Wir waren viele, wir sind viele, noch

Hinter sich die Nachkriegsgeneration, vor sich die Millennials: Am Ende angekommen bemerken die Boomer mal erleichtert, mal bedrückt, dass sie auch nur eine Zwischengeneration waren und sind.

Text: Frank Keil
Foto: Archiv Ulrike Steinbrenner

 
Männerbuch der Woche, 11te KW. – Heinz Bude flaniert gekonnt in seinem schmalen wie reichen Buch »Abschied von den Boomern« durch unsere leicht vergangene Gegenwart.

Zur Rezension

»Schon das Ansprechen von Gefühlen, Problemen, Situationen kann oft der Ansatz für eine Lösung sein.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Michael Roth, Duisburg

Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Redaktion: Alexander Bentheim
Fotos: privat

 
Michael, was waren deine biografischen Zugänge zu Jungen-, Männer- und Väterthemen? Welche Themen waren damals und heute zentral in deiner Beschäftigung mit Jungen und Männern? Und wie hat sich dein Engagement entwickelt, ggf. verändert?
Als 15-jähriger Georgspfadfinder übernahm ich eine Juffi-Gruppe (Juffis werden die Jungpfadfinder genannt) mit ca. acht Jungen im Alter 10-12/13 Jahren; es war die Zeit der 1968er. Mit 16 wurde ich – als Nachfolger meines 5 Jahre älteren Bruders – zum sog. Stammesleiter einer (Vor)Ortsgruppe gewählt, den Posten hatte ich ca. fünf Jahre lang inne. Und mit 17 leitete ich ein Lager in der Eifel mit ca. 18 Jungen.
Mein Vater – 43 Jahre alt, als ich 1952 als jüngstes von drei Kindern geboren wurde (es gab neben dem Bruder noch eine knapp drei Jahre ältere Schwester) – war Modellbaumeister und hatte eine Schreinerei hinter unserem Wohnhaus. Nach meinem Bruder ging auch ich dort in die Lehre, weil es »so einfach« war und ich daher auch viel Zeit bei meinen Pfadfinderfreunden verbringen konnte.
Mein Vater war von ca. 1927 bis 1936 in der katholischen Jugend aktiv und erzählte uns Kindern einiges aus dieser Zeit, von seiner Jugendgruppe, den gemeinsamen Unternehmungen, Radtouren, Wanderungen, Zeltlagern und von Jugendkaplänen, mit denen sie Tischgottesdienste – Eucharistiefeiern im kleinen Kreis – feierten. Das hat uns Kinder geprägt. Ich übernahm die progressive, kritische Einstellung zur katholischen Kirche, war immer bemüht, das für die Menschen und für die Gemeinschaft Wichtige aus den »Lehren« der Kirche umzusetzen. Ich hatte das Glück, immer wieder Priester zu erleben, die auch offener dachten. Meine eigene junge Familie kehrte dann mit einigen anderen ehemaligen Pfadfindern der konservativen Ortsgemeinde den Rücken, denn wir fanden Gefallen an der kleinen Gemeinde in der Innenstadt, die von einem weltoffenen Karmeliterpater geleitet wurde. Über 20 Jahre lang war ich dort im Gemeinderat leitend tätig und konnte sogar meine Vorstellung von einer Gemeinde ohne amtliche priesterliche Leitung umsetzen.
Das Gemeinschaftliche, das gemeinsame Tun in der Gruppe, hatte mich auch angesteckt; seit der frühen Jugend war ich mit der »Arbeit« mit Jungen und Jugendlichen im Sinne einer steten Organisation des gemeinschaftlichen Zusammenseins »betraut«. Ich habe dann auch Leiterkurse besucht, mein Wissen mit etwas Pädagogik und Psychologie angereichert, und bis zum Alter von ca. 26 Jahren war ich in verschiedenen Stadtleitungen der DPSG-Jugendarbeit aktiv. Während meiner Zeit als Leiter veränderte sich die DPSG als Organisation stark: Aus dem Verband der »Waldläufer« wurde ein moderner Jugendverband, der gemeinschaftlich und sozial engagiert ist, und dessen selbständige Ortsgruppen den katholischen Kirchengemeinden nahe, aber nicht von ihnen abhängig sind. Noch einige Jahre später wurde aus dem Jungenverband ein koedukativer Verband.

Gab es für dich nachhaltige gesellschaftliche Ereignisse – auch für den Kontext deiner Arbeit und für deine privaten und beruflichen Beziehungen?
Das Zusammensein von Jungen/Männern und Mädchen/Frauen war für mich eine nachhaltige Erfahrung, ich lernte Gleichberechtigung im Miteinander. Das half mir im weiteren Leben: bei der Organisation von Aktionen z.B. im Umweltschutz, für den damals sog. »Dritte Welt«-Gedanken, hinsichtlich von fairem Handel oder für benachteiligte Menschen. Aber auch als Verliebter, als Ehemann, als Vater eines Sohnes und zweier Töchter sowie als Lehrmeister von drei Frauen und 27 Männern spielte die Erfahrung und Vermittlung von Gleichberechtigung eine wichtige Rolle.
Besonders das demokratische, gemeinschaftliche Handeln ist eine Erfahrung, die ich nicht missen will. Dabei war das Miteinander im Pfadfinderverband ein wichtiges Erfahrungsfeld, in dem ich auch meine kritische Haltung zu »Obrigkeiten«, besonders zu autoritären wie der katholischen Kirche, entwickelt habe.

Was hat die Männer/* ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast?
Zum 40sten Geburtstag schenkte mir ein Bekannter ein Männerbuch – den Titel weiß ich nicht mehr, aber das Lesen über Freiräume für Männer in der Ehe und über Männergruppen weckte eine neue Seite in mir. Ich war durch die vorhergehende Beratungsarbeit, mit der wir aus unserer ersten Ehekrise herausfanden, sensibilisiert. Zum 41sten im Kreis der Männergäste habe ich eine Männergruppe im westlichen Ruhrgebiet gegründet. Und bei den Gruppentreffen habe ich dann die Erfahrung gemacht, dass alleine schon das Ansprechen von Gefühlen, Problemen, Situationen oft der Ansatz für eine Lösung sein kann, dass die Sichtweisen und Reaktionen der anderen Männer etwas in mir und den Männern in Bewegung brachte.
Mit 47 Jahren – 1999 war das – habe ich an einem Männerseminar der evangelischen Kirche mit Richard Rohr teilgenommen; mein erster Kontakt zu »fremden« Männern und meine ersten Gespräche mit schwulen Männern.
2000 bin ich als Teilnehmer zu den bundesweiten Männertreffen gekommen, was in gewisser Weise spät war. Ich habe dort und in den späteren Männertreffen die Vielfalt der Männer, die sehr unterschiedlichen Bedingungen ihres Heranwachsens, ihrer jeweiligen Familiensituationen und von den Beziehungen der Männer zu ihren Vätern erfahren.
Das Jahr 2000 sollte auch mein Sabbatjahr werden; mit einem Mann aus der Männergruppe bin ich auf den »Spuren der Kaiser« (alter Krönungsweg) nach Rom geradelt. Drei Wochen enges Männerzusammenleben führte zu Erfahrungen, die ich schätzen gelernt habe: Vertrauen auf den Anderen, faire Auseinandersetzungen, Respekt, Nähe, Gemeinschaft.
Rückblickend denke ich: ohne die Erfahrungen mit Gruppen und Männern hätte ich keinen Freunde*innenkreis. Auch wären mir einige Dinge nicht gelungen: der Zusammenhalt in der Ehe mit der Entstehung einer 15-köpfigen »Sippe«, die Ausbildung von meist schon älteren bzw. volljährigen Azubis, die Gründung eines »Dritte Welt Ladens« sowie der langwierige Prozess der Umgestaltung der Gemeinde zu einer Gemeinschaft mit selbstbestimmender Leitung.

