Wir waren viele, wir sind viele, noch

Hinter sich die Nachkriegsgeneration, vor sich die Millennials: Am Ende angekommen bemerken die Boomer mal erleichtert, mal bedrückt, dass sie auch nur eine Zwischengeneration waren und sind.

Text: Frank Keil
Foto: Archiv Ulrike Steinbrenner

 
Männerbuch der Woche, 11te KW. – Heinz Bude flaniert gekonnt in seinem schmalen wie reichen Buch »Abschied von den Boomern« durch unsere leicht vergangene Gegenwart.

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»Auch Opfer, selbstverständlich!«

Das bundesweite Männerhilfetelefon berät betroffene Männer zu Bewältigungs- und Handlungsmöglichkeiten nach Gewalterfahrungen.

Ausschnitt Gesicht alter Mann

Text: Thomas Gesterkamp
Redaktion: Alexander Bentheim
Foto: Ruben Jacob, photocase.de (Symbolbild)

 
Gewalt gegen Männer ist ein besonders heikles Thema in der geschlechterpolitischen Debatte. Antifeministische Maskulinisten greifen das Thema auf und stilisieren sich gern zum Opfer. Sie verharmlosen die Tatsache, dass im häuslichen Umfeld überwiegend Frauen die Leidtragenden sind. Umgekehrt war es lange ein Tabuthema, dass manche Männer ebenso gewaltbetroffen sein können. Ein Pilotprojekt in Ostwestfalen bietet ihnen seit knapp vier Jahren Hilfe an.

Zum Beitrag

»Schon das Ansprechen von Gefühlen, Problemen, Situationen kann oft der Ansatz für eine Lösung sein.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Michael Roth, Duisburg

Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Redaktion: Alexander Bentheim
Fotos: privat

 
Michael, was waren deine biografischen Zugänge zu Jungen-, Männer- und Väterthemen? Welche Themen waren damals und heute zentral in deiner Beschäftigung mit Jungen und Männern? Und wie hat sich dein Engagement entwickelt, ggf. verändert?
Als 15-jähriger Georgspfadfinder übernahm ich eine Juffi-Gruppe (Juffis werden die Jungpfadfinder genannt) mit ca. acht Jungen im Alter 10-12/13 Jahren; es war die Zeit der 1968er. Mit 16 wurde ich – als Nachfolger meines 5 Jahre älteren Bruders – zum sog. Stammesleiter einer (Vor)Ortsgruppe gewählt, den Posten hatte ich ca. fünf Jahre lang inne. Und mit 17 leitete ich ein Lager in der Eifel mit ca. 18 Jungen.
Mein Vater – 43 Jahre alt, als ich 1952 als jüngstes von drei Kindern geboren wurde (es gab neben dem Bruder noch eine knapp drei Jahre ältere Schwester) – war Modellbaumeister und hatte eine Schreinerei hinter unserem Wohnhaus. Nach meinem Bruder ging auch ich dort in die Lehre, weil es »so einfach« war und ich daher auch viel Zeit bei meinen Pfadfinderfreunden verbringen konnte.
Mein Vater war von ca. 1927 bis 1936 in der katholischen Jugend aktiv und erzählte uns Kindern einiges aus dieser Zeit, von seiner Jugendgruppe, den gemeinsamen Unternehmungen, Radtouren, Wanderungen, Zeltlagern und von Jugendkaplänen, mit denen sie Tischgottesdienste – Eucharistiefeiern im kleinen Kreis – feierten. Das hat uns Kinder geprägt. Ich übernahm die progressive, kritische Einstellung zur katholischen Kirche, war immer bemüht, das für die Menschen und für die Gemeinschaft Wichtige aus den »Lehren« der Kirche umzusetzen. Ich hatte das Glück, immer wieder Priester zu erleben, die auch offener dachten. Meine eigene junge Familie kehrte dann mit einigen anderen ehemaligen Pfadfindern der konservativen Ortsgemeinde den Rücken, denn wir fanden Gefallen an der kleinen Gemeinde in der Innenstadt, die von einem weltoffenen Karmeliterpater geleitet wurde. Über 20 Jahre lang war ich dort im Gemeinderat leitend tätig und konnte sogar meine Vorstellung von einer Gemeinde ohne amtliche priesterliche Leitung umsetzen.
Das Gemeinschaftliche, das gemeinsame Tun in der Gruppe, hatte mich auch angesteckt; seit der frühen Jugend war ich mit der »Arbeit« mit Jungen und Jugendlichen im Sinne einer steten Organisation des gemeinschaftlichen Zusammenseins »betraut«. Ich habe dann auch Leiterkurse besucht, mein Wissen mit etwas Pädagogik und Psychologie angereichert, und bis zum Alter von ca. 26 Jahren war ich in verschiedenen Stadtleitungen der DPSG-Jugendarbeit aktiv. Während meiner Zeit als Leiter veränderte sich die DPSG als Organisation stark: Aus dem Verband der »Waldläufer« wurde ein moderner Jugendverband, der gemeinschaftlich und sozial engagiert ist, und dessen selbständige Ortsgruppen den katholischen Kirchengemeinden nahe, aber nicht von ihnen abhängig sind. Noch einige Jahre später wurde aus dem Jungenverband ein koedukativer Verband.

Gab es für dich nachhaltige gesellschaftliche Ereignisse – auch für den Kontext deiner Arbeit und für deine privaten und beruflichen Beziehungen?
Das Zusammensein von Jungen/Männern und Mädchen/Frauen war für mich eine nachhaltige Erfahrung, ich lernte Gleichberechtigung im Miteinander. Das half mir im weiteren Leben: bei der Organisation von Aktionen z.B. im Umweltschutz, für den damals sog. »Dritte Welt«-Gedanken, hinsichtlich von fairem Handel oder für benachteiligte Menschen. Aber auch als Verliebter, als Ehemann, als Vater eines Sohnes und zweier Töchter sowie als Lehrmeister von drei Frauen und 27 Männern spielte die Erfahrung und Vermittlung von Gleichberechtigung eine wichtige Rolle.
Besonders das demokratische, gemeinschaftliche Handeln ist eine Erfahrung, die ich nicht missen will. Dabei war das Miteinander im Pfadfinderverband ein wichtiges Erfahrungsfeld, in dem ich auch meine kritische Haltung zu »Obrigkeiten«, besonders zu autoritären wie der katholischen Kirche, entwickelt habe.

