Am Ende nur Endlichkeiten?

War das schon alles? Hatten wir nicht so viel vor in unserem Leben? Also noch mal in die Hände spucken und den Turbo starten, oder vielmehr auf die Bremse treten und lockerlassen? Oder beides parallel?

vier Männer stehen vor einem Sternenhimmel

Text: Frank Keil und Alexander Bentheim
Foto: Kendall Hoopes, pexels.com

 
Seit zehn Jahren gibt es die MännerWege jetzt online; eine lange Zeit seit dem Juni 2015. Unser Jubiläum können wir nur nicht mehr in unseren langjährigen Redaktionsräumen begehen, Eigenbedarf und eine fehlende Feuerleiter waren offizielle Stichworte, und so hat die Vertreibung aus unserem kleinen Paradies in der Hamburger Schanze vor einigen Monaten das Nachdenken über Endlichkeiten angestoßen.
Endlichkeiten sind mal traurige Endgültigkeiten, mal schmerzhafte Zäsuren, manchmal aber auch verheißungsvolle Neuanfänge oder gar die Erfüllung sehnsüchtiger Erwartungen – es gibt viele Betrachtungen. In unserem Fall: nein, wir denken nicht ans Aufhören, wie schon gemutmaßt wurde. Eher ist es ein Innehalten, um frischen Impulsen und neuen Pfaden die Fenster zu öffnen. So lässt sich ja auch jubilieren.

Wir haben unsere Autoren und Autorinnen daher auch um je ihre Betrachtungen zum weiten Feld der »Endlichkeiten« gebeten, in die sich, was nicht verwundert, auch einige Unendlichkeiten mischten. Ob in Gedichtform, als abstrakte Analyse oder intime Lebensbeichte – alles war möglich und erwünscht. Nun entlassen wir die Beiträge nach und nach in die Welt, auf dass sie ihre Resonanzen finden mögen.

Was erwartet euch? Ein Mann hat zu seinem Song gefunden. Demenz oder Schlaganfall, fragt ein anderer, während wieder einer den Gürtel seines Regenmantels fester zieht. Der nächste findet Bilder zum Abschied nehmen; in Grußweite steht ein Fahrrad. Noch einer schreibt Tagebuch und liest vor allem darin! Und ein Fotograf hört auf zu fotografieren, spricht aber über gute Zeiten. Darum geht es, und um noch viel mehr.

Wir wünschen eine anregende Lektüre und gute Gedanken!

 
In diesem Themenschwerpunkt erschienen:
:: Georg Paaßen, Mein leben ist endlich
:: Bernhard Stier, Nachdenken über die »Endlichkeit«
:: Marc Melcher, Love me Gender
:: Georg Schierling, Die Endlichkeit im Bild
:: Christoph Rommel, Werner und die Angst vor dem Tod
:: Ralf Ruhl, Endlichkeit, 1
:: Ralf Ruhl, Endlichkeit, 2
:: Ralf Ruhl, Endlichkeit, 3
:: Ralf Ruhl, Endlichkeit, 4
:: Ralf Ruhl, Endlichkeit, 5
:: Tom Focke, Später ist es irgendwann zu spät
:: Martin Verlinden, Momente der Leichtfüßigkeit
:: Holger Barth, Ein gutes Ende finden!
:: Frank Keil, »Aufhören – ja, warum denn nicht?«
:: Martin Verlinden, Zeit und Vertrauen tief fühlen
:: Alexander Bentheim, Endlichkeiten als Wegmarken
:: Guido Wiermann, Ein Tag auf dem Rad mit der Endlichkeit

Alle Beiträge mit weiteren Illustrationen gibt es in einem gemeinsamen PDF zum Download.