Hast du ein Lebensmotto?
Probieren geht über studieren – oder: Versuch macht klug.

Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und/oder Beziehungen zu anderen ausmachen?
Machen, Zuverlässigkeit, 80% Toleranz, Treue.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis vom Umgang mit Jungen-, Männer- und Väterthemen?
Im Orga-Team zur Vorbereitung der Männertreffen habe ich Erfahrungen mit dem Ausdiskutieren von Argumenten über die Konsensfindung bis hin zu einstimmigen Entscheidungen gemacht. Ich denke, nach dieser Erfahrung, dass in unserer Gesellschaft heute zu oft fehlt: andere zur wirklichen AUS-Sprache kommen zu lassen, einander zuhören, nachfragen, Gemeinsamkeiten und Verbindendes suchen – was bedeutet, sich auch immer wieder auf andere Menschen einzulassen und ihr »Sosein« zu respektieren.
Die immer noch vorherrschende männliche Macht in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft beeinflusst unser Denken. Ich erlebe jetzt im Alter, dass sich bei den Männern eine Teilung auftut: die einen werden sensibler, weicher, einfühlsamer, andere bleiben »Indianer«, »Männer wie wir«, hinter ihren uralten Mauern.
Da unser Leben auf Gemeinschaft, auch Partnerschaft angelegt ist, habe ich meiner Frau und Partnerin viel in meiner Reifung zu verdanken. Sie hat mir immer wieder mein Verhalten gespiegelt. Oft habe ich das zunächst »hart« empfunden, aber in der Reflexion später annehmen können – zumal mich meine Partnerin besonders in meinen schweren Zeiten unterstützt hat.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest? Und was möchtest du gegen Ende deines Lebens erreicht haben?
Im letzten Lebensdrittel erfolgt für mich die »Kür«: nachdem im ersten Drittel das Lernen dran war, im zweiten Drittel die Arbeit, die Familie und das Wirtschaften (und meine Frau trug die Hauptlasten in der Familie einschließlich der Kinder), will ich nun mehr mittragen, auch mehr mitgestalten an einer friedlichen Welt. Nach 45 Ehejahren mit meiner Frau Ingrid sind unsere drei Kinder und sieben Enkelkinder zugleich Baustellen und Genuss in dieser Welt. Sie haben unsere volle Unterstützung, solange wir können und sie uns anfordern. Das heißt für mich »allzeit bereit« und »look to the kids« – alte Pfadfinder-Sätze bleiben aktuell.
Und in einem Teil der dann noch verbleibenden »freien Zeit« sorge ich als Mitarbeiter im ADFC mit für ein fahrradfreundliches und sicheres Duisburg – mein Beitrag zum besseren Klima und zur Mobilität der Nachkommen.

ps. Mittlerweile weiß ich wieder, welches Männerbuch mir geschenkt wurde – es war Sam Keen’s »Feuer im Bauch« …

 
 

 
 
 
 
 
:: Michael Roth, geb. 1952 in Duisburg und immer dort geblieben, geprägt vom Dreiereck Pott, Niederrhein und dem Bergischem. Nach Realschule Modellbauer-Handwerk (Gießerei) erlernt. Als Tischlermeister die Werkstatt meines Vaters übernommen und über 30 Tischler:innen ausgebildet. Jungen und Männerarbeit in der DPSG. Männergruppe gegründet, Teilnehmer an einigen Männertreffen. Über 20 Jahre Vorstand im Gemeinderat einer überörtlichen katholischen Gemeinde.

Wandernd durch das Trauertal

Aufschreiben, was ist. Beschreiben, was war, wie es vielleicht wieder sein könnte, auch wenn es nie wieder so sein wird – das ist eine wahre Herausforderung.

Spiegelung eines Baumes mit Herbstblättern im Wasser

Text: Frank Keil
Foto: derProjektor, photocase.de

 
Männerbuch der Woche, 7te KW. – Elke Naters erzählt in ihrem Protokollroman »Alles ist gut, bis es dann nicht mehr gut ist« nach dem Tod ihres Mannes, wie es wieder annehmbar wird, auch weil die Trauer und der bleibende Verlust zu dem gehören, was man so leichthin wie unbedarft »das Leben« nennt.

Zur Rezension

Trauer in Venedig

Was, wenn einem klar wird, dass das eigene Leben endlich ist und das der heutigen Welt noch dazu? Oder hat das nichts miteinander zu tun?

Venedig am Abend mit Gondeln

Text: Frank Keil
Foto: 50Centimos, photocase.de

 
Männerbuch der Woche, 4te KW. – Daniel Schreiber widmet sich in seinem Essay »Die Zeit der Verluste« so gekonnt wie berührend dem Zusammenspiel wie Gegensatz von privater und gesellschaftlicher Trauer.