Was hat die Männer/* ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast?
Zum 40sten Geburtstag schenkte mir ein Bekannter ein Männerbuch – den Titel weiß ich nicht mehr, aber das Lesen über Freiräume für Männer in der Ehe und über Männergruppen weckte eine neue Seite in mir. Ich war durch die vorhergehende Beratungsarbeit, mit der wir aus unserer ersten Ehekrise herausfanden, sensibilisiert. Zum 41sten im Kreis der Männergäste habe ich eine Männergruppe im westlichen Ruhrgebiet gegründet. Und bei den Gruppentreffen habe ich dann die Erfahrung gemacht, dass alleine schon das Ansprechen von Gefühlen, Problemen, Situationen oft der Ansatz für eine Lösung sein kann, dass die Sichtweisen und Reaktionen der anderen Männer etwas in mir und den Männern in Bewegung brachte.
Mit 47 Jahren – 1999 war das – habe ich an einem Männerseminar der evangelischen Kirche mit Richard Rohr teilgenommen; mein erster Kontakt zu »fremden« Männern und meine ersten Gespräche mit schwulen Männern.
2000 bin ich als Teilnehmer zu den bundesweiten Männertreffen gekommen, was in gewisser Weise spät war. Ich habe dort und in den späteren Männertreffen die Vielfalt der Männer, die sehr unterschiedlichen Bedingungen ihres Heranwachsens, ihrer jeweiligen Familiensituationen und von den Beziehungen der Männer zu ihren Vätern erfahren.
Das Jahr 2000 sollte auch mein Sabbatjahr werden; mit einem Mann aus der Männergruppe bin ich auf den »Spuren der Kaiser« (alter Krönungsweg) nach Rom geradelt. Drei Wochen enges Männerzusammenleben führte zu Erfahrungen, die ich schätzen gelernt habe: Vertrauen auf den Anderen, faire Auseinandersetzungen, Respekt, Nähe, Gemeinschaft.
Rückblickend denke ich: ohne die Erfahrungen mit Gruppen und Männern hätte ich keinen Freunde*innenkreis. Auch wären mir einige Dinge nicht gelungen: der Zusammenhalt in der Ehe mit der Entstehung einer 15-köpfigen »Sippe«, die Ausbildung von meist schon älteren bzw. volljährigen Azubis, die Gründung eines »Dritte Welt Ladens« sowie der langwierige Prozess der Umgestaltung der Gemeinde zu einer Gemeinschaft mit selbstbestimmender Leitung.

Hast du ein Lebensmotto?
Probieren geht über studieren – oder: Versuch macht klug.

Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und/oder Beziehungen zu anderen ausmachen?
Machen, Zuverlässigkeit, 80% Toleranz, Treue.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis vom Umgang mit Jungen-, Männer- und Väterthemen?
Im Orga-Team zur Vorbereitung der Männertreffen habe ich Erfahrungen mit dem Ausdiskutieren von Argumenten über die Konsensfindung bis hin zu einstimmigen Entscheidungen gemacht. Ich denke, nach dieser Erfahrung, dass in unserer Gesellschaft heute zu oft fehlt: andere zur wirklichen AUS-Sprache kommen zu lassen, einander zuhören, nachfragen, Gemeinsamkeiten und Verbindendes suchen – was bedeutet, sich auch immer wieder auf andere Menschen einzulassen und ihr »Sosein« zu respektieren.
Die immer noch vorherrschende männliche Macht in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft beeinflusst unser Denken. Ich erlebe jetzt im Alter, dass sich bei den Männern eine Teilung auftut: die einen werden sensibler, weicher, einfühlsamer, andere bleiben »Indianer«, »Männer wie wir«, hinter ihren uralten Mauern.
Da unser Leben auf Gemeinschaft, auch Partnerschaft angelegt ist, habe ich meiner Frau und Partnerin viel in meiner Reifung zu verdanken. Sie hat mir immer wieder mein Verhalten gespiegelt. Oft habe ich das zunächst »hart« empfunden, aber in der Reflexion später annehmen können – zumal mich meine Partnerin besonders in meinen schweren Zeiten unterstützt hat.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest? Und was möchtest du gegen Ende deines Lebens erreicht haben?
Im letzten Lebensdrittel erfolgt für mich die »Kür«: nachdem im ersten Drittel das Lernen dran war, im zweiten Drittel die Arbeit, die Familie und das Wirtschaften (und meine Frau trug die Hauptlasten in der Familie einschließlich der Kinder), will ich nun mehr mittragen, auch mehr mitgestalten an einer friedlichen Welt. Nach 45 Ehejahren mit meiner Frau Ingrid sind unsere drei Kinder und sieben Enkelkinder zugleich Baustellen und Genuss in dieser Welt. Sie haben unsere volle Unterstützung, solange wir können und sie uns anfordern. Das heißt für mich »allzeit bereit« und »look to the kids« – alte Pfadfinder-Sätze bleiben aktuell.
Und in einem Teil der dann noch verbleibenden »freien Zeit« sorge ich als Mitarbeiter im ADFC mit für ein fahrradfreundliches und sicheres Duisburg – mein Beitrag zum besseren Klima und zur Mobilität der Nachkommen.

ps. Mittlerweile weiß ich wieder, welches Männerbuch mir geschenkt wurde – es war Sam Keen’s »Feuer im Bauch« …

 
 

 
 
 
 
 
:: Michael Roth, geb. 1952 in Duisburg und immer dort geblieben, geprägt vom Dreiereck Pott, Niederrhein und dem Bergischem. Nach Realschule Modellbauer-Handwerk (Gießerei) erlernt. Als Tischlermeister die Werkstatt meines Vaters übernommen und über 30 Tischler:innen ausgebildet. Jungen und Männerarbeit in der DPSG. Männergruppe gegründet, Teilnehmer an einigen Männertreffen. Über 20 Jahre Vorstand im Gemeinderat einer überörtlichen katholischen Gemeinde.

