»… weil männliche Verletzbarkeit immer noch nicht als gleichwertig anerkannt wird.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Hans-Joachim Lenz, Ebringen bei Freiburg/Breisgau

Ein Junge läuft durch eine Park

Interview und Redaktion: Alexander Bentheim
Fotos: nektarstock, photocase.de | privat

 
Hans-Joachim, was war dein persönlicher, biografischer Zugang zu Jungen-, Männer- und Väterthemen?
Bereits früh in meinem Leben wurde »das Männliche« zum vorbewussten Thema, das meinem Leben zugrunde lag und das sowohl eine Sehnsucht danach und eine Angst davor weckte. Zweieinhalb Jahre nach Ende des Krieges wurde ich in die Nachkriegszeit »geworfen«. Damals war eine nicht-verheiratete Frau (ein »Fräulein«), die ein Kind gebar, dem üblichen moralinsauren »Ehr-Makel« ausgesetzt, der insbesondere von kirchlichen Kreisen vehement verfolgt und gepflegt wurde. Mithin galt ich als »illegitim geborenes Kind«. Erst sehr viel später wurde mir bewusst, dass sich aus dieser Konstellation des »Unnormalen« heraus Scham und Unsicherheit im Kontakt mit Menschen auf mich übertragen und mich in meinem Umgang mit anderen Menschen beeinträchtigt haben.
Von Lebensbeginn an musste ich meinen Vater entbehren, da er sich nie für mich entschieden hat und sich nicht um mich kümmerte. Er behandelte mich »wie Luft«. Nur unter starkem Druck kam er unregelmäßig seinen monatlichen Zahlungsverpflichtungen nach. Die Hoffnung meiner Mutter, dass er sie doch noch heiraten würde, löste sich bald auf, als bekannt wurde, dass er parallel zu ihr eine andere Frau geschwängert hatte und diese dann heiratete. Trotzdem gab es zwei Großväter, da meine Großmutter ein zweites Mal geheiratet hatte. Beide waren mir wohlgesonnen, freuten sich, mich zu sehen und beeindruckten mich, jeder auf seine Art. Dies waren meine ersten nachhaltigen Erfahrungen mit Männern.
Der »kleine« Großvater (etwa 165 cm groß) wurde als 19-Jähriger zum Kriegsdienst in den Ersten Weltkrieg eingezogen und bereits kurze Zeit später in der Schlacht von Ypern schwer verwundet. Die Folge war ein versteifter linker Arm. Als kleiner Junge erlebte ich ihn in den Ferien mir zugewandt und gutmütig, aber – selbst bei Nachfragen – nie über die Verwundung redend. Mit zunehmendem Alter brach das Kriegszittern bei ihm aus, ein Anzeichen des damals millionenfach auftretenden Kriegstraumas. Der Großvater verlor nach und nach die Kontrolle über seinen Körper und konnte sich nicht mehr alleine bewegen. Parallel dazu ging seine geistige Orientierung verloren. In den letzten Lebensjahren war er auf ständige Hilfe angewiesen. Nachts jammerte er vor Schmerzen und schrie immer wieder nach seiner Mutter. Das jahrelang sich hinziehende, leidvolle Sterben eines einfühlsamen Mannes, der, fast noch ein Kind, im Krieg »verheizt« worden war, hatte auf mich eine tiefgreifende Wirkung. Außer dem Bedauern über den Verlust eines mir wohlgesonnenen Menschen fokussierte sich in seinem Tod sehr stark die Ausweglosigkeit seiner Situation, in der Jugendzeit zum Militärdienst gezwungen worden zu sein und durch seine Verwundung dann »doppelt« bezahlen zu müssen.
Der »zweite« Großvater war das »Gegenprogramm« zu seinem Vorgänger. Meine Großmutter hatte mit 22 Jahren ihren – kriegsversehrten – Mann nach fünf Ehejahren zugunsten von dieser neuen und beeindruckenden Erscheinung verlassen. Sie hatte ihn geheiratet und mit ihm eine (neue) Familie gegründet. Er war ein ca. 1,90 Meter großer, ehemaliger Angehöriger der Kaiserlichen Garde, dessen Bataillon um 1900 unter großer Eile nach Tsingtau/China geschickt worden war. Die Aufgabe dort bestand in der Niederschlagung des Boxeraufstands. In meinen jungen Jahren erlebte ich diesen Großvater immer prahlend, mit seiner ehemaligen Zugehörigkeit zur kaiserlichen Garde, mit seinem Wissen, seinen Fähigkeiten und seiner Kraft. Mit lauter Kasernenhofstimme trat er selbst im privatesten Kreis beim Kaffeetrinken übertrieben selbstbewusst (heute wurde man sagen: machohaft) auf. Obwohl er mich mochte, war er für mich kein Vorbild – im Gegenteil, seine Art stieß mich ab. Der »kleine Opa« in seinem Leid war mir näher.
Trotz vieler Widrigkeiten und finanzieller Engpässe ermöglichte mir meine Mutter eine Schulausbildung und ein Studium, wozu sie selbst nicht die Gelegenheit bekommen hatte. Sie war in dieser Hinsicht Ermöglicherin für mich, aber auch eine übergriffige Verhinderin meines Selbstständig-Werdens. In den ersten zwei Lebensjahrzehnten war ich ihren vielfältigen, subtil-intimen und offenen Gewaltübergriffen und Grenzverletzungen ausgesetzt. Auf dem Hintergrund ihrer Lebensgeschichte (Jahrgang 1921) hatte sie – als ehemaliges BDM-Mitglied – sehr autoritäre Erziehungsvorstellungen (»Solange Du Deine Füße unter meinen Tisch hast …«), die sie von Fall zu Fall durch Prügel mit dem Kochlöffel durchsetzte. Eine andere Seite zeigte sie regelmäßig nach dem leckeren sonntäglichen Mittagessen im sich anschließenden Mittagsschlaf, wenn sie eng mit mir kuschelnd auf dem Sofa lag. Ihre körperliche Nähe stürzte mich bereits mit der Vorpubertät beginnend in Gefühlsambivalenzen, zwischen Peinlichkeit und Attraktion. Meine Abwehr ignorierte sie. Schließlich sollte ich ihr phantasierter Ersatzmann sein, den sie nicht nur zur Begleitung beim Kauf ihrer BHs (Marke »Triumpf«, in großer Sondergröße) über Jahre hinweg missbrauchte. Ihre Übergriffe hielten bis zum Abitur an. Dann zog ich von zu Hause aus, dem Wehrdienst sei Dank. Zuvor fühlte ich mich ohnmächtig, hilflos und ihr völlig ausgeliefert. Ich lebte angepasst und verstummte, da mein Empfinden zwischen überaus beschämendem Abgestoßen-Sein und Sich-Angezogen-Fühlen schwankte. Die von mir absolut empfundene Peinlichkeit der Situation verhinderte, dass darüber weder mit ihr noch mit anderen Menschen geredet werden konnte. Ich konnte nicht anders damit umgehen, als zu versuchen, sozialen Situationen aus dem Weg zu gehen, indem ich mich versteckte, weil ich in meinem Sosein nicht gesehen werden wollte, weil ich einfach nicht dazu in der Lage war. Dies reichte lange bis in spätere intime Beziehungen, vor denen ich flüchtete. Nur wenn es nicht anders ging, »trat ich in Erscheinung« und funktionierte eben insbesondere in beruflichen Kontexten.
Das so angehäufte Megathema war die Befreiung aus der Unselbständigkeit, mich zu lösen aus dem Mich-benutzen-Lassen, dem Ausgeliefertsein, der Ohnmacht, dem Mich-Unterordnen … Auf diesen verschlungenen Wegen begegnete ich immer wieder Menschen beiderlei Geschlechts, jedoch deutlich mehr Frauen, die mich dabei freimütig unterstützten, meinen eigenen Weg zu finden. Sie waren durch das Hinterfragen gesellschaftlich-politischer Verhältnisse in eine Lage versetzt, die teilweise zu Um- und Aufbrüchen auch im privaten Raum führten (Emanzipationsbewegung). Völlig fehlte damals – Ende der 1970er Jahre – jedoch eine Idee von Männeremanzipation. In Gesprächen mit »bewegten« Frauen bemerkte ich, dass deren Notwendigkeit von diesen eher nachvollzogen werden konnte als von Männern.
Im späteren Leben war ich zudem mit einer anderen übergriffigen und gewalttätigen Seite konfrontiert: durch zwei Pfarrer, die mich in meinen 40er- bis 50er Jahren mittels sexualisierter Gewaltübergriffe überrumpelten. Die Degradierung zum Objekt der Begierde vor dem Hintergrund einer fehlenden Beziehung und fehlender Empathie bedeutet (heute) für mich Gewalt. Damals war ich nicht einmal in der Lage, für das Widerfahrene Worte zu finden, geschweige denn mich anderen Menschen mitzuteilen.