Zur Rezension

»Wirksame Änderungen brauchen einen langen Atem und viel Geduld.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Uwe Sielert, Kiel

zwei Junge Männer am Strand

Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: benicce, photocase.de | privat

 
Was war oder ist dein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen- und Männerthemen? Was dein politisch-thematischer Zugang?
Als Jugendlicher sozialisiert im Christlichen Verein junger Männer (CVJM – heute steht das »M« für Menschen) und als Student der Erziehungswissenschaft (1970-1974) kam ich während des Studiums angesichts der Beschäftigung mit kritischer Sozialisationstheorie gar nicht um die Geschlechterfrage herum. Ohnehin war ich fasziniert davon, zusammen mit Gleichgesinnten das theoretisch-analytische Handwerkszeug selbstreflexiv in gruppendynamischen Settings ausführlich auf die eigene Biografie zu beziehen. »Das Persönliche ist politisch und das Politische ist persönlich« lernten wir aus der feministischen Kritik am Patriarchat, die Notwendigkeit der solidarischen Veränderung (Bloch: »Ich bin, aber ich habe mich nicht, darum werden wir erst«) aus der marxistischen Philosophie, und die didaktische Umsetzung mit Hilfe der »dynamischen Balance von Ich – Gruppe – Thema im Globe« von Ruth Cohn aus der Themenzentrierten Interaktion (TZI). Soweit die Theorie und mein politisch-thematischer Zugang.
Im eigenen Gefühlsleben und Verhalten sah das dann nicht immer so gradlinig und klar aus. Der »stumme Zwang der Verhältnisse« produzierte zuhauf blinde Flecken im Bewusstsein des eigenen Männlichkeitsbilds und Geschlechterverhaltens. Das beobachtete Hin und Her der Selbstbilder der Jungen im Jugendzentrum zwischen »Hilfe, ich kann nicht« und »Ich bin der Größte« existierte auch bei uns Studierenden, ganz besonders bei mir, der den Kulturclash zwischen dem CVJM und dem polyamoren Marxismus eines damals kurze Zeit in Dortmund lehrenden Dieter Duhm (»Angst im Kapitalismus«) zu bewältigen versuchte. Immerhin wusste ich von Letzterem, dass auch er beim CVJM angefangen hatte, linker Aktivist und Hochschuldozent wurde, bevor er der akademischen Karriere den Rücken kehrte und ins experimentelle Weltverbesserungsmilieu eintauchte. Welt und Menschen mit jesuanischem Eifer verbessern wollte ich damals auch, nicht besonders revolutionär, eher in pädagogischer Theorie und Praxis, und mich dem »Marsch durch die Institutionen« anschließen. Nach einem Forschungsaufenthalt in den Niederlanden folgten kleinere alternative Projektgründungen und das Mittun an der beginnenden Jungen- und Männerarbeit: Vorhandenes zusammenstellen, systematisieren und vor allem in didaktischer Hinsicht weiterentwickeln.

Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen und Männern?
Mich beschäftigten [1] die Differenz und die Ähnlichkeiten zwischen dem »Prinzip Männlichkeit« und mir selbst wie auch anderen Männern, [2] Jungen- und Männersexualität, [3] die bisherige und weitergehende Entwicklung von Jungenarbeit mit ihren jeweils unterschiedlichen Akzenten (feministisch, antikapitalistisch, antisexistisch, reflektiert, gendersensibel …), und [4] vor allem die Frage, was den konkreten Jungen und Männern in den »Sozialisationsagenturen« (wie es damals kritisch-technizistisch hieß) didaktisch Hilfreiches angeboten werden kann. Seminare, Fortbildungen, Vorträge, Veröffentlichungen waren die Medien, die mir in der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften und Diplompädagog*innen zur Verfügung standen.

Wie hat sich dein Engagement für Jungen und Männer entwickelt, ggf. verändert?
Das Gender-Sternchen in der letzten Zeile deutet es schon an: Das Interesse an der Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Diskurse und vor allem die Einarbeitung in die Sexualwissenschaft und Spezialisierung auf Sexualpädagogik führten zur generellen Öffnung meines geschlechtsbewussten Blicks auf Jungen hin zu einer Sexual- und Genderpädagogik der Vielfalt. Meine Vision selbstbestimmterer, emanzipativer Menschen sah ich zunächst in der Erweiterung der Entwicklungsmöglichkeiten von Jungen innerhalb ihrer Geschlechtlichkeit und später in der Entdramatisierung der Geschlechtskategorie überhaupt. Es begann die Suche nach vielen anderen Identitätsankern und vor allem die Möglichkeit fluider Selbstdefinitionen, um aus der Tatsache, dass wir als Jungen und Männer (auch) »gemacht werden«, das »doing gender« zu vervielfältigen und pädagogisch zu begleiten.

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche/historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Schon immer war mir bewusst, dass Jungen und Männer Probleme machen und Probleme haben. Meine Probevorlesung für die Pädagogikprofessur in Kiel lautete beispielsweise »Halt suchen auf schwankendem Boden: Männlichkeit als soziales Problem«. Die erschreckenden Ausmaße männlicher Gewaltausübung waren schon immer unübersehbar, die Ausmaße sexualisierter Gewalt an Mädchen und Jungen, die in Wellen öffentlich wurden, verstörten deutlich mein Blick auf Männlichkeit und alle bisherigen Theorien und Konzepte geschlechtsbewusster Arbeit. Mir wurde schlagartig bewusst, dass die kollektiven Traumata von Gewalterfahrungen und der aktuell immer noch ausgeübte »Missbrauch« von Kindern sowie sexuelle Grenzüberschreitungen aller Art heftig wirksam sind. Die eingeschlagenen Wege der Arbeit an männlicher Gewalt und ebenso vorhandener Bedürftigkeit wurden deshalb ja nicht hinfällig, kratzten aber nur oberflächlich am männlichen Sozialisationsmodus mit seinen toxischen Auswirkungen. Und dennoch blieb ich immer skeptisch gegenüber rein antisexistischen Programmen und einer Konzentration auf Gefahrenabwehr.

Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deinen privaten und/oder beruflichen Beziehungen?
Ich habe die Geburt meiner beiden Söhne und meiner Tochter als Vater sehr bewusst miterlebt und meine beruflichen Tätigkeiten boten mir potentiell viele Freiräume, eine entscheidende Wegstrecke mit ihnen gemeinsam zu gehen. Ich denke, dass mir das auch weitgehend gelungen ist, wenn ich die gegenwärtige Beziehung zu den erwachsenen Kindern richtig deute. Und dennoch machen mir gelegentliche Konflikte und Rückmeldungen deutlich, wie selten mir gelungen ist, die hohen Ansprüche des beruflichen Wissens über Jungen im persönlichen Alltag zu leben. Ich hätte im kontinuierlichen Kontakt viel mehr geben und bekommen können. Ganz besonders in der Trauer um meinen mit 30 Jahren tödlich verunglückten Sohn ist mir das schmerzlich zu Bewusstsein gekommen. Auch für mich gilt also: Wirksame Änderungen brauchen einen langen Atem und viel Geduld.

Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und/oder Beziehungen zu anderen ausmachen?
Herausfordernd, selbstkritisch-ehrlich und eine bleibende Angst vor Zurückweisung.