Wandernd durch das Trauertal

Aufschreiben, was ist. Beschreiben, was war, wie es vielleicht wieder sein könnte, auch wenn es nie wieder so sein wird – das ist eine wahre Herausforderung.

Spiegelung eines Baumes mit Herbstblättern im Wasser

Text: Frank Keil
Foto: derProjektor, photocase.de

 
Männerbuch der Woche, 7te KW. – Elke Naters erzählt in ihrem Protokollroman »Alles ist gut, bis es dann nicht mehr gut ist« nach dem Tod ihres Mannes, wie es wieder annehmbar wird, auch weil die Trauer und der bleibende Verlust zu dem gehören, was man so leichthin wie unbedarft »das Leben« nennt.

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Wenn David nur noch Jude ist

Wer anders ist, das bestimmen die anderen. Das muss der 13-jährige David erfahren, als er sich eher zufällig als Jude outet. Chaos, Liebe, Gewalt, Verrat und Freundschaft – dieser Roman hat alle Zutaten, die ein gutes Jugendbuch braucht. Ein gutes? Mehr als das!

Jugendlicher mit Pfeife hinterm Haus

Text: Ralf Ruhl
Foto: norndara, photocase.de (Symbolbild)

 
David ist Jude. Weiß aber keiner. Also seine Eltern und seine Schwester natürlich, aber niemand in der Schule. Sieht man ja auch niemandem an, ob er arm ist, Krebs hat, gut in Mathe ist oder eben Jude ist. Das will David auch so. Er will nicht angeglotzt werden, angesprochen auf etwas, das für ihn völlig normal und somit gar nicht so wichtig ist, nicht angefeindet werden – und vor allem will er nicht allein sein. Sondern dazugehören. Wie alle pubertierenden Jungen … Danny Wattin’s »Davids Dilemma« ist das Beste, das ich seit Jahren zum Thema Antisemitismus gelesen habe!

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Trauer in Venedig

Was, wenn einem klar wird, dass das eigene Leben endlich ist und das der heutigen Welt noch dazu? Oder hat das nichts miteinander zu tun?

Venedig am Abend mit Gondeln

Text: Frank Keil
Foto: 50Centimos, photocase.de

 
Männerbuch der Woche, 4te KW. – Daniel Schreiber widmet sich in seinem Essay »Die Zeit der Verluste« so gekonnt wie berührend dem Zusammenspiel wie Gegensatz von privater und gesellschaftlicher Trauer.

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»Wirksame Änderungen brauchen einen langen Atem und viel Geduld.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Uwe Sielert, Kiel

zwei Junge Männer am Strand

Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: benicce, photocase.de | privat

 
Was war oder ist dein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen- und Männerthemen? Was dein politisch-thematischer Zugang?
Als Jugendlicher sozialisiert im Christlichen Verein junger Männer (CVJM – heute steht das »M« für Menschen) und als Student der Erziehungswissenschaft (1970-1974) kam ich während des Studiums angesichts der Beschäftigung mit kritischer Sozialisationstheorie gar nicht um die Geschlechterfrage herum. Ohnehin war ich fasziniert davon, zusammen mit Gleichgesinnten das theoretisch-analytische Handwerkszeug selbstreflexiv in gruppendynamischen Settings ausführlich auf die eigene Biografie zu beziehen. »Das Persönliche ist politisch und das Politische ist persönlich« lernten wir aus der feministischen Kritik am Patriarchat, die Notwendigkeit der solidarischen Veränderung (Bloch: »Ich bin, aber ich habe mich nicht, darum werden wir erst«) aus der marxistischen Philosophie, und die didaktische Umsetzung mit Hilfe der »dynamischen Balance von Ich – Gruppe – Thema im Globe« von Ruth Cohn aus der Themenzentrierten Interaktion (TZI). Soweit die Theorie und mein politisch-thematischer Zugang.
Im eigenen Gefühlsleben und Verhalten sah das dann nicht immer so gradlinig und klar aus. Der »stumme Zwang der Verhältnisse« produzierte zuhauf blinde Flecken im Bewusstsein des eigenen Männlichkeitsbilds und Geschlechterverhaltens. Das beobachtete Hin und Her der Selbstbilder der Jungen im Jugendzentrum zwischen »Hilfe, ich kann nicht« und »Ich bin der Größte« existierte auch bei uns Studierenden, ganz besonders bei mir, der den Kulturclash zwischen dem CVJM und dem polyamoren Marxismus eines damals kurze Zeit in Dortmund lehrenden Dieter Duhm (»Angst im Kapitalismus«) zu bewältigen versuchte. Immerhin wusste ich von Letzterem, dass auch er beim CVJM angefangen hatte, linker Aktivist und Hochschuldozent wurde, bevor er der akademischen Karriere den Rücken kehrte und ins experimentelle Weltverbesserungsmilieu eintauchte. Welt und Menschen mit jesuanischem Eifer verbessern wollte ich damals auch, nicht besonders revolutionär, eher in pädagogischer Theorie und Praxis, und mich dem »Marsch durch die Institutionen« anschließen. Nach einem Forschungsaufenthalt in den Niederlanden folgten kleinere alternative Projektgründungen und das Mittun an der beginnenden Jungen- und Männerarbeit: Vorhandenes zusammenstellen, systematisieren und vor allem in didaktischer Hinsicht weiterentwickeln.

Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen und Männern?
Mich beschäftigten [1] die Differenz und die Ähnlichkeiten zwischen dem »Prinzip Männlichkeit« und mir selbst wie auch anderen Männern, [2] Jungen- und Männersexualität, [3] die bisherige und weitergehende Entwicklung von Jungenarbeit mit ihren jeweils unterschiedlichen Akzenten (feministisch, antikapitalistisch, antisexistisch, reflektiert, gendersensibel …), und [4] vor allem die Frage, was den konkreten Jungen und Männern in den »Sozialisationsagenturen« (wie es damals kritisch-technizistisch hieß) didaktisch Hilfreiches angeboten werden kann. Seminare, Fortbildungen, Vorträge, Veröffentlichungen waren die Medien, die mir in der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften und Diplompädagog*innen zur Verfügung standen.

Wie hat sich dein Engagement für Jungen und Männer entwickelt, ggf. verändert?
Das Gender-Sternchen in der letzten Zeile deutet es schon an: Das Interesse an der Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Diskurse und vor allem die Einarbeitung in die Sexualwissenschaft und Spezialisierung auf Sexualpädagogik führten zur generellen Öffnung meines geschlechtsbewussten Blicks auf Jungen hin zu einer Sexual- und Genderpädagogik der Vielfalt. Meine Vision selbstbestimmterer, emanzipativer Menschen sah ich zunächst in der Erweiterung der Entwicklungsmöglichkeiten von Jungen innerhalb ihrer Geschlechtlichkeit und später in der Entdramatisierung der Geschlechtskategorie überhaupt. Es begann die Suche nach vielen anderen Identitätsankern und vor allem die Möglichkeit fluider Selbstdefinitionen, um aus der Tatsache, dass wir als Jungen und Männer (auch) »gemacht werden«, das »doing gender« zu vervielfältigen und pädagogisch zu begleiten.

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche/historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Schon immer war mir bewusst, dass Jungen und Männer Probleme machen und Probleme haben. Meine Probevorlesung für die Pädagogikprofessur in Kiel lautete beispielsweise »Halt suchen auf schwankendem Boden: Männlichkeit als soziales Problem«. Die erschreckenden Ausmaße männlicher Gewaltausübung waren schon immer unübersehbar, die Ausmaße sexualisierter Gewalt an Mädchen und Jungen, die in Wellen öffentlich wurden, verstörten deutlich mein Blick auf Männlichkeit und alle bisherigen Theorien und Konzepte geschlechtsbewusster Arbeit. Mir wurde schlagartig bewusst, dass die kollektiven Traumata von Gewalterfahrungen und der aktuell immer noch ausgeübte »Missbrauch« von Kindern sowie sexuelle Grenzüberschreitungen aller Art heftig wirksam sind. Die eingeschlagenen Wege der Arbeit an männlicher Gewalt und ebenso vorhandener Bedürftigkeit wurden deshalb ja nicht hinfällig, kratzten aber nur oberflächlich am männlichen Sozialisationsmodus mit seinen toxischen Auswirkungen. Und dennoch blieb ich immer skeptisch gegenüber rein antisexistischen Programmen und einer Konzentration auf Gefahrenabwehr.

Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deinen privaten und/oder beruflichen Beziehungen?
Ich habe die Geburt meiner beiden Söhne und meiner Tochter als Vater sehr bewusst miterlebt und meine beruflichen Tätigkeiten boten mir potentiell viele Freiräume, eine entscheidende Wegstrecke mit ihnen gemeinsam zu gehen. Ich denke, dass mir das auch weitgehend gelungen ist, wenn ich die gegenwärtige Beziehung zu den erwachsenen Kindern richtig deute. Und dennoch machen mir gelegentliche Konflikte und Rückmeldungen deutlich, wie selten mir gelungen ist, die hohen Ansprüche des beruflichen Wissens über Jungen im persönlichen Alltag zu leben. Ich hätte im kontinuierlichen Kontakt viel mehr geben und bekommen können. Ganz besonders in der Trauer um meinen mit 30 Jahren tödlich verunglückten Sohn ist mir das schmerzlich zu Bewusstsein gekommen. Auch für mich gilt also: Wirksame Änderungen brauchen einen langen Atem und viel Geduld.

Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und/oder Beziehungen zu anderen ausmachen?
Herausfordernd, selbstkritisch-ehrlich und eine bleibende Angst vor Zurückweisung.

Was ist für dich »Erfolg« in deiner Auseinandersetzung mit Jungen- und Männerthemen? Hast du Beispiele?
Im Anschluss an meinen Probevortrag zur »Männlichkeit als soziales Problem« beantragte der tonangebende, kurz vor der Pensionierung stehende Pädagoge des Instituts halb ironisch einen Männerbeauftragten für die Universität Kiel. Meine Seminare im Studium und in Fortbildungen bei diversen Trägern waren immer gut besucht und manche Männer versichern mir heute noch, wichtige Impulse für die eigene Person und Arbeit bekommen zu haben.

Was gibt dir persönlich Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen?
Dichter und ausführlicher Kontakt auf einem gemeinsamen Weg: sich selbst und andere ganzheitlich spüren beim lustvollen Imaginieren, Streiten, Leiden, Arbeiten, Tanzen und Ruhen sowie auch einsame Geistesblitze und körperliches Ausgepowertsein.

Was ist dir (mit) gelungen, worauf bist du (zusammen mit anderen) vielleicht auch stolz?
Die Erarbeitung und Veröffentlichung meines ersten Buchs »Jungenarbeit« und die ausführlichen Diskussionen dazu mit meinen damaligen Student*innen und anderen bewegten Männern. Die Einführung des Themas »Jungen- und Männersexualität« bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und zusammen mit spannenden Aktivisten der Aids-Hilfe während meiner Mitarbeit an der personalkommunikativen HIV-Präventionskampagne. Und die Berücksichtigung des Gender-Themas bei allen sexualpädagogischen Weiterbildungen der Sexualpädagogik.

