langfristigen und gezielten Forschungen zu Männern, die Gewalt gegen Frauen und Kinder ausgeübt hatten. Wenn man sich einmal mit diesem Thema beschäftigt hat, bleibt es eines, und so ist es bis heute ein wichtiges Thema und Interesse für mich.

In den späten 1990er Jahren zog ich nach Finnland, was in vielerlei Hinsicht ein Neuanfang bedeutete, sowohl politisch als auch akademisch. Zum einen war ich an der Gründung der »White Ribbon Campaign« beteiligt und gründete dann, zunächst mit drei Freunden, »profeministimiehet« (profeministische Männer), die lange Zeit verschiedene Demonstrationen und Aktionen für den Feminismus und gegen die Gewalt von Männern durchführte. Zum anderen änderte sich meine Arbeitsgrundlage, und ich musste auch überdenken, was in einem neuen Länderkontext nützlich sein könnte. Dieser Wechsel führte direkt und indirekt zu zahlreichen internationalen Kooperationen in Nordeuropa, insbesondere durch EU-Projekte, aber auch darüber hinaus, insbesondere mit Südafrika.

Zwei treibende Kräfte sind für mich zum einen die Politik und die politische Konstruktion von Wissen und zum anderen die Notwendigkeit einer sehr gründlichen und kritischen wissenschaftlichen Arbeit. Ich sehe mittlerweile die dringende Notwendigkeit, Männer und Männlichkeiten zu benennen, aber auch gleichzeitig sie und uns zu dekonstruieren, um materiell-diskursiv und transnational gegen Kolonialismen, die Hegemonie der Männer und die aktuelle Geschlechterordnung zu arbeiten. Ich denke, es ist wichtig, auf das Spektrum der Feminismen – zum Beispiel radikale, dekoloniale, queere und viele andere – und die Überschneidungen zwischen ihnen einzugehen. Dies ist ein wichtiges Thema in der Buchreihe »Routledge Advances in Feminist Studies and Intersectionality«, die ich gemeinsam mit Nina Lykke herausgebe und in der inzwischen über 40 Bücher erschienen sind. Besonders geschätzt habe ich die internationalen und transnationalen Verbindungen im Bereich der Forschung, des Schreibens, des politischen Wandels und des Aktivismus in den Bereichen (Pro)Feminismus, Gender, Männer und Maskulinität. Eine wichtige Erfahrung, neben vielen anderen, war die Beteiligung am schwedischen Teil des europäischen Projekts »Transrights«.

Ich will gern noch auf einige der gestellten Fragen direkt antworten.

Was ist für dich das nachhaltigste soziale/geschichtliche Ereignis – auch im Zusammenhang mit deiner Arbeit?
Für mich persönlich gibt es da viele, aber ich möchte hervorheben, dass ich mich etwa Anfang 1989 mit der verstorbenen feministischen Wissenschaftlerin und Aktivistin Jalna Hanmer zusammengesetzt und vereinbart habe, gemeinsam gegen die Gewalt von Männern gegen Frauen und Kinder vorzugehen. Im weiteren Sinne, auch wenn weniger direkt persönlich, sind es Ereignisse wie etwa die Amtseinführung von Nelson Rolihlahla Mandela als Präsident der Republik Südafrika am 10. Mai 1994.

Drei Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und in deinen Beziehungen zu anderen auszeichnen?
Ich schlage mit großer Bescheidenheit 😊 nur zwei vor (warum immer die Freud‘schen drei!?): Leidenschaft und Ausdauer.

Was gibt dir persönlichen Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen?
Zuhören, in beide Richtungen. Und nicht versuchen, andere Menschen zu bekehren.

Mit welchen Institutionen und Personen warst du beruflich oder privat gerne verbunden oder bist es noch?
Ich war verbunden mit der »Bradford Under Fives Group« (BUG), der finnischen Organisation profeministischer Männer (»Profeministimiehet«), mit »Critical Research on Men in Europe« (CROME) und mit »Tema Genus« an der Universität Linköping. Ich bin weiterhin verbunden mit der »International Sociological Association RC32« und mit »NORMA: International Journal for Masculinity Studies«. Ich möchte auch die »Routledge«-Buchreihe und die »International Research Association of Institutions of Advanced Gender Studies« (RINGS) erwähnen, an deren Aufbau ich zusammen mit vielen anderen maßgeblich beteiligt war und die inzwischen über 70 Zentren als institutionelle Mitglieder hat.