Was ist dein politisch-thematischer Zugang?
Die 1968er Jahre waren die Zeit des Aufbruchs. Die durch (studentische) Minderheiten verbreitete neue Haltung war das Infragestellen des scheinbar »Selbstverständlichen« und »Normalen«: Es ging um »Kritik an den herrschenden Verhältnissen und deren Umwälzung, in denen der Mensch ein geknechtetes Wesen« ist. So titelte eines der frühen Paperback-Bücher dieser Zeit, »Kommune 2. Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums«. Der Umbruch gesellschaftlicher Verhältnisse sollte nicht ohne Veränderung der Subjektivität, also der inneren Normen, der Denkweisen, der Haltung aller Menschen vonstattengehen.
Eine Veröffentlichung von Dieter Duhm, »Angst im Kapitalismus«, der (neben einigen Anderen) eine Subjektivitätsdebatte (als ergänzenden Gegenpol zur Veränderung der »objektiven polit-ökonomischen Verhältnisse«) in Gang gesetzt hatte, beinhaltete den Ausspruch: »Revolution ohne Emanzipation ist Konterrevolution«. Ich war fasziniert davon. Folglich rückten Sexualität und ihre Unterdrückung in meinen Fokus und persönlich konnte ich daran anknüpfen.
Eine Zeitlang arbeitete ich in einem der ersten Nürnberger Kinderläden regelmäßig in der Kinderbetreuung mit, nahm an den kontroversen Elternabenden teil. »Antiautoritäre Erziehung«, »Sexualität der Kinder«, »Wieviel Grenzen braucht unser Kind?«, aber auch die »Sexualität der Eltern untereinander«, waren Dauerbrenner. Ich »berauschte« mich an der Vorstellung, über Kindererziehung die Gesellschaft verändern zu können. Daraus ergaben sich für mich erste Reflexionen über Sozialisation und Geschlecht: Was ist der Natur, was der Umwelt geschuldet? Was brauchen Mädchen und was Jungen? Was ist befreite Sexualität?
Erst Jahre später wurde ich gewahr, dass die Beschäftigung mit kindlicher Sexualität auch eine höchst problematische Seite hatte, und noch immer hat: Im Dunstkreis der Diskussion über kindliche Sexualität kamen massenhaft sexualisierte Grenzüberschreitungen von Erwachsenen an Kindern ans Licht, teilweise legitimiert und moralisch aufgeladen durch »die gute Sache der Befreiung« (Pädosex). Kentler war mir – damals bereits – als »führender Sexualwissenschaftler« bekannt, und ich erlebte bei verschiedenen Gelegenheiten, dass seine »Experimente« mit sozial auffälligen Jungen durchschienen. Allerdings verstand ich nicht, was da geschah. Ich wunderte mich nur und war abgestoßen. In der Folge wandte ich mich von diesem Kontext bald wieder ab.
Die vorherrschende, auf Männer als Repräsentanten der Gesellschaft reduzierte Sichtweise des Normalen aufzudecken und das völlig verdrehte Männerbild zu überwinden, wurde für mich zur persönlichen Herausforderung. Die beginnende Neue Frauenbewegung, die an der alten, im 19. Jahrhunderte entstandenen Frauenbewegung anknüpfte, wurde dafür sehr wichtig. Als eine globale soziale Bewegung, welche die Gleichheit und Anerkennung von Frauen fordert, fokussierte sie im Geschlechterverhältnis auf das Sichtbarwerden des Verdeckten und machte die Missstände öffentlich. U.a. waren dies neben der verborgenen Diskriminierung die verdeckte Gewalt gegen Frauen im öffentlichen Raum, zunehmend aber auch die Gewaltübergriffe, die meistens in der Privatheit verschwanden. Für die Entwicklung meines Engagements für Männer empfinde ich die Frauenbewegung auch heute noch als wichtiges Vorbild – zugleich führen deren Überbleibsel den Gleichstellungsdiskurs inzwischen in die Enge, weil männliche Verletzbarkeit immer noch nicht als gleichwertig anerkannt wird.
In diesem Zusammenhang der Faszination über die bewegten Frauen zog ich Ende der 1980er Jahre für zwei Jahre als einziger Mann in eine Lesben-WG ein. Deren späterer Auszug »aufs Land« machte die große Altbauwohnung dann für mehrjährige Erfahrungen in verschiedensten Wohnkonstellationen möglich.

Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen, Männern und Vätern? Und wie hat sich dein Engagement zu diesen entwickelt, ggf. verändert?
In den 1970er Jahren lag Emanzipation – diese Spur von »Befreiung jetzt – und zwar sofort!« – in der Luft, nicht nur für immer mehr werdende Frauen, sondern auch für einige wenige Männer. Mein wachsendes Bewusstwerden darüber, was Männlichkeit sein kann und wie ich mich diesbezüglich den Erfordernissen des Wandels im Kontext von Erwachsenenbildung stellen müsste, führte zur Idee, Männerbildung als Aufklärungsprojekt zu betrachten. So begann ich am Städtischen Bildungszentrum – der Nürnberger Volkshochschule – im Jahre 1976 einen Gesprächskreis zur »Emanzipation des Mannes« anzubieten. Inhaltlich wurde ein damals frisch erschienener Text von Peter Schneider aus dem neue erschienenen Kursbuch »Die Sache mit der Männlichkeit« gelesen und besprochen. Auftauchende Fragen waren u.a.: Wann ist ein Mann ein Mann? Wie wird man zum Mann? Was sind die Schwierigkeiten von Männern? Welche die Zwänge?
Die Idee von Männeremanzipation im Rahmen von Männerbildung (»Nicht mehr gelebt werden, sondern selbstbewusst als Mann leben«) war in die Welt gesetzt (der Ursprung liegt in den USA) und ist bis heute (m)ein verbindender Gedanke für alle Projekte zur Unterstützung des männlichen Wandels und der Gleichstellung der Geschlechter.
Über zwölf Jahre versuchte ich in den 1980er und 1990er Jahren, an der Nürnberger Volkshochschule mit Angeboten zur Männerbildung (Vortragsveranstaltungen, Selbsterfahrungsgruppen, thematische Gesprächskreise in Abend- und Wochenendkursen) zu experimentieren. Das breite Themenangebot von »Männergesundheit« über »Psychosexuelle Gewalt gegen Jungen« bis »Militarisierte Männlichkeit«, »Gewalt in der Männergesellschaft« und »Dialog der Geschlechter« kann nachträglich hier eingesehen werden.
Zwei absolute Renner fanden in der ersten Hälfte der 1990er Jahre statt. Der eine war ein Vortrag des Bremer Geschlechterforschers Gerhard Amendt über seine zuvor erschienene Studie »Wie Mütter ihre Söhne sehen«. Beim zweiten handelte es sich um den Vortrag des Düsseldorfer Psychoanalytikers Bernd Nitzschke über »Die Ohnmacht der Männer, die Allmacht der Mütter und die Übermacht des männlichen Prinzips«. Beide Veranstaltungen sprengten mit jeweils ca. 130 Zuhörenden die Kapazitäten des Veranstaltungsraums, sehr zum Leidwesen der Direktion der Volkshochschule.
Irgendwann wurde mir klar, dass in dieser Einrichtung die Möglichkeiten für solche anspruchsvollen Themen nur sehr beschränkte waren. Insbesondere auch, weil der männliche Direktor (ein von seiner Universität beurlaubter Professor für Erwachsenenbildung) der für die Männerangebote institutionell verantwortlichen Abteilungsleiterin für Frauenbildung (ca. 1.200 Unterrichtsstunden pro Semester) unterstellte, dass sie ihn mit einem »Männerprogramm« (ca. 85 Unterrichtsstunden pro Semester) provozieren wolle. Die Folge war seine umfassende Blockade. Aus der Not wurde die Idee eines Männertreffs außerhalb der VHS geboren. Sie führte zum inzwischen über dreißig Jahre bestehenden Projekt »Männerforum Nürnberg (mfn)«, einem selbstorganisierten, monatlichen Treffen von Männern in einem Stadtteilkulturzentrum (hin und wieder und je nach Thema sind auch Frauen eingeladen).
In den Selbsterfahrungsgruppen und Gesprächskreisen tauchte bereits in den 1980er Jahren das Thema der Männern widerfahrenden Gewalt auf. Als Gruppenleiter hatte ich aufgrund meiner Biografie mehr als eine Ahnung davon und konnte so die anwesenden Männer auf dem Weg der Vertiefung in das Thema mitnehmen. Meine eigene Geschichte war aber nie ein Thema, diese blieb gut verkapselt, in meinem alltäglichen Funktionieren verschlossen. Ende der 1980er Jahre begann ich, Gewaltbetroffene und psychosoziale Fachleute zu interviewen. Ein Fundus an Geschichten und Fallvignetten sollte aufgebaut werden, aus dem dann später der Text für eine der ersten deutschsprachigen Veröffentlichungen zur Gewalt gegen Jungen und Männer entstand. Anfang der 1990er Jahre war das Manuskript fertiggestellt. Wegen juristischer Auseinandersetzungen nach der Wiedervereinigung meines ehemaligen DDR-Verlags Morgenbuch mit dem westlichen Literaturgiganten Bertelsmann um die Rechte von Stefan Heym (Morgenbuch hatte die Ostrechte, Bertelsmann die Westrechte) lag mein Text über drei Jahre lang auf Halde. Schließlich erschien er 1996. Da mein Verlag als Verlierer aus dem kostenaufwändigen Verfahren hervorging, musste er (mit meinem noch nicht veröffentlichten Manuskript) Konkurs anmelden. Nach weiteren zeitaufwändigen Verhandlungen konnte das Buch dann doch erscheinen, ohne dass der Verlag jedoch an den Urheber ein Honorar bezahlen konnte bzw. wollte. Eine erneute Ohnmachtserfahrung aufgrund patriarchal-kapitalistischer Denk- und Handlungsweisen, die für mich strukturelle Gewalt bedeute(te)n. Diese Publikation war die erste einer ganzen Reihe weiterer Veröffentlichungen zum männlichen Opfersein, der Männern widerfahrenen Gewalt und der Missachtung der männlichen Verletzungsoffenheit (hier einzusehen), gefolgt von zahlreichen thematischen Lesungen, Vorträgen, Seminaren und Konferenzen (bei Interesse gibt es hier eine Übersicht).
Ein daraus folgender wichtiger Schritt war, dass aufgrund meiner Vorarbeiten 2002-2004 ein Projekt zur erstmaligen Erforschung der gegen Männer gerichteten Gewalt durch das BMFSFJ auf den Weg gebracht werden konnte: »Gewalt gegen Männer – Personale Gewaltwiderfahrnisse von Männern in Deutschland«. Diese Untersuchung war als Vorstudie (N = 266) für eine Hauptstudie (N = 10.000) angekündigt, »um einen belastbaren Vergleich mit den Ergebnissen der Frauengewaltstudie anstellen zu können“«, so die damalige Formulierung, die als politisch-rhetorisches Zugeständnis anscheinend unverbindlich gemeint war. Denn die analoge Hauptstudie bezüglich der Zielgruppe Männer in einer umfassenden Perspektive, die zudem die Gewaltübergriffe gegen Männer im öffentlichen Raum aufgreift, steht auch zwanzig Jahre später noch aus.