Mit welchen Institutionen und Personen warst du gerne beruflich oder privat verbunden oder bist es noch?
Mit den Einrichtungen, die aus meinem sexualpädagogischen Engagement – immer im lustvollen Arbeitsprozess mit anderen – hervorgegangenen sind: dem Institut und der Gesellschaft für Sexualpädagogik und vielen vor allem ehemals, manchmal immer noch dort aktiven Freundinnen und Freunden. Stellvertretend für viele möchte ich meinen langjährigen Freund Frank Herrath hervorheben, mit dem ich viele Wegstrecken gemeinsam zurückgelegt habe. Viele meiner eigenen älteren Lehrer und Tutoren sind inzwischen leider verstorben. Nennen möchte ich auch hier stellvertretend nur meine langjährigen Freunde und inspirierenden Lehrer Konrad Pfaff und Siegfried Keil, die für mich sehr unterschiedliche Beispiele für positiv gelebte Männlichkeit waren: der eine theoretisch kreativ, expressiv und fröhliche Wissenschaft treibend, der andere achtsam, integrativ und langfristig gesellschaftlich engagiert.

Was hat die Männer/* ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast?
Mich haben ihre Botschaften und Haltungen, ihr Biss beim Denken und Handeln angelockt und begeistert sowie die Einladung zum Mitmachen und die Bereitschaft, an einer gemeinsamen Mission wechselseitig inspirierend und wertschätzend zu arbeiten.

Hast du eine Lebensphilosophie, ggf. ein Lebensmotto?
Lange fand ich den Kanon albern, den mein Vater trotz schrecklicher Erfahrungen im Krieg und in der Kriegsgefangenschaft in seiner christlichen Gemeindearbeit am liebsten mit anderen gesungen hat: »Der hat sein Leben am besten verbracht, der die meisten Menschen hat froh gemacht«. Doch inzwischen habe ich den Kern seiner Erfahrungen im Auf und Ab seines entbehrungsreichen Lebens nachvollzogen: sich in Resonanz mit anderen auf das Verbindende, Gelungene und Stärkende zu konzentrieren.

Wo siehst du Brüche in deinen beruflichen oder freundschaftlichen Beziehungen?
Im persönlichen Liebesleben gab es einige davon, weil die Spannung zwischen dem eigenen Begehren und der persönlichen Weiterentwicklung oft in Konflikt geriet mit dem ebenso geschätzten Festhalten am Erreichten, einschließlich versprochener Beziehungstreue. Beruflich waren es weniger Brüche als Widerstände bei der gesellschaftlichen Resonanz meines sexualpädagogischen Engagements.

Wodurch wurden diese verursacht?
Die Herausforderung konservativ-dogmatischer Gruppierungen durch meine Dekonstruktion heteronormativer Lebensvorstellungen und das Eintreten für das Recht auf altersangemessene Sexualität von Anfang an führte zu gelegentlichen persönlichen Anfeindungen, die mir manche schlaflose Nacht beschieden haben.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis vom Umgang mit Jungen- und Männerthemen?
Aus der feministische Szene spürte und spüre ich immer noch Misstrauen gegenüber einer positiven Sexualkultur, die sich nicht allein auf Gefahrenabwehr beschränkt, sondern das Recht von Jungen und Männern auf sexuelle Bildung einschließt. Da nutzen keine empirischen Hinweise auf den Mangel an sexualpädagogischer Arbeit mit Jungen als sinnvolle Gewaltprävention. Als auch der Missbrauch von Jungen in pädagogischen Organisationen bekannt wurde, wurde die Tatsache allein, dass ich mich pädagogisch mit Jungenarbeit beschäftigt habe, von einer böswilligen Journalistin in den Kontext der Missbrauchsdiskussion gestellt.

Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deinem Engagement an?
Ich glaube trotz aller Skepsis gegenüber wissenschaftlicher Arbeit, dass es auch beim Genderthema darauf ankommt, »die Sachen zu klären und die Menschen zu stärken«. Beides tut allen gut, unabhängig von geschlechtlicher Selbstdefinition oder gesellschaftlicher Zuschreibung. Und inzwischen habe sogar ich (der Zurückweisung immer noch gern aus dem Weg geht) gelernt, in wichtigen Konflikten Position zu beziehen und auch schmerzliche Widerstände auszuhalten.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest?
Selbstreflexiv zu erkunden, warum die Jungen- und Männerthemen in den letzten Jahren nicht mehr so sehr im Fokus meiner persönlichen und wissenschaftlichen Neugier gestanden haben. Die Beantwortung dieser Fragen war ein Anfang dazu.

Und was möchtest du gegen Ende deines Lebens erreicht haben?
Mit mir und meinem Leben «im Reinen sein«, wie es so schön heißt. Rückblicke auf Aufarbeitungen sind dazu ein gangbarer Weg.

Eine nicht gestellte Frage, die du aber dennoch gerne beantworten möchtest?
Nö – aber danke für die vielen Impulse!

 
 

 
 
 
 
:: Uwe Sielert, Jg. 1949, emeritierter Professor für Sozialpädagogik am Institut für Pädagogik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Diplom, Promotion und Habilitation in Erziehungswissenschaft. Diplom in Themenzentrierter Interaktion nach Ruth Cohn bei WILL International. Berufliche Stationen: Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Dortmund, Gastdozent an der Vrije Universiteit Amsterdam, Mitarbeiter der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in Köln, seit 1992 Professor für Sozialpädagogik am Institut für Pädagogik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungs- und Lehrschwerpunkte mit einschlägigen Veröffentlichungen in den Bereichen sozialpädagogische Aus- und Fortbildungsdidaktik, Sexualerziehung und Geschlechterpädagogik sowie Pädagogik der Vielfalt. Schwerpunkt im Masterstudiengang Pädagogik »Diversity and Management in Education«. Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Sexualpädagogik. – Kontakt: www.uwe-sielert.de.