Hast du eine Lebensphilosophie oder ein Motto?
Verlasse dich auf deine Intuition und tue, was du kannst … in deinem eigenen Kontext.

Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deiner Arbeit an?
Engagement und Ruhe.

Eine Frage, die nicht gestellt wurde, die du aber trotzdem gerne beantworten würdest?
Die Frage danach, was das Wichtigste für die Zukunft ist – nämlich: die Verbindung von kritischer profeministischer Arbeit über Männer und Männlichkeiten mit den großen Fragen des Planeten, der Ökologie, der Nahrung, des Wassers, der Energie, des Klimas. Und auch die Erinnerung daran, dass wir viele Dinge nicht wissen.

 

 
 
 
 
 
:: Jeff Hearn, Jg. 1947. Ursprünglich komme ich aus London und bin seit Ende der 1970er Jahre in den Bereichen Aktivismus, Politik und Forschung zu Männern und Männlichkeit tätig. Nachdem ich an den Universitäten Bradford, Manchester und Linköping gearbeitet habe, zuletzt als Professor für Gender Studies, bin ich jetzt Seniorprofessor für Humangeographie an der Universität Örebro in Schweden, Professor für Soziologie an der Universität Huddersfield im Vereinigten Königreich und Professor Emeritus an der Hanken School of Economics in Finnland. Im Laufe der Jahre habe ich mich mit Themen wie Alter, Geschlecht, Sexualität, Gewalt, Arbeit, IKT und transnationale Prozesse befasst. Zu meinen früheren Büchern gehören: »The Gender of Oppression« (Das Geschlecht der Unterdrückung), »Men in the Public Eye» (Männer in der Öffentlichkeit), »The Violences of Men« (Die Gewalt der Männer) und »Men of the World« (Männer der Welt). Zu den jüngsten Büchern gehören: »Men’s Stories for a Change: Ageing Men Remember«; »Age at Work« (zusammen mit Wendy Parkin); »Knowledge, Power and Young Sexualities« (zusammen mit Tamara Shefer); »Digital Gender-Sexual Violations« (zusammen mit Matthew Hall und Ruth Lewis); und kürzlich das »Routledge International Handbook on Men, Masculinities and Organizations« (zusammen mit Kadri Aavik, David Collinson und Anika Thym) sowie das »Routledge International Handbook of Feminisms and Gender Studies« (zusammen mit Anália Torres, Paula Pinto und Tamara Shefer). – Mehr zu meinen Arbeiten und Veröffentlichungen findet sich hier.

Oh no »Oh Boy«

Der Berliner Kanon Verlag zieht seine vielgelobte Anthologie »Oh Boy« zurück – auch hier, an diesem Ort, sehr positiv besprochen. Das will erklärt und zuvor beschrieben werden.

Mann mit Stift auf der Nase

Text: Frank Keil
Foto: obeyleesin, photocase.de (Symbolbild)

 
Potzblitz – wie konnte das passieren?! Da erscheint ein Buch zum Thema heutiger Männlichkeit*en und es wird in den Feuilletons dieser Republik sehr anerkennend besprochen und durchweg sehr gelobt; auch hier auf dieser Plattform. Und nun wird es nicht mehr ausgeliefert, der Verlag zieht es zurück. Alle begleitenden Lesungen sind zudem abgesagt. Die Aufregung nicht nur in den Sozialen Medien ist groß.

Es geht dabei ausdrücklich um einen einzelnen Text, nämlich um »Ein glücklicher Mensch« von Valentin Moritz, einem der beiden Herausgeber. Darin umschreibt er einen sexuellen Übergriff gegenüber einer Frau, den er begangen hat. Ziel des Textes sei es, so erfährt man es in dessen zweiten Teil, sich zu bekennen und das Bekennen zu beschreiben, um so zu reflektieren, um so zu lernen, damit es nicht wieder geschieht. Ihm, dem Autoren nicht und anderen Männern auch nicht. Das ist die quasi literaturpädagogische Aufgabe, die sich Moritz gestellt hat.