Was ist für dich »Erfolg« in deiner Auseinandersetzung mit Jungen- und Männerthemen? Hast du Beispiele?
Im Anschluss an meinen Probevortrag zur »Männlichkeit als soziales Problem« beantragte der tonangebende, kurz vor der Pensionierung stehende Pädagoge des Instituts halb ironisch einen Männerbeauftragten für die Universität Kiel. Meine Seminare im Studium und in Fortbildungen bei diversen Trägern waren immer gut besucht und manche Männer versichern mir heute noch, wichtige Impulse für die eigene Person und Arbeit bekommen zu haben.

Was gibt dir persönlich Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen?
Dichter und ausführlicher Kontakt auf einem gemeinsamen Weg: sich selbst und andere ganzheitlich spüren beim lustvollen Imaginieren, Streiten, Leiden, Arbeiten, Tanzen und Ruhen sowie auch einsame Geistesblitze und körperliches Ausgepowertsein.

Was ist dir (mit) gelungen, worauf bist du (zusammen mit anderen) vielleicht auch stolz?
Die Erarbeitung und Veröffentlichung meines ersten Buchs »Jungenarbeit« und die ausführlichen Diskussionen dazu mit meinen damaligen Student*innen und anderen bewegten Männern. Die Einführung des Themas »Jungen- und Männersexualität« bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und zusammen mit spannenden Aktivisten der Aids-Hilfe während meiner Mitarbeit an der personalkommunikativen HIV-Präventionskampagne. Und die Berücksichtigung des Gender-Themas bei allen sexualpädagogischen Weiterbildungen der Sexualpädagogik.

Mit welchen Institutionen und Personen warst du gerne beruflich oder privat verbunden oder bist es noch?
Mit den Einrichtungen, die aus meinem sexualpädagogischen Engagement – immer im lustvollen Arbeitsprozess mit anderen – hervorgegangenen sind: dem Institut und der Gesellschaft für Sexualpädagogik und vielen vor allem ehemals, manchmal immer noch dort aktiven Freundinnen und Freunden. Stellvertretend für viele möchte ich meinen langjährigen Freund Frank Herrath hervorheben, mit dem ich viele Wegstrecken gemeinsam zurückgelegt habe. Viele meiner eigenen älteren Lehrer und Tutoren sind inzwischen leider verstorben. Nennen möchte ich auch hier stellvertretend nur meine langjährigen Freunde und inspirierenden Lehrer Konrad Pfaff und Siegfried Keil, die für mich sehr unterschiedliche Beispiele für positiv gelebte Männlichkeit waren: der eine theoretisch kreativ, expressiv und fröhliche Wissenschaft treibend, der andere achtsam, integrativ und langfristig gesellschaftlich engagiert.

Was hat die Männer/* ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast?
Mich haben ihre Botschaften und Haltungen, ihr Biss beim Denken und Handeln angelockt und begeistert sowie die Einladung zum Mitmachen und die Bereitschaft, an einer gemeinsamen Mission wechselseitig inspirierend und wertschätzend zu arbeiten.

Hast du eine Lebensphilosophie, ggf. ein Lebensmotto?
Lange fand ich den Kanon albern, den mein Vater trotz schrecklicher Erfahrungen im Krieg und in der Kriegsgefangenschaft in seiner christlichen Gemeindearbeit am liebsten mit anderen gesungen hat: »Der hat sein Leben am besten verbracht, der die meisten Menschen hat froh gemacht«. Doch inzwischen habe ich den Kern seiner Erfahrungen im Auf und Ab seines entbehrungsreichen Lebens nachvollzogen: sich in Resonanz mit anderen auf das Verbindende, Gelungene und Stärkende zu konzentrieren.

Wo siehst du Brüche in deinen beruflichen oder freundschaftlichen Beziehungen?
Im persönlichen Liebesleben gab es einige davon, weil die Spannung zwischen dem eigenen Begehren und der persönlichen Weiterentwicklung oft in Konflikt geriet mit dem ebenso geschätzten Festhalten am Erreichten, einschließlich versprochener Beziehungstreue. Beruflich waren es weniger Brüche als Widerstände bei der gesellschaftlichen Resonanz meines sexualpädagogischen Engagements.

Wodurch wurden diese verursacht?
Die Herausforderung konservativ-dogmatischer Gruppierungen durch meine Dekonstruktion heteronormativer Lebensvorstellungen und das Eintreten für das Recht auf altersangemessene Sexualität von Anfang an führte zu gelegentlichen persönlichen Anfeindungen, die mir manche schlaflose Nacht beschieden haben.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis vom Umgang mit Jungen- und Männerthemen?
Aus der feministische Szene spürte und spüre ich immer noch Misstrauen gegenüber einer positiven Sexualkultur, die sich nicht allein auf Gefahrenabwehr beschränkt, sondern das Recht von Jungen und Männern auf sexuelle Bildung einschließt. Da nutzen keine empirischen Hinweise auf den Mangel an sexualpädagogischer Arbeit mit Jungen als sinnvolle Gewaltprävention. Als auch der Missbrauch von Jungen in pädagogischen Organisationen bekannt wurde, wurde die Tatsache allein, dass ich mich pädagogisch mit Jungenarbeit beschäftigt habe, von einer böswilligen Journalistin in den Kontext der Missbrauchsdiskussion gestellt.

Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deinem Engagement an?
Ich glaube trotz aller Skepsis gegenüber wissenschaftlicher Arbeit, dass es auch beim Genderthema darauf ankommt, »die Sachen zu klären und die Menschen zu stärken«. Beides tut allen gut, unabhängig von geschlechtlicher Selbstdefinition oder gesellschaftlicher Zuschreibung. Und inzwischen habe sogar ich (der Zurückweisung immer noch gern aus dem Weg geht) gelernt, in wichtigen Konflikten Position zu beziehen und auch schmerzliche Widerstände auszuhalten.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest?
Selbstreflexiv zu erkunden, warum die Jungen- und Männerthemen in den letzten Jahren nicht mehr so sehr im Fokus meiner persönlichen und wissenschaftlichen Neugier gestanden haben. Die Beantwortung dieser Fragen war ein Anfang dazu.

Und was möchtest du gegen Ende deines Lebens erreicht haben?
Mit mir und meinem Leben «im Reinen sein«, wie es so schön heißt. Rückblicke auf Aufarbeitungen sind dazu ein gangbarer Weg.

Eine nicht gestellte Frage, die du aber dennoch gerne beantworten möchtest?
Nö – aber danke für die vielen Impulse!