Papa-Lese-Liste | Update Januar 2024

Neue – und letzte – Ausgabe der Lese- und Medienempfehlungen für Väter und Großväter

Vater und Sohn betrachten ein Bilderbuch

Text: Alexander Bentheim
Foto: behrchen, photocase.de

 
Nach über 20 Jahren Arbeit an der Papa-Lese-Liste – zusammen mit einem literarischen Kompetenzteam – gibt es nun die letzte Ausgabe vom Hildener Vater, Großvater, Rezensenten, Vorleser und 2018 auch mit dem Deutschen Lesepreis ausgezeichneten Christian Meyn-Schwarze. Die letzte Ausgabe deshalb, weil Christian zukünftig wieder mehr mit seinem Mitmach-Zirkus unterwegs ist, in Bibliotheken vorlesen, in Kindertagesstätten mit Vätern und Kindern spielen und sein ausfüllendes Opa-Leben genießen will.
Zuvor aber werden auf gut 180 Seiten – mit Stand Dezember 2023 – noch einmal zahlreiche lieferbare oder antiquarisch auffindbare Bücher und andere Medien vorgestellt, in denen aktive Väter, Großväter, soziale Väter dominant vertreten sind.

Zu seiner Motivation, diese Bücher zu sammeln und für die Papa-Lese-Liste kontinuierlich aufzubereiten, berichtete Christian umfänglich in einem früheren Beitrag. Nach wie vor gilt, dass die Liste keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt und die Auswahl und Bewertung subjektiv und zum Teil auch sehr persönlich sind. Gleichwohl lädt sie zum ausgiebigen Stöbern ein und können alle Bücher für Väter-Kinder-Veranstaltungen, Tagungen, Fortbildungen und wissenschaftliche Zwecke gegen eine Versandkostenerstattung bei Christian auch ausgeliehen werden, Kontakt: meynschwarze@t-online.de.

Die aktuelle »Papa-Liste« als PDF herunterladen.

Danke, Christian, für dein langjähriges Engagement!

»Leidenschaftlich und zielstrebig in der Sache, aber auch vorsichtig, mit Rücksicht und behutsam.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Karl-Heinz Michels, Ruderting

Leitfragen: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos (Ipomea tricolor, Portrait): Karl-Heinz Michels

 
Seit 1982 beschäftige ich mich in Männergruppen, auf Männertreffen, in antisexistischen Arbeitskreisen, in Seminaren über Männergewalt und in Beiträgen für verschiedene Männerzeitungen mit dem Thema Männlichkeit. Einige Jahre habe ich sogar beruflich in der Jungen- und Männerarbeit mein Geld verdient. In diese Zeit fiel auch das Ende »unserer« letzten Männerbewegungs-Zeitung »Moritz«. 1998 und 1999 habe ich im Alleingang versucht, mit »Moritz II.«, »äM für eine neue Männerkultur« und ein namenloses drittes Heft die Tradition, die mit »HerrMann« in den 1980er Jahren in Berlin begonnen hatte, zu retten. Damit sehe ich mich als Randfigur in der professionellen Männerszene, zähle mich selbst aber auf jeden Fall zu den Veteranen des Widerstands gegen die Männerherrschaft.

Der erste Mann meines Lebens, mein Vater, erlebte mit 15 den Zusammenbruch des Nazi-Reichs, war Maurer, ernährte mit seiner Arbeit eine bald 7-köpfige Familie, geriet aber vor lauter Arbeit schnell an den Rand, war der Außenposten in einer Familie von Mutter, drei Jungs, zwei Mädchen. 1950er Jahre, Nachkriegszeit: Wir alle in einem halben Bauernhaus in 2 Zimmern, Küche, Plumpsklo und Badewanne in der Scheune, etwas abseits des Dorfes (Mutter Flüchtling). Es war eng, niemand hatte ein eigenes Bett oder einen eigenen Platz, allein war man nur auf dem Klo. Jeder hatte ab einem bestimmten Alter seine Aufgaben im Haushalt, Garten, Acker. Ein warmer Stall, viel Nähe, viel Gefühl, auch viel Streit, Prügel, Arbeit. Ich war mit meinem 18 Monate älteren Bruder zuständig für den kompletten Abwasch, die jüngeren Geschwister beaufsichtigen, den Kartoffelacker, die Tiere (zwei Schweine, ein Schaf, viele Gänse, Enten, Hühner, Puten, Kaninchen, Katzen), die Kartoffelschalen jeden Abend zum Nachbarn zu tragen, dort Milch, Zeitung und manchmal Tomaten holen.
Junge? Männlich? Zuhause waren wir »die Jungs«. Beim Fußball und Eishockey und auf dem Schulweg nur Jungs. Zuhause waren »die Jungs« zuständig, wenn die Mutter nicht konnte: Windeln wechseln, wunde Kinderpopos cremen, pudern, Milchflaschen temperieren und verfüttern, abwaschen, fegen, Blumen- und Gemüsebeete jäten, Bohnen schnippeln, Johannisbeeren, Stachelbeeren, Kirschen, Pflaumen, Äpfel ernten und verarbeiten … Jungs schon! Mädchen waren fremde Wesen oder kleine Geschwister in Windeln.

Diese laute und lebendige Kindheit ist mir trotz Armut eine schöne Erinnerung. Wäre da nicht am Rande dieser Vater, der Mann als Außenposten in diesem warmen Familienstall, einsam, unzugänglich, gewaltig, bedrohlich. Von daher wohl meine ersten Zweifel an Männern, Mannsein, Männlichkeit. Junge sein war selbstverständlich, hatte aber wenig mit dieser »Männlichkeit« zu tun, die Väter und Onkel damals vorlebten.