Nur gibt es da noch etwas Anderes. Die Frau nämlich, die diesen Übergriff erleben und erleiden musste. Und sie – eine reale Frau, natürlich – hat den Autoren zuvor klar aufgefordert, über das Geschehene nicht zu schreiben. Er solle – sozusagen – das Geschehene nicht noch einmal schreiberisch wiederholen; er solle es nicht verdoppeln, er, der schreibende Täter, sich nicht erneut inszenieren, auf dass sie als das beschriebene Opfer zurückbleibt.

Der Autor hat der Bitte dieser Frau, die anonym bleiben möchte und von der paradoxerweise im Fortlauf der Berichterstattung immer mehr bekannt wird, nicht entsprochen. Er hat den Text geschrieben. Und jetzt bewegen wir uns außerhalb des Textes: er hat die Zusammenhänge gegenüber seinem Verlag offengelegt, vor der Drucklegung, wie man so sagt. Er hat sie nicht verschwiegen. Nach Auskunft des Verlages lag zunächst folgende Option auf dem Tisch: Moritz zieht sich von dem Buchprojekt insgesamt zurück. Der Verlag entschied anders. Und der Autor folgte.
Nun gibt sich der Verlag reumütig, ein großer Fehler sei es gewesen, den Text zu veröffentlichen; sollte das Buch neu aufgelegt werden, wird es daher ohne den beanstandeten Text erscheinen. Ich wage mich mal kurz aus dem Fenster: nach dem Wirbel, der nicht nur in den Sozialen Medien zu verfolgen ist, ist eine Neuauflage in gedruckter Form eher unwahrscheinlich.

»Oh Boy« ist eine literarische Anthologie. Die an ihr beteiligten Autoren treten an, um sich dem Erkundungsfeld Männlichkeit*en mit literarischen Mitteln und Formen und zuweilen einer ganz eigenen Sprache zu nähern und es dann zu betreten, und sie folgen damit gerade nicht journalistischen und/oder wissenschaftlichen Standards (wo da genau die Trennlinie zur Literatur verläuft, darüber ließe sich gewiss umfassend streiten). Was berichtet wird, was Erzählstoff ist, hat sich also einerseits nicht so wie beschrieben ereignet – und andererseits eben doch oder anders oder nicht genauso oder nur so ähnlich und auch wieder nicht – und so weiter. Dabei kann man noch so viel verfremden und überschreiben: auch das Erfundene gibt es nur, weil sich zuvor etwas ereignet hat, das anschließend Erzähl-Material wird. Woher sollte dieses sonst kommen?

Ich habe den Text von Valentin Moritz gelesen, bevor ich das Buch besprach, selbstverständlich. Und ich habe diesen Text in meiner Besprechung salopp hintenüberfallen lassen, ich habe ihn einfach nicht weiter erwähnt. Nicht, weil ich schon etwas von dem Kommenden ahnte und so vorbeugen wollte, das wäre ja cool. Sondern: Ich mag diese Art von Selbstbezichtigungstexten grundsätzlich nicht. Sie berühren mich bald unangenehm. Es liegt immer ein Hauch von Eitelkeit in der Luft und zuweilen mehr als das: Ich bekenne mich schuldig und in dem ich mich schuldig bekenne und in dem ich mich selbst in aller Öffentlichkeit an den Pranger stelle, ist die Schuld schon halb abgetragen, wenn nicht weit mehr als das. Mit seiner Schuld – ich bin jetzt mal kurz böse – hausieren zu gehen und sie für sich öffentlich anzunehmen, um daraus ein Thema zu entwickeln, für ein Buch, für einen Film, für was auch immer, ist selbstverständlich ein legitimes Vorgehen. Es ist nur einfach nicht mein Fall. Andere entscheiden da anders. Als Leser*innen und eben als Autor*innen.