 
 

 
 
 
 
:: Uwe Sielert, Jg. 1949, emeritierter Professor für Sozialpädagogik am Institut für Pädagogik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Diplom, Promotion und Habilitation in Erziehungswissenschaft. Diplom in Themenzentrierter Interaktion nach Ruth Cohn bei WILL International. Berufliche Stationen: Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Dortmund, Gastdozent an der Vrije Universiteit Amsterdam, Mitarbeiter der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in Köln, seit 1992 Professor für Sozialpädagogik am Institut für Pädagogik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungs- und Lehrschwerpunkte mit einschlägigen Veröffentlichungen in den Bereichen sozialpädagogische Aus- und Fortbildungsdidaktik, Sexualerziehung und Geschlechterpädagogik sowie Pädagogik der Vielfalt. Schwerpunkt im Masterstudiengang Pädagogik »Diversity and Management in Education«. Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Sexualpädagogik. – Kontakt: www.uwe-sielert.de.

Weiterhin Krieg

Der Krieg in Bosnien? Ja, den gab es. Aber was war da noch mal los? Was hat er mit den Menschen gemacht? Und hätte man daraus vielleicht etwas lernen können?

Text: Frank Keil
Foto: pur, photocase.de

 
Männerbuch der Woche, 3te KW. – Tijan Sila erzählt in »Radio Sarajevo« beeindruckend nah wie nüchtern vom Ende einer Kindheit unter ständigem Beschuss. Es hat seine Zeit gebraucht, bis er sich dieser Lebensphase literarisch nähern konnte.

Zur Rezension

»Das Schönste ist, Feedbacks zu bekommen von Menschen, die man begleitet hat.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Marc Melcher, Frankfurt/M.

2 Jugendliche auf einem Fahrrad vor Wohnblocks

Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: bilderberge, photocase.de | privat

 
Was war oder ist dein persönlich-biografischer Zugang zur Jungen-, Männer- und Väterthematik? Was dein politisch-thematischer Zugang?
Erste Erfahrungen habe ich während meines Zivildienstes in einem paritätisch besetzten Team in einer Kita in Frankfurt gesammelt. Die frühe Auseinandersetzung mit Machtverhältnissen und Geschlecht habe ich während meines Studiums an der Goethe-Universität in Frankfurt, hier vor allem in den Seminaren von Prof. Drin Barbara Rendtorff, ab 1994 erfahren, des Weiteren durch die Konfrontation mit sexualisierter Gewalt im jungen Erwachsenenalter, hier als Begleitung von einer betroffenen Person. Ich habe frühzeitig Wissen erworben (Theorie im Studium) und den Transfer in die Praxis machen können (Arbeiten im pädagogischen Bereich während des Studiums). In meinem weiteren Berufsleben folgte dann die Fortbildung in der Jungenarbeit in Nordhessen (2004) sowie meine Weiterbildung in der Genderpädagogik beim Bayrischen Jugendring in Gauting (2007).

Was waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen, Männern und Vätern?
In meiner Arbeit mit Jungen wie auch mit Studierenden der Frankfurt University of Applied Sciences war und ist es mir wichtig, Räume zum Austausch zu schaffen, ihnen zuhören, Beziehungsangebote zu machen und Impulse zu setzen, um ihnen Reflexionsebenen anzubieten.

Wie hat sich dein Engagement für Jungen, Männer und Väter entwickelt, ggf. verändert?
Die Grundrichtung ist seit den Anfängen ähnlich geblieben: zuhören statt belehren, Fragen stellen und Interesse zeigen an den Lebenswelten meiner Zielgruppen. Intersektionale Perspektiven kamen in den letzten Jahren hinzu. Immer wichtig war für mich auch der Austausch mit Kolleg*innen aus der Mädchen*arbeit und der queeren Jugendarbeit.

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche/historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Die Digitalisierung, Social Media, die Corona Pandemie und deren Nachwirkungen auf junge Menschen.

Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deinen privaten und/oder beruflichen Beziehungen?
Menschen, die ich in meinen Arbeitskontexten kennengelernt und die mich in meinem beruflichen Alltag und im Privaten weitergebracht haben.

Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und Beziehungen zu anderen ausmachen?
Offenheit, Empathie, Fürsorglichkeit, professionelle Nähe. Auch die Offenheit, auf Menschen mit unterschiedlichen Haltungen in unserer »Szene« zuzugehen.

Was ist für dich »Erfolg« in deiner Auseinandersetzung mit Jungen-, Männer- und Väterthemen? Hast du Beispiele?
Erfolg für mich bedeutet: wenn eine Beziehungsebene zwischen Menschen hergestellt wurde, wenn Impulse wahrgenommen wurden. Das Schönste ist es, Feedbacks zu bekommen von Menschen, die man begleitet hat. Manchmal sind das Zufälle, wenn man Menschen wiedertrifft, z.B. ehemalige Jungen aus der Einrichtung in Hanau, aber auch Studierende oder junge Fachkräfte, die ich mit meiner Arbeit erreichen konnte.

Was gibt dir persönlich Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen?
Zuhören, sich einlassen, sich positionieren, aber auch zu bestimmten Zeitpunkten sich zurücknehmen.

Was ist dir (mit) gelungen, worauf bist du (zusammen mit anderen) vielleicht auch stolz?
Der Begriff »stolz« ist für mich hier nicht passend. Ich bin froh und dankbar, Impulse zu setzen und gesetzt zu haben – z.B. mit und bei der Bundesarbeitsgemeinschaft Jungen*arbeit, meine Projekte in Frankfurt am Main beim Paritätischen Bildungswerk Bundesverband im Care- und Fürsorgebereich, im Kontext der Fachgruppe für Jungen*arbeit in Hessen und in meiner pädagogischen Praxis mit jungen Menschen.

Mit welchen Institutionen und Personen warst du gerne beruflich oder privat verbunden oder bist es noch?
Institutionen stehen für mich weniger im Vordergrund als vielmehr Personen. Bundesweit, hessenweit und im Raum Frankfurt gab und gibt es Menschen, von denen ich eine Menge lernen konnte. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich beim Paritätischen Bildungswerk Bundesverband 2009 die Chance bekommen habe, mich bundesweit in dieses Arbeitsfeld zu bewegen.

Was hat die Männer/* ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast?
Die Menschen, mit denen ich zusammengearbeitet habe, haben oder hatten auch immer Interesse an meiner Person, jenseits des Arbeitszeitkontextes. Auch hier stand die Beziehungsarbeit sehr oft im Vordergrund. Eine Offenheit und Nähe habe ich bei allen Personen wahrgenommen.

Hast du eine Lebensphilosophie, ggf. ein Lebensmotto?
Ich hatte eine glückliche Kindheit und liebevolle Eltern. Ich versuche, das in meiner Beziehung zu meiner Liebe zu leben und an unsere Tochter weiterzugeben. Ich versuche, die größtmögliche Akzeptanz anderen Menschen gegenüber zu haben – aber keine Toleranz bei Intoleranz, d.h., dass ich mich auch immer politisch positioniere.