Männliche Teilnehmer für sprachtherapeutische Studie gesucht

Untersuchung zur Entwicklung diagnostischer Verfahren in einfacher Sprache und über visuelle Mittel für Menschen mit Sprachproblemen.

ein Mann mit Sonnenbrille sitzt an einem Computer

Text: Alexander Bentheim (Redaktion)
Foto: Mikhail Nilov, pexels.com


Für eine Promotion im Bereich der Sprachtherapie und Psychologie an der Universität Bielefeld führt Louise Nagel-Held aktuell eine Studie zur Erfassung negativer Befindlichkeiten durch, für die sie dringend noch sprachlich gesunde männliche Teilnehmer sucht, weil aktuell ein sehr großes Ungleichgewicht hinsichtlich der Geschlechterverteilung innerhalb der Stichprobe vorliegt. Zum Verständnis und Hintergrund: eine Beeinträchtigung der sprachlichen Gesundheit bezieht sich auf Störungen, die beispielsweise durch einen Schlaganfall ausgelöst werden können und dann z.B. die Wortfindung und/oder das Sprachverständnis betreffen. Stottern, lispeln, Aussprachestörungen etc. gehören ausdrücklich nicht dazu! Insofern kann fast jeder Mann an der Studie teilnehmen; als Teilnahmevoraussetzungen gelten nur Deutsch als Erst-/Muttersprache und ein Mindestalter von 16 Jahren.

Es handelt sich um eine Vorstudie zur Entwicklung diagnostischer Verfahren in einfacher Sprache oder über visuelle Mittel für Menschen mit Sprachproblemen, zum Beispiel im Rahmen einer Aphasie nach Schlaganfall. Die an der Befragung Teilnehmenden können dabei helfen, ein zuverlässiges Verfahren zu entwickeln, mit dessen Hilfe Menschen mit einer Sprachstörung (Aphasie) zu ihrer Befindlichkeit befragt werden können. In der Studie wird untersucht, inwiefern der Fragebogen zur Patientengesundheit (Patient Health Questionnaire PHQ) mit einer sprachlich vereinfachten Version desselben Fragebogens vergleichbar ist. Außerdem wird untersucht, inwiefern Zeichnungen die Symptome einer depressiven Verstimmung messen können.

Die Umfrage kann online ausgefüllt werden, dauert ungefähr 10-15 Minuten und erfolgt anonym. Die Studie ist leider nur auf einem Computer/Tablet durchführbar, weil die Antwortmöglichkeiten auf Mobilgeräten teilweise nicht mehr richtig zugeordnet sind.

Weitere Infos und einen Kontakt für Rückfragen gibt es im Vortext zur online-Befragung, die bis einschließlich 26. Mai hier abrufbar ist:

https://ww3.unipark.de/uc/nagel-held_Universit__t_Bielefel/dcd9/

Bundesverband Männertrauer

Eine bestehende Lücke schließen, um trauernde Männer in unserer Gesellschaft besser zu unterstützen.

Mann sitzt am unteren Ende einer Treppe

Text: Martin Kreuels
Foto: sol-b, photocase.de

 
Wann, wenn nicht jetzt?!? In einer Welt, in der autoritäre Männer die Weltordnung neu und laut zu sortieren versuchen, gibt es auch eine stille, schnell zu überhörende Seite. Eine Bewegung ist es nicht, eher eine Wandlung, eine Veränderung, die sich dafür interessiert, was in uns Männern geschieht, wo wir vielleicht Schwächen haben, warum es uns manchmal nicht gut geht. Das Besondere: Diese Männer fangen an, es endlich und vernehmbar auch zu äußern …

Zum Beitrag

An einem Morgen im Frühling

Lars und Tim albern auf dem Dach herum, Nicole fotografiert.

zwei lachende Männer

Text: Alexander Bentheim
Foto: Nicole | Tim Trzoska
Reihe »Bilder und ihre Geschichte«


Ich mag dieses Bild. Sehr. Als Kollege bei der Bildagentur photocase, die es seit Ende letzten Jahres nicht mehr gibt (aber das ist eine andere Geschichte) hatte Tim dort viele feinste Bilder, meist schwarzweiß, Berliner Hinterhöfe zum Beispiel oder Menschen in seiner Gegend oder Detailaufnahmen in Lost Places oder einfach nur er zusammen mit seinem Kater.
Zum Bild für diese Reihe schrieb Tim: »Klar möchte das Foto gezeigt werden … Das sind Lars und ich nach ner Flasche Rotwein auf dem Dach beim ersten schönen Tag im Frühling. Fotografiert hat das meine Freundin Nicole. Liebe Grüße«.
Kurz und knapp, das war’s. Gerne hätte ich mehr erfahren zu dieser Freundschaft, die eine so selbstverständliche Leichtigkeit und vertraute Nähe zu begleiten scheint. Aber zwei Nachfragen blieben bis heute unbeantwortet, vielleicht ein abgeschmierter Rechner, eine lange Reise, eine neue Adresse – wer weiß … Danke Tim, Nicole und Lars für das Teilen dieses Moments!