Wobei – das meine ich auch jetzt, wo das Buch nochmals aufgeschlagen neben mir liegt und ich in diesen Text noch einmal lesend geschaut habe – mir schien und scheint, als ob dem Autor von Anfang an selbst nicht ganz wohl war bei seinem Besserung-durch-Geständnis-Projekt. Zu unklar, zu verwirrend, vor allem zu abstrakt umschreibt der Text das Geschehene, ohne es in seinem Kern zu berühren, und das macht es einem alles andere als leicht, zu verstehen, um was es ihm eigentlich geht: Es ist schlichtweg unabhängig davon, ob es okay ist, einen solchen Text zu schreiben, er bleibt ein schwacher und zielloser und oftmals auch pathetischer Text, der mich erneut ratlos zurücklässt.

Und nun? Ich will mich um eine Antwort nicht drücken: ja, man darf als Täter (was immer jetzt Täter im Einzelfall ist; es ist auf jeden Fall ein Wort, vor dem wir sofort in die Knie gehen) in literarisierter Form über seine Tat schreiben. Die Frage ist: wie, also in welcher Form? Und die Frage ist: warum, was ist der Zweck? Und drumherum gibt es die Gesetze, denen man sich gegebenenfalls stellen muss, die dann entscheiden und die über jeglichen moralischen Forderungen stehen und werden diese noch so vielfältig über die Sozialen Medien gestellt (die Literaturgeschichte ist voll von Prozessen und Urteilen, ob ein Text oder Buch veröffentlicht werden darf). Und ebenso gilt: Nicht alles, was man darf, sollte man auch tun. Und oft ist man gut beraten, von sich aus zu verzichten.

Und zum anderen Grundsätzlichen. Wie umgehen mit Stoffen, in denen es nun mal angelegt ist, dass mitmenschliche und zwar heftigste Kollisionen ins Zentrum rücken und sich mehr oder weniger deutliche Erkennbare zu Wort melden und für ihr Recht auf Nichterwähnung plädieren: Romane über die Kindheit, Erzählungen über eine gescheiterte Ehe oder Liebe oder Affäre, um kurz das Naheliegendste zu nehmen? Die Literatur ist auch davon voll; sie existiert von ihr. Und so verlangen die Fragen nach den Bedürfnissen und Interessen von Beschriebenen nach literarischen Antworten, die immer wieder neu gestaltet und riskiert werden müssen.

Ein Beispiel, um das Feld kurz zu erkunden: In letzter Zeit ist dankenswerterweise ein Schwung von Romanen und Erzählungen jüngerer Autor*innen mit migrantischen Wurzeln und entsprechenden Lebensgeschichten erschienen. Die dort beschriebenen Väter und Mütter kommen nicht immer gut weg. Manchmal kommen sie gar nicht gut weg. Werden zuweilen sehr drastisch und konsequent und deutlich in ihrer Unfähigkeit beschrieben, ihren damaligen Kindern eine Orientierung zwischen den verschiedenen Lebenswelten zu bieten, in denen sie sich zurechtfinden mussten. Literarisch wird das erzählt, wird angeklagt, wird auch gewütet und geschimpft, literarisch wohlgemerkt. Aber eben auf Grundlage persönlicher Erlebnisse und Erfahrungen und auch Verletzungen, aus denen Textdateien wurden.
Ältere werden sich an die so genannte Väter-Literatur der 1980er-Jahre erinnern, was wurden da die Väter der Kriegsgeneration von ihren 1968er-Kindern literarisch verdroschen! In den letzten Jahren erst weitete man den Blick, und zwar auf die Traumatisierungen hin, die diese Väter selbst erlebt hatten, auf ihre womögliche Unmöglichkeit, die erlebte Gewalt in Erziehung und Krieg und Alltag einigermaßen zu verarbeiten, statt sie mehr oder weniger linear an ihre Kinder und besonders an ihre Söhne als eine Art Double weiterzugeben, die sich nun damit abmühen mussten und dabei zur Schreibmaschine fanden. Viel Zeit, auch Nachdenkenszeit musste vergehen, damit dieser zweite Blick, der Blick auf das Dahinter möglich wurde. Heute ist man auch literarisch schlauer – und empfindsamer und gnädiger und also weit weniger rigoros.