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche/historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Mehrere Ereignisse fallen mir ein, zwei möchte ich herausgreifen. Zum einen ist das die aktuelle Kriegsbegeisterung und Remilitarisierung Deutschlands, und diese beziehen sich auf den Zusammenhang von Krieg, Männlichkeit und Frieden: Während des Grundwehrdienstes (1969-1970, 18 Monate) begann ich mich mit Kriegsdienstverweigerung zu beschäftigen und führte darüber zahlreiche Gespräche mit einem erstaunlich liberal gesinnten Kompaniechef. Zum Abschluss des Wehrdienstes stellte ich den Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer – die erste selbstständige Entscheidung meines Lebens! Nach einer dreistündigen, demütigenden »Gewissensprüfung« erkannte mich der Prüfungsausschuss an. Das Bewahren des Friedens und der Friedfertigkeit war seither ein mich stark beschäftigendes Thema. Daher auch meine Teilnahme an Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg oder das Anfertigen mehrerer sozialwissenschaftlicher Seminararbeiten über »Die Geschichte des Vietnamkriegs und seine Ursachen«, »Der militärisch-industrielle Komplex im Kontext der US-amerikanischen Politik« oder »Soziale Verteidigung als Alternative zu Krieg und militärischen Versuchen der Konfliktlösung«. In den 1970er Jahren wurde diese Perspektive vor dem Hintergrund des Vietnamkrieges bereits theoretisch-historisch erforscht (z.B. Mahatma Gandhi, Martin Luther King). Der langsam sich entwickelnden »Friedensbewegung« fühlte ich mich zunehmend verbunden, etwa als Teilnehmer 1981 an der ersten großen Demonstration der westdeutschen Friedensbewegung im Bonner Hofgarten gegen die »Logik der Abschreckung« und den Ausbau der Atombewaffnung Europas. Weitere Stichworte wären Brandts Entspannungspolitik, Gorbatschows Perestroika und seine Idee eines gemeinsamen europäischen Hauses, der daraus sich ergebende freiwillige Rückzug der Sowjetunion aus Deutschland und die Ermöglichung der deutschen Wiedervereinigung, aber auch die – aus meiner Sicht leider fatale – NATO-Osterweiterung, die das russische Sicherheitsempfinden offenbar so existentiell tangiert, dass seit 2014, mehr noch seit 2022, kriegerische Maßnahmen („Spezialoperationen“) getroffen wurden. Der gegenwärtige Glauben, ohne Verhandlungen, mit Waffen, aus einem – mit einer langen bis nach dem Ersten Weltkrieg zurückreichenden Vorgeschichte und geopolitisch aufgestellten – Stellvertreterkonflikt als Sieger hervorgehen zu können, täuscht sich, insofern es in diesem Konflikt keine Gewinner, sondern nur Verlierer geben wird, mit Ausnahme der Rüstungsindustrie und der Öl- und Gasindustrie. Vom früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt stammt die Aussage: »Leute, die keinen Krieg erlebt haben, wohl aber selbst Krieg führen oder provozieren, wissen nicht, was sie Furchtbares anrichten.«
Zum anderen ist das die – zu einem großen Teil gegen Jungen und Männer gerichtete – sexualisierte Gewalt in beiden Kirchen. In diesem Feld üben zahlreiche überwiegend männliche Experten um den Mythos der Verletzungsgeschichte eines als besonders beschriebenen Mannes ihren Beruf aus. Zentral sind hierbei die institutionell gebotenen Ermöglichungsräume für Gewalt, Machtmissbrauch und Instrumentalisierung. Die seit etlichen Jahren punktuell sichtbar werdende, weltweite Missbrauchspandemie im Feld der christlichen Kirchen steht erst am Anfang ihrer Aufdeckung, in der erste (nicht belastbare) Zahlen deren grundlegende Relevanz belegen. Eine eigentliche Aufarbeitung wird noch lange auf sich warten lassen, da es hierbei insbesondere um die kritische Auseinandersetzung mit Gewaltübergriffen und Grenzverletzungen des reglementierten Christentums und den diese begünstigenden Hierarchien in ihren formellen und informellen Strukturen geht. Auf diesem Hintergrund ist es für zahlreiche gewaltbetroffene Männer jedoch irritierend, vielleicht sogar problematisch, dass kirchlich eingebundene Männerprojekte aus einem Feld kommen, das als toxisch kontaminiert empfunden wird. Da nicht alle Männer potentielle Vergewaltiger sind, nur weil sie Männer sind, so sind auch nicht alle Kirchenleute potentielle Kinderschänder, nur weil sie Kirchenleute sind. Trotzdem wünschte ich mir im Anschluss an die ritualisiert verbale Entschuldigungskultur katholischer und evangelischer Gemeinschaften eine ernsthafte und tiefgründige, hegemoniekritische und systemadressierte Auseinandersetzung, gerade auch nach den in den letzten Jahren so vielen bekannt gewordenen sexualisierten Übergriffen, Vertuschungsversuchen und damit erneuten Beschämungen. Gerne ohne, strategisch geschickt, die hegemoniale Oberhand im Feld weiterhin behalten zu wollen – und die Betroffenen und ihre sozialen Problemlagen erneut zu benutzen. Ansonsten unterliegt deren Wirken dem Schein, in einer dubiosen Zwielichtigkeit zu agieren. Projekte im »Interesse von Männern« sollten sich dem nicht aussetzen, um umfänglich glaubhaft werden und bleiben zu können.
Es ließen sich noch weitere für mich nachhaltige Ereignisse anführen, etwa das Beschneidungsgesetz aus dem Jahre 2012 mit der geschlechtsspezifischen Diskriminierung hinsichtlich der Schutzbedürfnisse männlicher Kinder oder die Machtverteilung zwischen den Geschlechtern mit der Frage, wie die subtile Diskriminierung von Männern funktioniert. Doch ich belasse es – für den Moment – bei den obigen Ausführungen.

 
 

 
 
 
 
 
 
:: Hans-Joachim Lenz, geb. 1947, lebt im Markgräflerland bei Freiburg, Sozialwissenschaftler, als Pionier und Vater des Themas »Gewalt gegen Männer« und »männliche Verletzbarkeit« ist er Autor zahlreicher Veröffentlichungen und als Dozent tätig.

Ballerspiele

Dumpfe Geräusche, freie Künste und das Klingeln in den fremden Kassen

Abdruck eines Fußballs auf einer Wand

Text und Foto: Alexander Bentheim
Reihe »Bilder und ihre Geschichte« | EM-Special »rund & kantig«


An der Wand der Turnhalle hinter der Schule am Walde bei uns gibt es gelegentlich seltsame Zeichen. Rätseln muss, wer nie einen feuchten Ball gegen eine Wand getreten hat und die Abdrücke aus Matsch und Dreck nicht kennt, die beim Aufprall entstehen – wobei der Winkel des Aufpralls eine variantenreiche Rolle für das Gesamtwerk spielt, denn er verursacht und hinterlässt nicht unmittelbar zu identifizierende Schlieren, Streifen, Muster, sondern eher abstrakte Kunst. Und ja, Ballerspiele, es knallt so (un)schön, oft dumpf, mal metallisch, aber immer vernehmbar. Auf dem richtigen Platz ist es meist das Aluminium, selten auch mal die Kniescheibe des eigenen Mitspielers.
Wer neben Spielplänen, -zeiten, -orten, -paarungen auch Interesse hat zu erfahren, was der ganze EM-Spaß eigentlich kostet (also weniger die UEFA, mehr die Steuerzahler*innen), ist mit einem Beitrag des Satiremagazins extra 3 bestens versorgt.



Mehr aus der Reihe »Bilder und ihre Geschichte« im Archiv.

»Wer Bock hat, mir zu folgen, der folgt.«

Ein digitaler, in allererster Linie aber analoger Weg zu sich selbst.

Text: Alexander Bentheim
Foto: Alexander Bentheim | Sascha Bolte

 
Der Nord-Süd-Trail ist ein Fernwanderweg durch Deutschland, vom nördlichsten Punkt an der Nordspitze der Insel Sylt zum südlichsten Punkt am Haldenwanger Eck im Allgäu. Als inoffizieller, aber mit über 3.600 Kilometern längster Fernwanderweg nutzt der Nord-Süd-Trail das vorhandene Wegenetz vieler Wanderwege, aber auch freie Querverbindungen zwischen den einzelnen Fernwanderwegen. So wurden 35 traditionelle Wanderwege und über 30 National- und Naturparks in 10 Bundesländern für den Nord-Süd-Trail miteinander verbunden, dass er auch als »der kulturhistorische Fernwanderweg im Herzen Europas« bezeichnet wird.
Sascha Bolte, in Hamburg auch bekannt als »Der Educat« für Schulungen, Beratungen, Marketingfragen und digitale Teilhabe im Bereich Social Media, hat diesen Weg, den manche auch einen Soultrail nennen, für sich entdeckt und ist nun unterwegs. »Ich hab‘ die Reißleine gezogen. Und diese Leine, die schnapp ich jetzt, denn irgendjemand hat sich bei mir angeklinkt und hat mich langsam, aber sicher über eine ganze Zeit lang immer weiter runtergezogen. Und das hat dazu geführt, dass ich irgendwie weniger Antrieb hatte, weniger Motivation, weniger Emotionen, alles ziemlich traurig, und ich konnte einfach nicht mehr. Und dann hab‘ ich gesagt: Pause! Und jetzt versuche ich den Nord-Süd-Trail zu wandern. (…) Ich habe 3620 Kilometer Zeit und ich hoffe, dann kann ich Herr oder Frau Depression zur Rede stellen und wieder eine richtige Gefühls-WG eröffnen, mit Emotionen, Freude, Trauer, Leute vermissen, alles. Das wäre ein Traum. Also: Let‘s go!«
Man kann Sascha, der seinen Weg am 29. April im Norden Sylts startete, auf seiner Wanderung folgen, die er auf seinem Instagram-Account mit Fotos und Videos kommentiert. Und ab und an beantwortet er auch Fragen. – Allzeit guten Weg, Sascha!