Wo siehst du Brüche in deinen beruflichen oder freundschaftlichen Beziehungen? Wodurch wurden diese verursacht?
Wenn mit zweierlei Maß gemessen wird, etwa wenn eine Person sehr moralisch argumentiert, sich selbst aber in Widersprüchlichkeiten verstrickt. Widersprüchlichkeiten sind Teil des Menschseins. Sie sollten reflektiert, nicht negiert werden. Sonst wird es für mich schwierig in der weiteren Beziehung zu dieser Person, und da kann es dann auch zu Brüchen kommen.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis vom Umgang mit Jungen-, Männer- und Väterthemen?
Auf der einen Seite das Nichtreflektieren von unterschiedlichen Lebensumständen und die mangelnde Wahrnehmung bezüglich unterschiedlicher Betroffenheiten, auf der anderen Seite das Wissen darum, dass sich das Leben in der Regel nicht als schwarz/weiß-Schablone darstellt. Wir wachsen alle in Strukturen und Systemen auf und bewegen uns darin. Dadurch nehmen wir unterschiedliche Positionen ein und haben auch unterschiedliche Privilegien. Diese Privilegien können sich aber auch verändern, im Sinne von gewinnen, verlieren, ausweiten und auch wiederum einschränken.

Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deiner Arbeit an?
Zu merken, dass mein »Hauptbusiness« – nämlich: in Beziehung gehen – immer noch funktioniert und mir sehr viel Freude und Erfüllung bereitet. Kindern und Jugendlichen wird viel zu wenig zugehört, Adultismus ist oft das Metathema. In unseren Workshops zum Thema »Sexismus und sexualisierte Gewalt« wurde das 2023 wieder sehr deutlich.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest? Und was möchtest du gegen Ende deines Lebens erreicht haben?
Ich würde gerne mehr zum Thema »Mobbing« mit Jungen* arbeiten, auch zum Thema »Beziehung« bzw. Liebesbeziehung, Wünsche und »Lebens«-Träume. Das passiert einfach zu wenig. Und vor allem Fachkräfte schulen, die mit »cis hetero Jungen« und männlichen Jugendlichen arbeiten und hier oft an ihre Grenzen kommen. Am Ende meines Lebens möchte ich das Gefühl haben, ein erfülltes Leben gehabt zu haben. Zum jetzigen Zeitpunkt, glaube ich, bin ich auf einem guten Weg dahin.

Eine nicht gestellte Frage, die du aber dennoch gerne beantworten möchtest?
Ja: Wie steht es mit dem Thema »Konkurrenz und Machtverhältnisse« innerhalb der »Szene«? Darüber würde ich mich gerne einmal mit Kolleg*innen austauschen, da diese Frage nicht oft reflektiert wird. Ich stelle mir interessante Resonanzen vor und Gedanken, die uns auch weiterbringen.
 
 

 
 
 
 
:: Marc Melcher, Jg. 1973, arbeitet in Frankfurt am Main und lebt auch dort in der Nähe. Von 2000 bis 2009 arbeitete ich in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in Hanau bei der evangelischen Kirche. Seit 2009 bin ich Bildungsreferent beim Paritätischen Bildungswerk Bundesverband mit den Themenfeldern: Jungen*arbeit, Genderpädagogik in Kita, Hort und OKJA, und ich bin Berater für den Early Excellence-Ansatz im Elementarbereich. Ich gebe Fortbildungen in meinen Themenfelder für Fachkräfte und führe dort immer wieder Projekte/Workshops in »koedukativen« und »homogenen« Settings mit Kindern und Jugendlichen durch, um die daraus gewonnen Praxiserfahrungen in die nächsten Fort- und Weiterbildungen einfließen zu lassen; in einem Interview mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung konnte ich mein Verständnis dazu etwas ausführen. Freiberuflich bin ich darüber hinaus Referent bei der Sinus Akademie für deren Jugendstudie und führte 10 Jahre lang den Boys’Day an der Frankfurt University of Applied Sciences mit Studierenden durch. Ehrenamtlich bin ich seit mittlerweile 10 Jahren im Vorstand der Bundesarbeitsgemeinschaft Jungen*arbeit.

»Leidenschaftlich und zielstrebig in der Sache, aber auch vorsichtig, mit Rücksicht und behutsam.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Karl-Heinz Michels, Ruderting

Leitfragen: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos (Ipomea tricolor, Portrait): Karl-Heinz Michels

 
Seit 1982 beschäftige ich mich in Männergruppen, auf Männertreffen, in antisexistischen Arbeitskreisen, in Seminaren über Männergewalt und in Beiträgen für verschiedene Männerzeitungen mit dem Thema Männlichkeit. Einige Jahre habe ich sogar beruflich in der Jungen- und Männerarbeit mein Geld verdient. In diese Zeit fiel auch das Ende »unserer« letzten Männerbewegungs-Zeitung »Moritz«. 1998 und 1999 habe ich im Alleingang versucht, mit »Moritz II.«, »äM für eine neue Männerkultur« und ein namenloses drittes Heft die Tradition, die mit »HerrMann« in den 1980er Jahren in Berlin begonnen hatte, zu retten. Damit sehe ich mich als Randfigur in der professionellen Männerszene, zähle mich selbst aber auf jeden Fall zu den Veteranen des Widerstands gegen die Männerherrschaft.

Der erste Mann meines Lebens, mein Vater, erlebte mit 15 den Zusammenbruch des Nazi-Reichs, war Maurer, ernährte mit seiner Arbeit eine bald 7-köpfige Familie, geriet aber vor lauter Arbeit schnell an den Rand, war der Außenposten in einer Familie von Mutter, drei Jungs, zwei Mädchen. 1950er Jahre, Nachkriegszeit: Wir alle in einem halben Bauernhaus in 2 Zimmern, Küche, Plumpsklo und Badewanne in der Scheune, etwas abseits des Dorfes (Mutter Flüchtling). Es war eng, niemand hatte ein eigenes Bett oder einen eigenen Platz, allein war man nur auf dem Klo. Jeder hatte ab einem bestimmten Alter seine Aufgaben im Haushalt, Garten, Acker. Ein warmer Stall, viel Nähe, viel Gefühl, auch viel Streit, Prügel, Arbeit. Ich war mit meinem 18 Monate älteren Bruder zuständig für den kompletten Abwasch, die jüngeren Geschwister beaufsichtigen, den Kartoffelacker, die Tiere (zwei Schweine, ein Schaf, viele Gänse, Enten, Hühner, Puten, Kaninchen, Katzen), die Kartoffelschalen jeden Abend zum Nachbarn zu tragen, dort Milch, Zeitung und manchmal Tomaten holen.
Junge? Männlich? Zuhause waren wir »die Jungs«. Beim Fußball und Eishockey und auf dem Schulweg nur Jungs. Zuhause waren »die Jungs« zuständig, wenn die Mutter nicht konnte: Windeln wechseln, wunde Kinderpopos cremen, pudern, Milchflaschen temperieren und verfüttern, abwaschen, fegen, Blumen- und Gemüsebeete jäten, Bohnen schnippeln, Johannisbeeren, Stachelbeeren, Kirschen, Pflaumen, Äpfel ernten und verarbeiten … Jungs schon! Mädchen waren fremde Wesen oder kleine Geschwister in Windeln.