Ich schaue nochmal in den Text von Valentin Moritz, lese, blättere weiter, lese; zwei-, dreimal habe ich den Satz »Das ist doch eher ein Sturm im Wasserglas« hingetippt und besser wieder gelöscht. Kein Frauenname fällt, kein Ort wird beschrieben, in dem jener Übergriff geschah. Wir Lesende werden in keine Wohnung geführt, kein Bett steht in irgendeinem Raum mit Schreibtisch, Pflanzen und Bücherregal, noch sonst etwas. Was wir über den Übergriff erfahren, der doch der Grund für diesen Text ist, ist rein Gedankliches und dieses Gedankliche ist fast ausschließlich selbstreflexiv und tendenziell selbstgefällig: »Ich rede noch immer um den heißen Brei herum. Dabei glüht der ganze Text längst vor Schamesröte«.
Oh, nein, der Text glüht nicht vor Schamesröte. Der Autor mag beim Schreiben geglüht haben, das glaube ich gerne und sofort. Doch es hat ihn offensichtlich nicht herausgeführt aus einem inneren und kalten Durcheinander von Anspruch und Wirklichkeit, das eingefasst ist von einer Rahmenhandlung, wo junge Männer irgendwo am Strand von Usedom Frisbee spielen. Wenn man dem Text eine inhaltliche Unangemessenheit vorwerfen muss, dann wohl eher die, dass der Autor einen körperlichen Übergriff gegen eine Frau in ein selbstbezogenes Gedankenspiel während eines heiteren Sommermoments überführt, wo junge, unbedarft wirkende Männer einer Plastikascheibe hinterherrennen wie junge Hunde. Führt dieser Weg irgendwohin?

Vielleicht hätte Moritz es bei seinem Projekt der Enttarnung unangenehmer bis schä(n)dlicher Männlichkeit einfach eine Nummer kleiner angehen lassen sollen. Bescheidener, zurückhaltender und in der Themen-Beispiel-Wahl demütiger. Warum musste es – ich bin mal kurz zynisch – ausgerechnet eine der Königsdiziplinen der toxischen Männlichkeit sein: der sexualisierte Übergriff? Wie viel erhellender wäre es gewesen, für uns, für ihn, wenn er sich die Frage gestellt hätte: »Warum muss ich mich unbedingt so in mein Thema verbeißen?« Wenn er sich als Mann gefragt hätte: »Warum kann ich nicht sagen: Okay, dann geht das eben nicht; dann kann ich die Geschichte nicht so, wie von mir gewünscht, schreiben.« Die Welt ist voll von Männern, die nicht aufhören können: ob sie nun bis spät in die Nacht das Bad neu fliesen, ob sie noch am Geschäftsbericht sitzen, obwohl die Sonne aufgeht und ob sie die Strecke Berlin-Adria in einem Rutsch zu fahren sich vorgenommen haben und das dann auch tun.

Tja. Noch mal: Was fangen wir nun an mit dem Schlamassel? Da fällt mir – Kunstgriff – noch ein Buch ein, dass ich vor einigen Jahren hier auf den MännerWegen besprochen und empfohlen habe, 2017 war das, so lange ist das her? Egal. »Ich will dir in die Augen sehen« von Thordis Elva und Tom Stranger führt dem oben Beschriebenen gegenüber nun wirklich in das Zentrum eines Sturms, mit anfangs ungewissen Ausgang: Eine Frau trifft nach Jahren den Mann wieder, der sie einst vergewaltigt hat, und es folgt das Protokoll einer Wiederbegegnung, damit man am Ende für immer auseinander gehen kann. Ich schaue schnell mal nach: Oh, es ist noch erhältlich

PS: Und Valentin Moritz? In was hat er sich da nur reingeritten und warum hat ihn sein Verlag – offenbar – so wenig bis falsch beraten? Ich jedenfalls wünsche ihm an dieser Stelle hier von Herzen, dass er das alles gut übersteht: die berechtigte Kritik, wohl auch die Scham, die nicht ausbleiben dürfte; die Anwürfe, die Beschimpfungen auch, die es bestimmt gibt, und er heil dabei bleibt. Das fällt uns Männern nämlich gar nicht so leicht: einzugestehen, dass so etwas passieren kann und dann daraus zu lernen, im nun endlich eigenen Tempo.