Wenn Mama brüllt …

… wird Papa immer kleiner. Und das macht dem achtjährigen Aaron Angst. Denn die Familie, die eigentlich Sicherheit bieten sollte, wird so zum Ort der Gefahr.

ein kleiner trauriger Junge hält sich die Ohren zu

Text: Ralf Ruhl
Foto: LP, photocase.de (Symbolbild)

 
Endlich greift ein Kinderbuch – von Clemens Fobian (Text) und Eva Planet (Illustration), angeregt von der Bundesfach- und Koordinierungsstelle Männergewaltschutz – das Thema »Häusliche Gewalt gegen Männer« auf. Und zwar richtig gut!

Zur Rezension

Von Männern für Männer

Das Bundesweite Männertreffen findet vom 8.-12. Mai im Jugendgästehaus Duderstadt zum 42. Mal statt – und mann kann noch teilnehmen, ganz ohne Bollerwagen.

Text und Interview: Alexander Bentheim
Foto: Orga-Team 2024

 
Seit 1983 gibt es das Bundesweite Männertreffen, das jährlich über die Himmelfahrtstage stattfindet, immer an wechselnden Orten, selbst organisiert von engagierten Teilnehmern, mit und für Männer jeden Alters und Vätern mit ihren Kindern. Dabei ist das Männertreffen so lebendig, emotional und vielseitig wie die Männer, die daran teilnehmen und sich in Workshops, zu Spaziergängen und Gesprächen finden. Das Männertreffen lebt durch das, was die Teilnehmer daraus machen: etwa kulturell-musikalische Angebote wie Trommeln, Didgeridoo, tanzen, Chor-Singen und malen, oder Bewegendes und Sportliches wie Boxen, Bogenschießen, Schwertkunst, Aikido, Fußball, Volleyball. Es kann aber auch philosophiert und gemeinsam zurückgeschaut werden auf gemeinsame Erfahrungen und Freundschaften, die über die Jahre entstanden sind. Ebenso gibt es Selbsterfahrungsangebote, eine Schwitzhütte, Meditationen, Entspannungsmassagen. Auch Gesprächsrunden zu vielen aktuellen Männerthemen finden statt. Ob kollektiv oder ganz individuell ausgerichtet: es ist schön und tut gut, jemanden zu finden, der die eigenen Interessen oder Erfahrungen teilt. Jeder Teilnehmer kann auch sein persönliches Projekt vorstellen und sich Anregungen und Feedback bei anderen Männern holen. Das Treffen bietet somit auch ein Testfeld, auf dem man in einem geschützten Rahmen etwas ausprobieren kann.

Philipp und Thorsten, ihr seid Teil des Orga-Teams des diesjährigen Treffens – was waren die Motive, euch in diesem Team zu engagieren? Und wird es einen Kickertisch geben?
[Philipp] Für mich ist das Motiv, eine Idee lebendig zu erhalten, und dafür einen Beitrag zu leisten, vielleicht auch etwas zurückzugeben an und in eine Gemeinschaft, die mir wichtig geworden ist, weil sie mein Leben bereichert. Neben den verpflichtenden Arbeiten macht es über die zwei Jahre aber auch viel Spaß, solch ein Treffen vorzubereiten und festzustellen, wie wir alle im Team Lösungen auch für unerwartete Probleme finden können. Und ja, einen Kicker gibt es im Haus, damit der Kopf auch mal freigeräumt werden kann 🙂
[Thorsten] Das Bundesweite Männertreffen ist für mich eine Antwort auf die Frage nach einer friedvollen Welt. Und das 42. Männertreffen ist natürlich – mit Douglas Adams gesprochen – die Antwort auf die Frage aller Fragen, nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest.

Warum sollte Mann am Männertreffen teilnehmen?
[Philipp] Weil die Teilnahme so oder so eine Bereicherung bedeutet und Impulse für die eigene Weiterentwicklung geben kann. Ob in den Workshops oder in den Begegnungen mit den anderen teilnehmenden Männern während der vier Tage: es gibt immer etwas Neues zu entdecken, zu erleben, zu erfahren.
[Thorsten] Das Männertreffen ist ein Ort von Männern, die auf dem Weg sind für Männer, die auf dem Weg sind. Bunt, hierarchiefrei, selbstbestimmt, mit viel Erfahrung und offen für Neues und neue Wege; von Profis bis Schnupperern sind alle dabei. Es entwickelt sich seit 42 Jahren immer wieder neu.

Welche Männer kommen zum Männertreffen?
[Philipp] Die Bandbreite an Teilnehmern kann man als kleinen Spiegel der Gesellschaft bezeichnen, altersmäßig, berufsbezogen, beziehungsorientiert. In der Regel sind es Männer, die sich auf den Weg gemacht haben, um ihr Mannsein zu erforschen, Antworten auf Fragen zu finden und ihre Perspektiven zu erweitern.
[Thorsten] Die Männer, die da sind, bringen eine (mehr oder weniger große) Offenheit mit, sich zu zeigen und mit anderen Männern in Kontakt zu kommen. Männer, die teilweise ganz schön anders sind als man selbst. Und manchmal (im Kern) viel näher oder ähnlicher, als zunächst erwartet. Das Treffen spricht eher Männer an, die sich selbst einbringen wollen, als Männer, die ein durchgeplantes Männerseminar erwarten. Mit der Möglichkeit für alle anwesenden Männer, Workshops anzubieten oder zu besuchen, bleibt viel Freiraum, auch in dem Austausch dazwischen.

Was sagen Männer am Ende über das Treffen, wenn sie zum ersten Mal dabei waren?
[Philipp] Das beantwortet jeder Mann individuell und anders. Aber er verlässt das Treffen mit vielen neuen Eindrücken und vielleicht auch Ideen, wie er diese in seinem alltäglichen Leben umsetzen kann. Wenn er die Tage für sich und mit anderen genutzt und genossen hat, wird er vielleicht wiederkommen. Das haben wir oft erlebt und ist auch meine eigene Geschichte.
[Thorsten] Ja, und auch meine Geschichte. Ich bin im Jahre 2009 mit einem großen Gefühl der Freude und Verbundenheit nach Hause gefahren. Und wiederholt wiedergekommen.

 
Interessierte Männer können sich noch anmelden. Alle Infos und überhaupt viel zu stöbern gibt es hier: www.maennertreffen.info.

»… von Männern nicht nur Veränderung fordern, sondern auch etwas für sie, besser mit ihnen tun.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Gunter Neubauer, Tübingen

Junge mit Schaufel am Strand

Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Redaktion: Alexander Bentheim
Fotos: Aridula, photocase.de | privat

 
Gunter, was war oder ist dein persönlicher, biografischer Zugang zur Jungen-, Männer- und Väterthematik? Und was dein politisch-thematischer Zugang?
In meiner Jugendzeit war ich in einem Jugendverband aktiv, bei den Pfadfindern. Es war die Zeit, in der »Der Tod des Märchenprinzen« kursierte, ein autobiographischer Roman von Svende Merian. Eines Tages teilten uns die Frauen in einem Gremium mit, dass sie sich beim nächsten Mal ohne uns treffen würden. Wir fanden das ziemlich seltsam und waren enttäuscht. Aus Trotz beschlossen wir, es ihnen gleich zu tun und uns auch mal nur unter Männern zu treffen. Irgendeiner hatte wohl auch schon was von Männergruppen gehört. Und siehe da: Wir kamen ganz gut ins Gespräch. Es war irgendwie anders als sonst, aber auch gut – so gut, dass wir das dann eine ganze Zeitlang beibehalten haben, mit Gesprächen, Wanderungen, Saunabesuchen usw. Dabei ging es um uns, um die Frauen, ums Mannsein und um vieles andere. Nicht so ganz sortiert, aber ein Anfang. Dem Miteinander hat es nicht geschadet, im Gegenteil.
Eine eigene Erfahrung waren auch meine Jahre als Erzieher in einer Kita, nämlich als erster männlicher Kollege dort überhaupt, mit über 20 Kolleginnen; die spezielle Geschlechterdynamik, die in so einer Konstellation entsteht, das Interesse der Jungen und Mädchen an mir »als Mann«, was man nicht ignorieren, aber auch nicht einfach bedienen will. Was ich damals für mich gelernt habe, versuche ich noch heute an Jüngere weiterzugeben.
Auf politischer Ebene haben mich zwei Zugänge mobilisiert. Einmal Diskussionen Ende der 1990er Jahre darüber, dass es eine Jungen- und Männerpolitik gar nicht braucht, ja streng genommen nicht einmal geben kann. Ich war da anderer Meinung, und zum Glück sind wir heute doch etwas weiter. Eine noch stärkere Wirkung hatte aber die Initiative für einen ersten deutschen Männergesundheitsbericht ab 2001, genauer gesagt die damals insgesamt ablehnende Haltung der Politik und die dabei vorgetragenen, aus unserer Sicht ziemlich fragwürdigen Argumente, noch nachzulesen auf den Seiten der DIEG. Das führte 2005 auch zur Gründung des Netzwerks Jungen- und Männergesundheit. Unsere Forderung von 2021 – nämlich: »Deutschland braucht eine Männergesundheitsstrategie!« – zeigt, dass es hier immer noch einiges zu tun gibt.