Mehr von Tim gibt es hier, samt einer schönen Beschreibung seiner Arbeiten durch Angela Obst auch hier sowie in seinem YouTube-Kanal.


Und mehr aus der Reihe »Bilder und ihre Geschichte« ist im Archiv zu finden.

Weglaufen klappt nicht

Jugendroman rund um die Themen Probleme, Ärger, prekäre Lebensverhältnisse, Laufen und Verantwortung.

Ein Junge läuft über eine Wiese

Text: Ralf Ruhl
Foto: spudnique, photocase.de

 
Rennen. Das kann Jay. Denn er rennt immer wieder weg. Vor allem vor seiner allein- aber nicht erziehenden Mutter. Die sitzt oder liegt meist auf dem Sofa, jammert und liest Liebesromane. Kriegt ihr Leben nicht auf die Reihe. Jays Vater ist in Valparaiso, genau, Südamerika oder so. Und sein Bruder Keno driftet in die Kriminalität ab, mit Sprayen, Schulschwänzen, Obdachlosigkeit. Ist das auch für Jay vorgezeichnet? Martina Wildner’s »Zu schnell für diese Welt« ist ein Jugendbuch der Extraklasse!

Zur Rezension

»Besser spät als nie und lieber erst einmal wenig als gar nichts.«

Hamburger Initiative für eine Schutzunterkunft für Männer und nicht-binäre Menschen, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind

Mann an einer Wand von hinten fotografiert

Text: Alexander Bentheim (Redaktion)
Foto: froodmat, photocase.de


Wichtiger Impuls: die Hamburger GRÜNEN haben es geschafft, Gelder für eine Schutzwohnung für Männer und nicht-binäre Menschen im Haushalt 2025/26 bereitzustellen. Für die Umsetzung eines geplant zweijährigen Modellprojektes mit drei Schutzplätzen wird die Sozialbehörde zuständig sein, voraussichtlich wird es eine Ausschreibung geben, auf die sich Träger bewerben können. Wie Adrian Hector, Abgeordneter der Hamburger Bürgerschaft und Sprecher für geschlechtliche Vielfalt bei den GRÜNEN, in seinem Instagram-Kanal mitteilt, wird zugleich das Beratungsangebot für Jungen und Männer gestärkt, die Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind. »Mehr als jedes vierte Opfer häuslicher Gewalt ist männlich: In absoluten Zahlen waren dies laut BKA-Bundeslagebild zur häuslichen Gewalt 28,9 Prozent im Jahr 2022. Insgesamt zeigten 69.471 Männer im Jahr 2022 eine erlebte Gewalttat im Bereich Partnerschaftsgewalt oder innerfamiliäre Gewalt an«, so Hector, und ergänzt: »Auch von Menschenhandel betroffene Männer und nicht-binäre Personen bedürfen des Schutzes«. Insgesamt gibt es nur wenige Schutzeinrichtungen für von Häuslicher Gewalt betroffene männliche Personen im Bundesgebiet (eine stets aktuelle Gesamtübersicht gibt es von der Bundesfach- und Koordinierungsstelle Männergewaltschutz) und in Hamburg fehlt bislang eine solche Schutzeinrichtung, sodass sich Schutzsuchende an Einrichtungen in anderen Bundesländern wenden müssen. Dem GRÜNEN-Vorhaben ist also maximaler Erfolg zu wünschen!

Die Fracht im Nacken

Dass es der Sohn einmal besser hat als der Vater, ist der Kern wie das Motiv unserer Wachstumsgesellschaft. Nur: was macht das mit den beiden?