Dann die Jugend als kompletter Ausfall: Umzug aus dem warmen engen Stall in ein selbst gemauertes kleinbürgerliches Haus, jeder sein eigenes Bett, seinen Arbeitsplatz, rausgerissen aus der Dorfgemeinschaft der Kindheit. Die jüngste Schwester krank, behindert, dann mit 6 Jahren gestorben. In der Schule Außenseiter, Prolet, kein Bildungsbürger, Fußballer, sonst gar nichts. Wo sollte Jugend da stattfinden? Männlichkeit nur als Negativ des tobenden, brüllenden, schlagenden Vaters. Und im Begehren von unerreichbaren und fremden Mädchen. Bei der Bundeswehr noch schlimmer: Junge Männer, Prügel, Sauforgien und sexistische Sprüche pur. Ich setzte mich von diesen rohesten Formen von Männlichkeitsgebaren ab, war das Weichei, der Schwuli, der Gebildete, der Votzenlecker …. außer beim Fußball.

Mit diesem ausgesprochen negativen Männerbild geriet ich an der Uni in die Hoch-Zeit der Frauenbewegung: Frauen-WGs, Frauengruppen, Frauenhäuser, Frauenschutzräume gegen die Gewalt der Männer (ich hätte auch gerne so einen Schutzraum gehabt). Und: alle Männer sind potentiell Vergewaltiger, profitieren von der Unterdrückung der Frauen und vom Männer-Bonus – ich auch! Ich geriet in eine Welt, in der ich mich mit Frauen solidarisierte und von Männlichkeit immer weiter entfernte, ohne einen Ansatz für eine eigene andere männliche Identität zu finden. Und dann auch noch von Frauen beschuldigt, verlacht und ausgegrenzt wurde, Ina Deters Kampflied »Neue Männer braucht das Land« habe ich noch im Ohr.
Politisch und öffentlich überzeugter Antisexist, war ich privat und emotional als Mann kaum greifbar. Beziehungen mit Feministinnen mehr Schuld als Lust, nie von Dauer. Der klassische Softie?

Diese Leerstelle, wie ich denn sein könnte und sollte, der neue antisexistische Mann, eigentlich ein (negatives) schwarzes Loch, sehe ich heute in der Rückschau als Quelle für meine seit damals kontinuierliche Beschäftigung mit dem Thema Männer.

Abarbeiten dieser Agenda: Privat und ehrenamtlich in Männergruppen, kontinuierlich von 1982 bis 2002, seit 1985 bis 2012 fast jedes Jahr beim bundesweiten Männertreffen, 1985 bis ca. 1990 Arbeitskreis antisexistischer Männer, Beiträge in den Männerzeitungen »HerrMann«, »Informationsdienst antisexistischer Männer«, »Moritz«, »Switchboard«, Chronist und Fotograf auf den bundesweiten Männertreffen bis 2012, im Orga-Team des Männertreffens 1996 in Finsterau/Bayernwald. Beruflich Teamer bei antisexistischer Jungenarbeit in der HVHS Frille, Referent zum Thema Jungenarbeit in Bildungseinrichtungen, 1999 bis 2002 Einzelbetreuung von Jungen und jungen Männern in einem sozialtherapeutischen Jugendhilfeprojekt. Brotberuf Biolehrer, dort immer für die Sexualkunde zuständig, als Klassenlehrer stets an der Genderfrage orientiert. Ein anderes Männerbild vorleben.

Soweit aus meiner Biografie und zur Frage meiner Zugänge zu Jungen-, Männer-, Väterthemen. Meine Hauptthemen waren und sind jedoch Gewaltfreiheit, Ökologie und eine Alternative zu den vorgeschriebenen Lebenswegen unserer gewalttätigen Gesellschaft finden. Ein Kernzitat aus Karin Struck’s »Klassenliebe« (das erste »Frauenbuch«, das ich las) ist mir zu all dem noch wichtig und galt damals wie heute: »Ich denke, wenn das Verhältnis des Menschen zur Natur ein räuberisches ist, dann ist es auch das des Mannes zur Frau, und umgekehrt. Seit dem siebzehnten Jahrhundert spätestens ist das Verhältnis zur Natur ein total räuberisches, wohl historisch notwendig wie die Unterjochung des Proletariats. Ja? Und jetzt? Ist nicht schon längst der Zeitpunkt da, wo beide Unterjochungen anachronistisch sind?« (S.23).

Die Themen meiner »Männer«zeit waren (a) Männergewalt: gegen Kinder, Frauen, Homosexuelle, und (b) Sexismus = Diskriminierung, Benachteiligung, Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen, Mädchen und Weiblichkeit, inklusive eigener Positiv-/Negativ-Bilder von »Frau« und »weiblich«, d.h. eigene sexistische Vorurteile und Verhaltensweisen – deckt sich also ziemlich mit meiner Biographie.

Das Lager innerhalb der Männerbewegung, zu dem ich mich zählte und gezählt wurde: profilierter Antisexist mit offenem Ohr für Mythopoeten, Abgrenzung von Maskulinisten aller Art, Unterstützer des Feminismus. Anfangs war es die persönliche Betroffenheit, in Männergruppen, dann verstärktes Interesse an Öffentlichkeit, Diskurs und Profilierung einer antisexistischen männlichen Position; dabei Auseinandersetzung und Abgrenzung zu männerrechtlichen Positionen, Maskulinisten und anderen Versuchen, traditionelle Männerstereotypen wiederzubeleben und gegen die Frauenbewegung ins Spiel zu bringen.
Heute frage ich mich, ob angesichts der Komplexität und Vielfalt all meiner Beziehungen Geschlechtsidentität überhaupt noch von Bedeutung ist, und ob es nicht ein persönliches Moment gibt, sich daraus zu befreien und nur noch man selbst zu sein, mit weichen, harten, zweifelnden, lustvollen und selbstkritischen Anteilen.