Diese laute und lebendige Kindheit ist mir trotz Armut eine schöne Erinnerung. Wäre da nicht am Rande dieser Vater, der Mann als Außenposten in diesem warmen Familienstall, einsam, unzugänglich, gewaltig, bedrohlich. Von daher wohl meine ersten Zweifel an Männern, Mannsein, Männlichkeit. Junge sein war selbstverständlich, hatte aber wenig mit dieser »Männlichkeit« zu tun, die Väter und Onkel damals vorlebten.

Dann die Jugend als kompletter Ausfall: Umzug aus dem warmen engen Stall in ein selbst gemauertes kleinbürgerliches Haus, jeder sein eigenes Bett, seinen Arbeitsplatz, rausgerissen aus der Dorfgemeinschaft der Kindheit. Die jüngste Schwester krank, behindert, dann mit 6 Jahren gestorben. In der Schule Außenseiter, Prolet, kein Bildungsbürger, Fußballer, sonst gar nichts. Wo sollte Jugend da stattfinden? Männlichkeit nur als Negativ des tobenden, brüllenden, schlagenden Vaters. Und im Begehren von unerreichbaren und fremden Mädchen. Bei der Bundeswehr noch schlimmer: Junge Männer, Prügel, Sauforgien und sexistische Sprüche pur. Ich setzte mich von diesen rohesten Formen von Männlichkeitsgebaren ab, war das Weichei, der Schwuli, der Gebildete, der Votzenlecker …. außer beim Fußball.

Mit diesem ausgesprochen negativen Männerbild geriet ich an der Uni in die Hoch-Zeit der Frauenbewegung: Frauen-WGs, Frauengruppen, Frauenhäuser, Frauenschutzräume gegen die Gewalt der Männer (ich hätte auch gerne so einen Schutzraum gehabt). Und: alle Männer sind potentiell Vergewaltiger, profitieren von der Unterdrückung der Frauen und vom Männer-Bonus – ich auch! Ich geriet in eine Welt, in der ich mich mit Frauen solidarisierte und von Männlichkeit immer weiter entfernte, ohne einen Ansatz für eine eigene andere männliche Identität zu finden. Und dann auch noch von Frauen beschuldigt, verlacht und ausgegrenzt wurde, Ina Deters Kampflied »Neue Männer braucht das Land« habe ich noch im Ohr.
Politisch und öffentlich überzeugter Antisexist, war ich privat und emotional als Mann kaum greifbar. Beziehungen mit Feministinnen mehr Schuld als Lust, nie von Dauer. Der klassische Softie?

Diese Leerstelle, wie ich denn sein könnte und sollte, der neue antisexistische Mann, eigentlich ein (negatives) schwarzes Loch, sehe ich heute in der Rückschau als Quelle für meine seit damals kontinuierliche Beschäftigung mit dem Thema Männer.

Abarbeiten dieser Agenda: Privat und ehrenamtlich in Männergruppen, kontinuierlich von 1982 bis 2002, seit 1985 bis 2012 fast jedes Jahr beim bundesweiten Männertreffen, 1985 bis ca. 1990 Arbeitskreis antisexistischer Männer, Beiträge in den Männerzeitungen »HerrMann«, »Informationsdienst antisexistischer Männer«, »Moritz«, »Switchboard«, Chronist und Fotograf auf den bundesweiten Männertreffen bis 2012, im Orga-Team des Männertreffens 1996 in Finsterau/Bayernwald. Beruflich Teamer bei antisexistischer Jungenarbeit in der HVHS Frille, Referent zum Thema Jungenarbeit in Bildungseinrichtungen, 1999 bis 2002 Einzelbetreuung von Jungen und jungen Männern in einem sozialtherapeutischen Jugendhilfeprojekt. Brotberuf Biolehrer, dort immer für die Sexualkunde zuständig, als Klassenlehrer stets an der Genderfrage orientiert. Ein anderes Männerbild vorleben.

Soweit aus meiner Biografie und zur Frage meiner Zugänge zu Jungen-, Männer-, Väterthemen. Meine Hauptthemen waren und sind jedoch Gewaltfreiheit, Ökologie und eine Alternative zu den vorgeschriebenen Lebenswegen unserer gewalttätigen Gesellschaft finden. Ein Kernzitat aus Karin Struck’s »Klassenliebe« (das erste »Frauenbuch«, das ich las) ist mir zu all dem noch wichtig und galt damals wie heute: »Ich denke, wenn das Verhältnis des Menschen zur Natur ein räuberisches ist, dann ist es auch das des Mannes zur Frau, und umgekehrt. Seit dem siebzehnten Jahrhundert spätestens ist das Verhältnis zur Natur ein total räuberisches, wohl historisch notwendig wie die Unterjochung des Proletariats. Ja? Und jetzt? Ist nicht schon längst der Zeitpunkt da, wo beide Unterjochungen anachronistisch sind?« (S.23).

Die Themen meiner »Männer«zeit waren (a) Männergewalt: gegen Kinder, Frauen, Homosexuelle, und (b) Sexismus = Diskriminierung, Benachteiligung, Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen, Mädchen und Weiblichkeit, inklusive eigener Positiv-/Negativ-Bilder von »Frau« und »weiblich«, d.h. eigene sexistische Vorurteile und Verhaltensweisen – deckt sich also ziemlich mit meiner Biographie.

Das Lager innerhalb der Männerbewegung, zu dem ich mich zählte und gezählt wurde: profilierter Antisexist mit offenem Ohr für Mythopoeten, Abgrenzung von Maskulinisten aller Art, Unterstützer des Feminismus. Anfangs war es die persönliche Betroffenheit, in Männergruppen, dann verstärktes Interesse an Öffentlichkeit, Diskurs und Profilierung einer antisexistischen männlichen Position; dabei Auseinandersetzung und Abgrenzung zu männerrechtlichen Positionen, Maskulinisten und anderen Versuchen, traditionelle Männerstereotypen wiederzubeleben und gegen die Frauenbewegung ins Spiel zu bringen.
Heute frage ich mich, ob angesichts der Komplexität und Vielfalt all meiner Beziehungen Geschlechtsidentität überhaupt noch von Bedeutung ist, und ob es nicht ein persönliches Moment gibt, sich daraus zu befreien und nur noch man selbst zu sein, mit weichen, harten, zweifelnden, lustvollen und selbstkritischen Anteilen.