LKW im Gegenlicht vor Sonnenuntergang

Text: Frank Keil
Foto: Magali Guimaraes, pexels.com

 
Männerbuch der Woche, 46te KW. – José Henrique Bortoluci erzählt in »Was von meinem Vater bleibt« nicht nur die Geschichte seines Lastwagen fahrenden Vaters und die Geschichte des neueren Brasiliens.

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Schau mal in den Himmel!

… denn da fliegt der Wolkenvogel, und der ist ein starkes Symbol für die Freundschaft zweier Jungen.

Ein Vogel am Himmel

Text: Ralf Ruhl
Foto: Alexander Bentheim

 
»Karle und der Wolkenvogel« von Johanna Fischer und Katharina Staar ist – als einer der beiden Freunde an Krebs erkrankt, in die Klinik muss und letztlich stirbt – ein sehr bewegendes Kinderbuch über Freundschaft, Krankheit, Tod und Trauer.

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»Das Eis der Traditionalisten begann zu schmelzen, wir konnten betroffenen Jungen Gesicht und Stimme geben.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Harry Friebel, Hamburg

junger Mann stützt den Kopf in die Hände

Interview und Redaktion: Alexander Bentheim
Fotos: cottonbro studio, pexels.com | privat

 
Über die Rezeption der Frauenforschung bin ich Mitte der 1980er Jahre zum Jungen- und Männerforscher geworden. Studierende regten mich im Sommersemester 1986 an, mit ihnen eine informelle Arbeitsgemeinschaft zum Thema »Geschlecht und Gesellschaft« an der Universität Hamburg zu generieren. Es war für mich ein Perspektivwechsel, von der empirisch-statistischen Erfassung der Geschlechtermerkmale hin zur Analyse individueller Biographien im Kontext des Strukturgebers Geschlecht.

Es folgten viele Lehrveranstaltungen an verschiedenen Hochschulen und Universitäten zum Themenbereich. Sehr interessierte mich der sozial-strukturelle Herstellungsprozess von dominanter Männlichkeit und unterworfener Weiblichkeit in der patriarchal organisierten Gesellschaft. Dieser Herstellungsprozess war – als ich ihn begriff – Stein des Anstoßes verstärkter Zuwendungen zum männlichen Lebenszusammenhang als Risiko (wurde und wird verschiedentlich mit dem Begriff »toxisch« bezeichnet). Zwei Bücher schrieb ich dazu in dieser anregungsreichen Lebens-, Forschens- und Unterrichtsphase: 1991 »Die Gewalt, die Männer macht« (Rowohlt) und 1995 »Der Mann, der Bettler« (Leske und Budrich). In den Klappentext des Buches von 1991 notierte ich: »Ich habe dieses Lese- und Handbuch zur Geschlechterfrage geschrieben, weil ich das Geschlechterverhältnis zwischen Mann und Frau permanent sehe, weil ich mich an dieser Normalität stoße, weil ich viel von gleichen Lebenschancen für Frau und Mann halte, weil ich mir Geschlechteremanzipation – als Befreiung von Mann und Frau aus diesem Gewaltverhältnis – vorstellen kann …«. Und angemerkt hatte ich in der Einleitung zum Buch von 1995: »Erziehung zur Männlichkeit soll hier einmal von ihrem Risiko her – nicht von ihren chancenreichen Möglichkeiten – gesehen werden … Männlichkeit hat in der Moderne nicht nur durch die feministische Kritik einen Prestigeverlust erfahren, sie hat sich in ihrer Sachzwangerstarrung und Verdinglichung zum Risiko Nr. 1 in der modernen Menschheitsgeschichte gemacht«. In beiden Büchern habe ich mich bemüht, die »Gewalt« (1991) der »gefallenen« (1995) Männer vorzustellen. Weil diese Kritik auch nicht folgenlos für mich war, habe ich mich ganz alltäglich einer Männergruppe – als Resonanzgruppe – angeschlossen. Ein drittes Buch in diesem Kontext mit Erwartungen an das Konstrukt des »neuen« Mannes wollte ich immer noch schreiben. Aber meine doch wachsende Skepsis über die Realitäten des »neuen« Mannes hinderte mich.