Besondere Ereignisse in diesem Zusammenhang, die meinem Leben Sinn gegeben haben? Auf jeden Fall die Organisation und Durchführung des bundesweiten Männertreffens im O-Team 1996, männerpolitisch mein größtes Erfolgserlebnis. Und dann kommt schon meine Frau – jetzt im 35. Jahr meine Homebase für mein Leben als Mann?

Wichtig auch die Maueröffnung und Wiedervereinigung 1989/90 und die Erweiterung des bundesweiten Männerdiskurses durch »die ostdeutschen« Männer – endlich Männer, mit denen ich mich unbedenklich herzlich verstehe. Erst da wurde mir bewusst, wie stark auch in meinen (politischen) Männerbeziehungen mir der Klassismus immer schon Unbehagen beschert hat.

Eigenschaften, die mich in der Arbeit ausmachen? [1] »Verfolgt seine Ziele mit sanftem Ingrimm« (wie Holger Karl einmal bemerkte), kann aber auch hinschmeißen, wenn’s gar nicht passt. [2] Absolut zuverlässig, stur und treu. [3] Leidenschaftlich und zielstrebig in der Sache, aber auch vorsichtig, mit Rücksicht und behutsam. [4] Lange litt ich daran, dass ich mir meiner Männlichkeit nicht gewiss war. Heute schätze ich eher die Unsicherheiten als die Gewissheiten und genieße meine undefinierte Männlichkeit in der Schwebe über allen Normierungsversuchen.

Jetzt sehe ich in der Rückschau, wie aus dem harten antisexistischen Widerstandskämpfer gegen das Patriarchat ein gemütlicher alter Herr geworden ist. Jetzt glaube ich, dass ich bin, wie ich bin und kann mich über diese Geschlechter-Schubladen auch mal lustig machen. Dass ich männlich bin, spielt nur selten eine bewusste Rolle – ich halte mich nicht gern in einer Schublade auf. Und kaufe lieber mit meiner Frau Schuhe und Kleidung für sie – die Männerabteilungen sind dagegen so langweilig.
Ich habe es heuer geschafft, 1 von 9 Erdnüssen zum Keimen zu bringen, geerntet habe ich 5 Nüsse. Also keine Karriere als Erdnussbauer in Sicht.
Das bundesweite Männertreffen ist neben meiner SoLaWi / Solidarische Landwirtschaft die einzige Institution, der ich mich verbunden fühle.

Was die Männer ausgemacht hat, mit denen ich gerne zusammen war und zusammengearbeitet habe? Sie sind/waren für mich attraktiv, nahbar und leidenschaftlich an ihrer Sache. Und meine Lebensphilosophie: Ich bin geboren, das ist ein Geschenk, hier so zu sein, wie ich gerade bin.

In der Männerbewegung habe ich mich immer wieder gegen Professionalisierung und Gewerblichkeit abgegrenzt und gewehrt, weil ich alles als mein persönliches, idealistisches und privates Engagement betrieben habe und mich dann vereinnahmt und ausgenutzt fühlte. Negativbeispiel ist der Streit der Hamburger »MgM«-Männer mit »Jedermann« in Heidelberg – »Männer gegen MännerGewalt« als geschützter Markenname? Und die vielen Gespräche, wo es beim Netzwerken dann auch immer um Einkommensperspektiven, Gelder, Fördertöpfe ging. Naja, ich habe mich gottseidank ausklinken können, allerdings mit Verlusten.

Was mir in der Männersache eher Steine in den Weg gelegt hat? Dass wir sehr sehr unterschiedlichen Kulturen, Klassen, usw. entstammen und noch größere Interessenunterschiede haben – Männlichkeit ist eben doch keine per se einigende Idee. Und das ganze Gerede von Identität, Authentizität, Geltungssucht, das unsere Beziehungsfantasien hegemonialisiert. Da lerne ich umdenken.

Was mich antreibt? Nichts mehr. Ich bin Rentner und Pensionär und arbeite nur noch an selbstgewählten und »eigenen« Projekten, also ohne Antreiber und nicht mehr als Getriebener. Liebster Lohn für meine Arbeit sind gelungene herzliche Beziehungen.

Welches Projekt ich noch gerne umsetzen möchte? Mein Blumenbuch veröffentlichen und ein Blumenmuseum einrichten.

Und eine nicht gestellte Frage, die ich aber dennoch gerne beantworten möchte? Ja: Was war (bisher) meine größte Torheit im Feld von Männer- und Jungenarbeit? Zu glauben, es gäbe eine männliche Identität, nach der zu suchen und darüber zu streiten sich lohnte.
 
 

 
 
 
 
 
 
:: Karl-Heinz Michels, geb. 1952 im Emsland, verheiratet, keine Kinder. Berufe: Lehrer, SozialPädagoge, Fotograf, Schreiber, Rentner, Pensionär. Spezielles Interesse: Kulturgeschichte heimischer Blütenpflanzen. Und Erich Kästner’s »Es gibt nichts Gutes, außer man tut es«

Sommer 1944

Engagiert man sich oder schaut man weg? Geht man ein Risiko ein oder hält man die Füße still? Und was hat das jeweils mit dem Leben zu tun, das man zuvor geführt hat? Fragen, auf die Antworten warten.

Horizont Wattenmeer

Text: Frank Keil
Foto: Katinka Tulpenzwiebel, photocase.de

 
Männerbuch der Woche, 50te KW. – Florian Knöppler lässt in »Südfall« einen britischen Piloten zum Ende des Krieges hin auf eine kleine, in sich nicht immer einige Gemeinschaft angewiesen sein.

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