Was waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen, Männern und/oder Vätern?
Dass man von Männern nicht nur Veränderung fordern kann, sondern auch etwas für sie, besser mit ihnen tun muss. Dass man durchaus vorhandene Veränderungsbereitschaft und Veränderungswünsche von Männern entsprechend aufnimmt und unterstützt. Gelandet bin ich damit bei der Männergesundheitsförderung, da gilt ja das Gleiche: Nicht nur Problemdiskurse führen, sondern auch Ressourcen, auch manche Bedarfe anerkennen und mit den noch offenen Potenzialen arbeiten.

Wie hat sich dein Engagement für Jungen, Männer und/oder Väter entwickelt, ggf. verändert?
Meine erste Berufserfahrung war ja die als Erzieher in der Kita. Von dort aus lag die Beschäftigung mit Jungensozialisation und Jungenpädagogik nahe. Ich hatte vielleicht auch die Idee, dass man am besten früh anfängt, also bei den Jungen, wenn man was erreichen will. Heute sehe ich das entspannter – die machen eh ihr eigenes Ding. Wichtiger finde ich mittlerweile, dass die erwachsenen Männer erst mal ihre eigenen Aufgaben anpacken, dass sie bei sich selbst anfangen, sich besser verstehen lernen, sich mit sich selbst und untereinander auseinandersetzen. Ich habe heute auch mehr mit erwachsenen, mit älteren Männern zu tun und weniger mit den Jungen. Und das Körperliche ist mir wichtiger geworden, ich finde da einen guten Zugang für mich in der Eutonie.

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche/historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Ich erinnere mich, dass ich die Mondlandung mitansehen durfte. Irgendwie schien jetzt alles möglich. Auf der anderen Seite die Erfahrung als Babyboomer, dass es überall voll, dass da schon jemand anderes ist. Der Deutsche Herbst. Diskussionen um Atomkraft und Nachrüstung. Kriegsdienstverweigerung und Musterung, ein Platz in der großen Menschenkette 1983. Deprimierende Besuche in der DDR. Dann etwas zunächst eher Persönliches: Nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 1991 habe ich beim Standesamt mit einem Doppelnamen den Antrag gestellt, wieder nur mehr meinen Geburtsnamen verwenden zu dürfen. In diesem Zusammenhang habe ich dann angefangen, mich mit der Rechtsgeschichte der Gleichstellung zu beschäftigen – vom Frauenwahlrecht 1918 über Art 3 (2) Grundgesetz und die lange noch verfassungswidrigen Bestimmungen des BGB bis hin zur »Ehe für alle« und der »Dritten Option« im Personenstandsgesetz. Die Ergänzung von Art 3 (2) GG in 1994 – nämlich: »Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.« – und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz von 2006 hatten auch berufliche Folgen, z.B. in Projekten zum Gender Mainstreaming oder im Bereich Antidiskriminierung.

Wichtige persönliche Erfahrungen im Zusammenhang mit deinen privaten und beruflichen Beziehungen?
Der frühe Tod meines Vaters 1999. – Eine Schwitzhütte zum Abschluss unseres Projekts Jungenpädagogik 2000. – Der definitive Eintritt in die berufliche Selbständigkeit mit der Gründung von SOWIT 2003. – Die Fahrradtouren mit meinen Neffen. – Der Schreck über die Silberhochzeit: Was, schon so alt?! – Neue Aufgaben als Pateneltern. – Die Besuche unserer Großneffen. – Die Pflege von Mutter und Schwiegermutter.

Drei Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und/oder Beziehungen zu anderen ausmachen?
Klar, entschieden – ausdauernd, beständig – mal gründlich, mal flott.

Was ist für dich »Erfolg« in deiner Auseinandersetzung mit Jungen-, Männer- und Väterthemen? Hast du Beispiele?
Halbwegs gut durch‘s Leben kommen und dabei möglichst wenig Schaden anrichten – bei mir selbst, bei anderen, für die Nachwelt.

Was gibt dir persönlich Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen?
Zusammen mit anderen etwas bewegen, sich wirklich begegnen, feiern, sich ausruhen.

Was ist dir (mit) gelungen, worauf bist du (zusammen mit anderen) vielleicht auch stolz?
Gelungen: mich zu beheimaten. Stolz: nicht so mein Ding; mir reicht »zufrieden, wenn’s läuft«.

Mit welchen Institutionen und Personen warst du gerne beruflich oder privat verbunden oder bist es noch?
Das gibt eine ganz lange Liste – ich nehm‘ das lieber als Anstoß, das denen bei nächster Gelegenheit mal wieder selbst zu sagen …

Was hat die Männer/* ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast?
Das klingt ja wie eine Aufforderung zum Nachruf – zum Glück leben die allermeisten noch! Aber im Ernst: Die Männer sind bei genauerer Betrachtung so vielfältig wie das, was alles auf einer schönen Wiese lebt. Was sie vielleicht verbindet, ist die Auseinandersetzung mit sich selbst und der Wunsch, dass es irgendwie besser wird mit dem Mannsein, mit der Gesellschaft, mit der Welt.

Hast du eine Lebensphilosophie, ggf. ein Lebensmotto?
Eher nicht – meine 92-jährige Schwiegermutter hat uns kürzlich auf dem Sterbebett mitgegeben: »Kinder, bleibt flexibel!« Und als ich sie mal fragte: »Mutter, was hältst du eigentlich von feministischer Außenpolitik?«, war ihre Antwort: »Warum nicht?!«

Wo siehst du Brüche in deinen beruflichen oder freundschaftlichen Beziehungen? Wodurch wurden diese verursacht?
Ja, die gibt’s. Vielleicht auch, weil man denkt und dachte, wir sind doch alle die Guten, wir haben im Grunde das gleiche Interesse, ohne die übliche Konkurrenz. Enttäuscht bin ich vor allem, wenn dann plötzlich doch wieder der persönliche oder institutionelle Vorteil zählt. Oder wenn ich das Gefühl habe, dass man mich hängen lässt. Manches hat sich aber auch wieder eingerenkt, zu Kündigungen kam’s selten.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis vom Umgang mit Jungen-, Männer- und Väterthemen?
In uns selbst.

Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deiner Arbeit an?
Ganz allgemein gute Rückmeldungen und Anerkennung für das, was ich mache. Mein Engagement und meine Aktivitäten verlegen sich aber – durchaus altersentsprechend – zunehmend an meinen Wohnort und in den sozialen Nahraum. Dort geht’s dann oft weniger um die ganz großen Projektionen, sondern mehr um das Sichtbare, Spürbare, Konkrete. Große Freude macht mir auch der Umgang mit Tieren und die körperliche Arbeit im Naturschutz.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest? Und was möchtest du gegen Ende deines Lebens erreicht haben?
Mein Projekt wäre, mich gleich morgen auf‘s Rad zu setzen und in Etappen so lange zu fahren – am besten nicht alleine –, bis das Meer zu sehen ist. Dann schwimmen, noch eine gute Rückfahrt und ungefähr so weiter machen wie bisher. Aber letztlich möchte ich erreichen, dass ich nichts mehr erreichen muss.

Eine nicht gestellte Frage, die du aber dennoch gerne beantworten möchtest?
Lieber mal daneben liegen als immer nur vorsichtig? – Ja!

 
 

 
 
 
 
 
 
:: Gunter Neubauer, Jg. 1963, Tübingen-Hirschau. Diplompädagoge, Erzieher u.v.a.m., www.sowit.de.

Aggression als Ressource für Beziehungen

Seminarreihe über 4 Wochenenden ab 27. April 2024 (bis November) in Hamburg

Zwei Frauen, die sich von Angesicht zu Angesicht anschreien

Text: Alexander Bentheim (Redaktion)
Foto: nektarstock, photocase.de

 
»Konflikte wagen, Aggression entgiften, Klarheit gewinnen« – zu dieser Herausforderung laden Thomas Scheskat (Göttinger Institut für Männerbildung) und Heide Gerdts Frauen, Männer und diverse Menschen ein. Ob als Einzelne, als Paare oder zusammen mit Freund*innen geht es über diese vier Reisestationen:

:: Aggression – im erweiterten Sinn als Grundkraft und Ressource;
:: Sexualität als erotische Lebenskraft;
:: Abschied, Endlichkeit und Loslassen von idealen Beziehungserwartungen;
:: Lebenserfüllung im Alltag zwischen Wollen und Sollen.

Gearbeitet wird in einer festen Gruppe auf der Grundlage von Körperpsychotherapie, Tiefenpsychologie und weiteren Humanistischer Disziplinen. Details zur Reihe wie Ort, Anmeldung, Termine, Kosten etc. finden sich hier.

Es sind aktuell noch 3 Plätze frei.

Moin Ralf!

Ein langjähriger Kollege und Freund mit fundierter Beratungs- und Schreibkompetenz ist nun auch offiziell im MännerWege-Team.

Text und Foto: Alexander Bentheim


Joa, das passt. Nach so vielen Jahren immer wieder inspirierender Zusammenarbeit war diese Entscheidung füreinander nun folgerichtig.
Ralf kann – nach der Mitgründung des Göttinger Männerbüros 1986 – auf eine lange Redaktionsgeschichte zurückschauen: seit 1995 beteiligt an der Zeitschrift »paps – Die Welt der Väter«, war er auch deren Chefredakteur seit 2001, was unter seiner Leitung eine wachsende Professionalisierung der Zeitschrift nach sich zog; er verantwortete später das Väter-Dossier in »spielen und lernen – Zeitschrift für Eltern und Kinder« und schrieb den im Rowohlt Verlag erschienenen Ratgeber »Kinder machen Männer stark – Vater werden, Vater sein«. Parallel engagierte er sich ab 2009 mit Karsten Knigge vom kidsgo-Verlag und weiteren Kollegen redaktionell und mit zahlreichen eigenen Beiträgen für das Portal »väterzeit.de« und schrieb neben väterthematischen Beiträgen auch über 200 Rezensionen für »Switchboard – Zeitschrift für Männer und Jungenarbeit« und unser Portal »MännerWege« – vor allem zu Kinder- und Jugendbüchern mit dem Schwerpunkt Väter im Kinderbuch.
Darüber hinaus berichtet Ralf auch über Gesundheitsthemen, Schwerpunkt Männer und Familie, für das AOK-Forum für Politik, Praxis und Wissenschaft »G+G | Gesundheit und Gesellschaft«, engagiert sich seit vielen Jahren bei der AWO, Kreisverband Werra-Meißner, in der Paarberatung und Gruppenarbeit für gewalttätige Männer und ist seit einiger Zeit auch Berater im Team des Männerhilfetelefons.

Gegründet hatten Frank und ich dieses Portal 2015, weil wir nach dem Ende von Switchboard weiter Lust auf das Schreiben und Gestalten von Texten und Themen hatten. Umso mehr freuen wir uns, dass der langjährige Kollege nun auch offiziell ins Team kommt – willkommen, Ralf, und auf weitere gute Jahre miteinander!

Männergesundheit – Wenn die Prostata drückt …

Informationen zu individuellen Therapien für Männer am 06. Februar 2024 von 18.30 bis 19.30 Uhr im Seminarzentrum des Asklepios Westklinikum Rissen

Text: Alexander Bentheim (Redaktion)
Foto: willma, photocase.de

 
Bei der gutartigen Prostatavergrößerung (BPH) handelt es sich um eine gutartige Vermehrung von Prostatagewebe. Die Prostata umschließt die Harnröhre und produziert ein Sekret, das im Ejakulat enthalten ist. Vergrößert sie sich, können Probleme wie z.B. Harndrang oder unvollständige Blasenentleerung auftreten. Prof. Dr. Thorsten Bach (FEBU), Chefarzt der Urologie in Rissen, spricht über individuelle Therapiemöglichkeiten.
Die Veranstaltung findet im Rahmen des »Rissener Dialog« im Seminarzentrum im Asklepios Westklinikum Rissen, Haus 5A, statt. Anmeldungen per Mail an a.lockenvitz@asklepios.com oder telefonisch unter 040. 81 91-46 69.

»Wege und Möglichkeiten erkunden, wie Vaterschaft auch unter widrigen Umständen gelingen kann.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Hans-Georg Nelles, Düsseldorf

Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: Ahmed Akacha, pexels.com | privat

 
Was war oder ist dein persönlich-biografischer Zugang zur Väterthematik? Was dein politisch-thematischer Zugang?
Ich habe drei Zugänge zur »Väterthematik«. Der erste sind meine persönlichen Erfahrungen und Auseinandersetzung mit meinem Vater und meinem Großvater mütterlicherseits und der Entschluss, zumindest zu versuchen, es »besser« zu machen. Der zweite Zugang war dann meine eigene Vaterschaft. Ich wollte auf jeden Fall Vater werden; da es unerwartet schnell »geklappt« hat, bin ich dann mit 27 Jahren, mitten im Studium, zum ersten Mal Vater geworden. Der dritte Zugang war dann eine interne Stellenausschreibung meines damaligen Arbeitgebers, es wurde ein Mann für das Projekt »situationsgerechte und passgenaue Qualifizierung für Mütter und Väter im Erziehungsurlaub« gesucht. Ich habe die Stelle bekommen und konnte die »Mütterzentrierung« dieses Themas Stück für Stück irritieren und bin heute einer der »Dienstältesten« in diesem Feld.

Was waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Vätern?
1997 und in den Jahren unmittelbar danach ging es zunächst darum, in Unternehmen und Gesellschaft Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Väter mehr wollen als Ernährer zu sein. Während die erste Männer-Studie von Helge Pross aus dem Jahr 1978 noch belegte, dass alles in traditioneller Butter ist, machte die sieben Jahre später durchgeführte Brigitte-Studie »Der Mann« schon deutlich, dass sich zumindest ein Teil der Männer und Väter auf den Weg gemacht hatte. Davon zeugt auch »Das Väterbuch« aus dem Jahr 1982. Aber trotz dieses, auch durch die Einführung des Erziehungsurlaubs im Jahr 1979 beflügelten ersten Aufbruchs der Väter hat es noch weitere 20 Jahre gedauert, bis die Diskussion im Mainstream angekommen ist. Ich habe aber den Eindruck, dass – ähnlich wie in einer KiTa, in der jedes Jahr die gleichen Themen neu diskutiert werden – auch das Bewusstsein und vor allem die Haltungen zur Bedeutung von Vätern und Vaterschaft nur langsam durchsickert und immer wieder neu begründet werden muss.