Anfang der Nuller Jahre dieses Jahrhunderts kam es dann für mich anders und noch aufregender: Ich nahm an einem Workshop der Initiativgruppe »Forum Männer in Theorie und Praxis der Geschlechterverhältnisse« in Berlin teil. Wow, das war eine engagierte Männergruppe, dieses Forum; wow, der Arbeits- und Lernzusammenhang in diesem Forum war elektrisierend und erleuchtend; wow, ich blieb für mehr als 10 Jahre Akteur in diesem sozial-räumlichen »Nest« der Selbstreflexion und Gesellschaftskritik. Ich lernte viel; gemeinsam gestalteten und veranstalteten wir Workshops über aktuelle Männer- und Männlichkeits-Themen.

Dabei berührte mich das Jungenthema zunehmend. Mehr zufällig hatte ich in einschlägigen Fachzeitschriften gelesen, dass Jungs – in vermeintlich typischer Weise – als aggressive Täter unverändert häufig in allerlei Gewaltexzesse involviert seien; dass Mädchen – in ebenso vermeintlich typischer Weise – hingegen unverändert häufig bestehende Aggressionen gegen sich selbst richteten. Ich hielt diese »Beton«-These geschlechtsspezifischer Reproduktion für eine missbräuchliche Anleihe an traditionalistischen Zirkeln. Daraus resultierten für mich allerlei Fragen. Parallel zum und inmitten der Gruppe des »Forum Männer« suchte ich nach Relevanzkriterien der Jungensozialisation und ihres selbstverletzenden Verhaltens. Ich fragte nach Sinn, nach Kontexten, nach biographischen Risikolagen der Männlichkeitssozialisation. Ich demontierte dabei in Zusammenarbeit mit Lehrer*innen, Psychotherapeuten*innen, Mediziner*innen und Psychiater*innen die Suggestionskraft traditioneller Geschlechterbilder: hier die junge Frau, zart und verletzlich, dort der junge Mann, kraftvoll und verletzend. Der – wirklichkeitswidrige – herrschende Diskurs zum geschlechtsspezifischen Selbstverletzen reproduzierte, wie in Stein gemeißelt, die Botschaft, dass Mädchen etwa zehnmal häufiger davon betroffen seien als Jungen. Der alarmierende Befund war jedoch: Immer mehr Jungs und junge Männer verletzen sich selbst. Ich schrieb ab Ende der Nuller Jahre mehr und mehr gegen den traditionalistischen Zeitgeist in relevanten Fachzeitschriften und Jugendberatungsstellen an. Dabei kam ich auf meine Erkenntnis der 1980er und 1990er Jahre über die »Gewalt« der »gefallenen« Männer zurück. In der traditionellen Lesart der Geschlechtersozialisation durfte oder sollte der Junge ja aggressiver Täter sein, keinesfalls aber autoaggressives Opfer seiner selbst. Nur: Jungs erfahren – wie Mädchen – Leid und Verletzung, und sie spüren zugleich die Erwartung, dass sie »coole« Jungs sein müssen, um »harte« Männer zu werden. Diese Erwartung ängstigt viele und sie bräuchten sozial entgegenkommende Bewältigungskonzepte – jenseits einer individualisierenden Selbstverletzung. Die Jugendarbeit müsste also sensibilisiert werden für das selbstverletzende Verhalten auch von Jungs! Dafür wäre mehr interdisziplinäre Forschung notwendig.

Als dann erstmals 2016 ein führender Jugendpsychiater im Kontext zu empirischen Befunden bei Jugendlichen mit einer Borderline-Störung schrieb: »… vergleicht man Mädchen und Jungen mit einer ähnlichen Belastung durch depressive Symptome, dann gibt es keinen Geschlechterunterschied«, da wackelte die Front der Traditionalisten kräftig; dieser Text stand in einer medizinisch-klinischen Leitlinie für Ärzte. Im Juli 2020 schrieb ich dann im aerzteblatt.de, »dass eine ins Absurde gesteigerte traditionelle Überlegenheitsmeinung der Jungen von sich selbst zwangsläufig durch die vorgefundene gesellschaftliche Wirklichkeit enttäuscht wird. Dies kann eine gravierende Irritation in Bezug auf Männlichkeit auslösen und damit eine (Selbst)Verletzungsoffenheit generieren. Eine mögliche Reaktion der Jungen auf diesen Verlust von (Männlichkeits)Gewissheiten ist das Selbstverletzende Verhalten – als letzte Kontrolle über den eigenen Körper«. Das Eis der Traditionalisten begann zu schmelzen, wir konnten den betroffenen Jungen Gesicht und Stimme geben. In vielen aktuellen Arbeiten zur Selbstverletzungsproblematik ist nur noch von einer statistischen Relation von 2:1 (Mädchen / Jungen) zu lesen.
Jungs versagen sich häufig »weiblich« etikettierte Symptome und Verhaltensweisen wie Niedergeschlagenheit, Kummer und Traurigkeit. Die Jungen »maskieren« dabei ihre Depressionen durch Risikoverhalten und Selbstverletzung; und die medizinischen wie therapeutischen Professionen sind primär geschult für »typisch weibliche« Depressionssignale. Es ist daher überhaupt nicht abwegig, anzunehmen, dass im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess ein zunehmend enger werdender Zusammenhang zwischen der Männlichkeitssozialisation einerseits und »sozialer Desorganisation« bzw. »Identitätsdiffusion« andererseits besteht. Die soziokulturelle Integration des Jungen in der Moderne scheint immer fragiler zu werden, wenn nicht …. und hier überlasse ich die Satzvollendung den Leser*innen.

Mittlerweile bin ich in einem anderen für mich wichtigen Arbeitsfeld angekommen. Einerseits wollte ich schon seit einigen Jahren ein Buch über meinen verstorbenen väterlichen Freund Franz von Hammerstein schreiben (er hatte sein ganzes Leben nach 1945 für NS-Erinnerungsarbeit und Versöhnung gearbeitet, und er hat mich als Arbeiterkind mit Hauptschulabschluss in den schulischen und hochschulischen Bildungsprozess gleichsam transformiert). Andererseits signalisierte mir seine Familie, dass es schon genug Schriften über ihn gäbe – sie also mein Buchprojekt nicht wollten. Das akzeptierte ich und führte mich zu dem Entschluss, ihn auch damit würdigen zu wollen, wenn ich verstärkt selbst in der NS-Erinnerungskultur arbeite. Das habe ich dann in meiner typisch selbstaktivierenden Art strategisch vollzogen: erst zum Thema viel zu lesen, dann viel zu diskutieren und danach viel zu schreiben. Jetzt gestalte ich mit Kollegen*innen in Hamburg, Bielefeld, Berlin und Oldenburg einen Forschungsverbund zu rassistischen und eugenischen Krankenmorden in der NS-Diktatur. Das wird meinem Franz im Himmel auf Wolke 7 sicher freuen und viele Verbrechen der Nationalsozialisten entdecken helfen. Wir folgen mit unserer Forschungsarbeit der Überzeugung: Das Vergessen der NS-Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst. Wir arbeiten gegen das Vergessen. Auch für diese antifaschistische Arbeit sind meine männlichkeitstheoretischen Einsichten von großem Belang.

 

 
 
 
 
 
:: Harry Friebel, Jg. 1943, Dr. phil., Professor an der Hochschule für Wirtschaft und Politik 1995-2005 und Professor für Soziologie an der Universität Hamburg 2006-2009. Forschungsschwerpunkte: Bildungs- und Sozialisationstheorie, Weiterbildung, Biographieforschung, Geschlechterverhältnisse, Gender- und Männerforschung und empirische Methoden. Kontakt: friebelh-projekte@mailbox.org

Schmerzgewinn

Was hat ein Junge davon, wenn es weh tut?

Narbe auf einer Hand

Text: Ralf Ruhl
Foto: Alexander Bentheim

 
»Die schönste Wunde« von Emma Adbåge ist ein großartiges Bilderbuch, das zeigt, wie ein Junge – und eine ganze Schulklasse – lernen kann, mit Schmerz und Verletzung umzugehen. Denn es gibt Trost, Aufmerksamkeit, und eine bleibende Erinnerung!

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