Wie hat sich dein Engagement für Väter entwickelt, ggf. verändert?
Mein Engagement in diesem Themenfeld hat sich im Laufe der Zeit von der unmittelbaren Arbeit mit Vätern in den verschiedensten Zusammenhängen hin zu einer »Lobby- und Beratungsarbeit« für Väterthemen entwickelt. Als Referent in der Geschäftsstelle der LAG Väterarbeit NRW und in der Koordination des Verbundprojekts »Jugendliche Väter im Blick« stehen außerdem Öffentlichkeitsarbeit und Vernetzung im Vordergrund.

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche/historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Das nachhaltigste Ereignis war die Ankündigung von Renate Schmidt im Herbst 2004, in der nächsten Legislatur einen »Vätermonat« nach schwedischem Vorbild einführen zu wollen. Nach der NRW-Wahl 2005 kam alles anders, und nach einer vorgezogenen Bundestagswahl brachte Ursula von der Leyen als neue Familienministerin zwei Partnermonate ins Spiel und die gesellschaftliche Diskussion in Sachen Väter entwickelts eine bis dahin ungeahnte Dynamik, die uns »Väterarbeitern« einen kräftigen Rückenwind und nach der Einführung des Elterngeldes zum 1. Januar 2007 auch eine große mediale Aufmerksamkeit bescherte.

Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deinen privaten und/oder beruflichen Beziehungen?
Männer können ja angeblich nicht reden, erst recht nicht über ihre Gefühle, so die landläufige Zuschreibung. Im Rahmen meines ersten Väterprojektes habe ich in verschiedenen NRW-Unternehmen Väterrunden organisiert. Väter aus diversen Branchen kamen in einer verlängerten Mittagspause zusammen und haben über Herausforderungen ihrer Vaterschaft gesprochen. Am Ende der 90 Minuten, die wie im Fluge vergingen, waren alle jedes Mal erstaunt, dass Mann – obwohl sich alle vorher nicht kannten und es nichts (Alkoholisches) zu trinken gab – so intensiv ins Gespräch gekommen ist und auch über Sorgen, Nöte und Schwächen geredet hat.

Drei Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit oder Beziehungen zu anderen ausmachen?
Ausdauer, Optimismus und Kooperationsbereitschaft.

Was ist für dich »Erfolg« in deiner Auseinandersetzung mit Väterthemen? Hast du Beispiele?
Wenn ein Vater – auch gegen eigene Zweifel und/oder Widerstände aus dem familiären oder betrieblichen Umfeld – sich die (Eltern)Zeit nimmt, die er haben möchte, und gestärkt durch die eigenen Erfahrungen auch andere (werdende) Väter in seinem Umfeld dazu inspiriert und ermutigt.

Was gibt dir persönlich Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen?
Dass ich eigene Erfahrungen und Erkenntnisse weitergeben kann und durch die Arbeit mit den Vätern permanent dazulerne und auch selber in Frage gestellt werde. Das gilt insbesondere auch in der Beziehung zu meinen Kindern und den Enkel*innen.

Was ist dir (mit) gelungen, worauf bist du (zusammen mit anderen) vielleicht auch stolz?
Da fallen mir zuerst die drei thematischen Netzwerke ein, die ich mit engagierten Kollegen gegründet habe: 2005 das Väter-Experten-Netz VEND-eV. Gemeinsam mit Eberhard Schäfer und Martin Rosowski haben wir dann 2007 angefangen, Partner und potenzielle Mitglieder für ein Bundesforum Männer zusammenzubringen; im November 2010 gab es dann die offizielle Gründung. Das dritte Netzwerk ist die schon genannte LAG Väterarbeit NRW, die wir gemeinsam mit 22 Organisationen nach zwei Jahren Vorarbeit im Januar 2016 gründeten.

Mit welchen Institutionen und Personen warst du gerne beruflich oder privat verbunden oder bist es noch?
Außer den bereits genannten Netzwerken und Personen ist für meine Arbeit mit Vätern Harald Seehausen aus Frankfurt besonders wichtig, er beschäftigt sich seit den 1980er Jahren mit Väterarbeit und mit dem Aktionsforum Männer und Leben haben wir im Zeitraum 2005 bis 2016 sechs Impulstagungen in Frankfurt organisiert. Ein weiterer Kollege, den ich über die Arbeit in der Fachgruppe Väter des Bundesforum Männer kennen und schätzen gelernt habe, ist Holger Strenz aus Dresden. Er hat mir Zugänge zu den Anliegen und Sichtweisen von Vätern in den »neuen« Bundesländern eröffnet.

Was hat die Männer/* ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast?
Diese Kollegen hatten ebenfalls Interesse daran, Anliegen von Vätern voranzubringen, Väter zu ermutigen und sie bei ihrem Vatersein zu unterstützen – und weniger daran, sich damit selbst zu profilieren und in den Vordergrund zu stellen.

Hast du eine Lebensphilosophie, ggf. ein Lebensmotto?
Es ist immer besser, mehr als zwei Möglichkeiten zu haben.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis vom Umgang mit Väterthemen?
Die größten Widerstände sehe ich für mich in einer nach wie vor »mütterzentrierten« Familienpolitik, die die Bedeutung von Vätern für die Entwicklung von Kindern nicht sieht oder sogar leugnet. Dies fängt bei der Anerkennung der Vaterschaft an und hört bei der Erwerbsobliegenheit beim Unterhalt noch lange nicht auf.
Dieser «Mindset« erschwert es Vätern (und Müttern), gleichberechtigte und geschlechtergerechte Vaterschaft nicht nur zu wollen, sondern auch zu leben.

Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deiner Arbeit an?
Mein (fast) unerschütterlicher Optimismus und die Erfolge, die ich im Rückblick auf über 25 Jahre doch beschreiben kann.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest? Und was möchtest du gegen Ende deines Lebens erreicht haben?
Mit meinen gut 66 Jahren bin ich ja schon in der »Verlängerung«, um die laufenden Projekte gemeinsam mit den Kollegen gut abzuschließen. Ich kann mir gut vorstellen, im Anschluss daran gemeinsam mit Vätern in und aus prekären Lebenslagen in einem Projekt Wege und Möglichkeiten zu erkunden, wie Vaterschaft auch unter widrigen Umständen gelingen kann. Und ja, zufrieden bin ich, wenn paritätische Elternzeiten als Katalysator für eine gleichmäßige Aufteilung von Mental Load und Financial Load wirken, Care und Erwerbsarbeit also geschlechtergerecht aufgeteilt sind bzw. aufgeteilt werden können.

 
 

 
 
 
 
 
:: Hans-Georg Nelles, Vater von drei erwachsenen Kindern und vier Enkelkindern, ist Sozialwissen¬schaftler, Erwachsenenbildner und systemischer Organisationsberater. Seit 1998 ist er beruflich im Themenfeld »Vereinbarkeit von Beruf und Familie« engagiert. Seit 2008 als Organisationsberater und Autor mit Väter & Karriere freiberuflich und ab Juli 2018 auch als Väterexperte für den SKM Bundesverband e.V. und als Vorsitzender der LAG Väterarbeit NRW tätig. Außerdem ist er Autor des Vaeter.Blog und twittert unter @Vaeter.