Besondere Ereignisse in diesem Zusammenhang, die meinem Leben Sinn gegeben haben? Auf jeden Fall die Organisation und Durchführung des bundesweiten Männertreffens im O-Team 1996, männerpolitisch mein größtes Erfolgserlebnis. Und dann kommt schon meine Frau – jetzt im 35. Jahr meine Homebase für mein Leben als Mann?

Wichtig auch die Maueröffnung und Wiedervereinigung 1989/90 und die Erweiterung des bundesweiten Männerdiskurses durch »die ostdeutschen« Männer – endlich Männer, mit denen ich mich unbedenklich herzlich verstehe. Erst da wurde mir bewusst, wie stark auch in meinen (politischen) Männerbeziehungen mir der Klassismus immer schon Unbehagen beschert hat.

Eigenschaften, die mich in der Arbeit ausmachen? [1] »Verfolgt seine Ziele mit sanftem Ingrimm« (wie Holger Karl einmal bemerkte), kann aber auch hinschmeißen, wenn’s gar nicht passt. [2] Absolut zuverlässig, stur und treu. [3] Leidenschaftlich und zielstrebig in der Sache, aber auch vorsichtig, mit Rücksicht und behutsam. [4] Lange litt ich daran, dass ich mir meiner Männlichkeit nicht gewiss war. Heute schätze ich eher die Unsicherheiten als die Gewissheiten und genieße meine undefinierte Männlichkeit in der Schwebe über allen Normierungsversuchen.

Jetzt sehe ich in der Rückschau, wie aus dem harten antisexistischen Widerstandskämpfer gegen das Patriarchat ein gemütlicher alter Herr geworden ist. Jetzt glaube ich, dass ich bin, wie ich bin und kann mich über diese Geschlechter-Schubladen auch mal lustig machen. Dass ich männlich bin, spielt nur selten eine bewusste Rolle – ich halte mich nicht gern in einer Schublade auf. Und kaufe lieber mit meiner Frau Schuhe und Kleidung für sie – die Männerabteilungen sind dagegen so langweilig.
Ich habe es heuer geschafft, 1 von 9 Erdnüssen zum Keimen zu bringen, geerntet habe ich 5 Nüsse. Also keine Karriere als Erdnussbauer in Sicht.
Das bundesweite Männertreffen ist neben meiner SoLaWi / Solidarische Landwirtschaft die einzige Institution, der ich mich verbunden fühle.

Was die Männer ausgemacht hat, mit denen ich gerne zusammen war und zusammengearbeitet habe? Sie sind/waren für mich attraktiv, nahbar und leidenschaftlich an ihrer Sache. Und meine Lebensphilosophie: Ich bin geboren, das ist ein Geschenk, hier so zu sein, wie ich gerade bin.

In der Männerbewegung habe ich mich immer wieder gegen Professionalisierung und Gewerblichkeit abgegrenzt und gewehrt, weil ich alles als mein persönliches, idealistisches und privates Engagement betrieben habe und mich dann vereinnahmt und ausgenutzt fühlte. Negativbeispiel ist der Streit der Hamburger »MgM«-Männer mit »Jedermann« in Heidelberg – »Männer gegen MännerGewalt« als geschützter Markenname? Und die vielen Gespräche, wo es beim Netzwerken dann auch immer um Einkommensperspektiven, Gelder, Fördertöpfe ging. Naja, ich habe mich gottseidank ausklinken können, allerdings mit Verlusten.

Was mir in der Männersache eher Steine in den Weg gelegt hat? Dass wir sehr sehr unterschiedlichen Kulturen, Klassen, usw. entstammen und noch größere Interessenunterschiede haben – Männlichkeit ist eben doch keine per se einigende Idee. Und das ganze Gerede von Identität, Authentizität, Geltungssucht, das unsere Beziehungsfantasien hegemonialisiert. Da lerne ich umdenken.

Was mich antreibt? Nichts mehr. Ich bin Rentner und Pensionär und arbeite nur noch an selbstgewählten und »eigenen« Projekten, also ohne Antreiber und nicht mehr als Getriebener. Liebster Lohn für meine Arbeit sind gelungene herzliche Beziehungen.

Welches Projekt ich noch gerne umsetzen möchte? Mein Blumenbuch veröffentlichen und ein Blumenmuseum einrichten.

Und eine nicht gestellte Frage, die ich aber dennoch gerne beantworten möchte? Ja: Was war (bisher) meine größte Torheit im Feld von Männer- und Jungenarbeit? Zu glauben, es gäbe eine männliche Identität, nach der zu suchen und darüber zu streiten sich lohnte.
 
 

 
 
 
 
 
 
:: Karl-Heinz Michels, geb. 1952 im Emsland, verheiratet, keine Kinder. Berufe: Lehrer, SozialPädagoge, Fotograf, Schreiber, Rentner, Pensionär. Spezielles Interesse: Kulturgeschichte heimischer Blütenpflanzen. Und Erich Kästner’s »Es gibt nichts Gutes, außer man tut es«

»Wege und Möglichkeiten erkunden, wie Vaterschaft auch unter widrigen Umständen gelingen kann.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Hans-Georg Nelles, Düsseldorf

Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: Ahmed Akacha, pexels.com | privat

 
Was war oder ist dein persönlich-biografischer Zugang zur Väterthematik? Was dein politisch-thematischer Zugang?
Ich habe drei Zugänge zur »Väterthematik«. Der erste sind meine persönlichen Erfahrungen und Auseinandersetzung mit meinem Vater und meinem Großvater mütterlicherseits und der Entschluss, zumindest zu versuchen, es »besser« zu machen. Der zweite Zugang war dann meine eigene Vaterschaft. Ich wollte auf jeden Fall Vater werden; da es unerwartet schnell »geklappt« hat, bin ich dann mit 27 Jahren, mitten im Studium, zum ersten Mal Vater geworden. Der dritte Zugang war dann eine interne Stellenausschreibung meines damaligen Arbeitgebers, es wurde ein Mann für das Projekt »situationsgerechte und passgenaue Qualifizierung für Mütter und Väter im Erziehungsurlaub« gesucht. Ich habe die Stelle bekommen und konnte die »Mütterzentrierung« dieses Themas Stück für Stück irritieren und bin heute einer der »Dienstältesten« in diesem Feld.

Was waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Vätern?
1997 und in den Jahren unmittelbar danach ging es zunächst darum, in Unternehmen und Gesellschaft Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Väter mehr wollen als Ernährer zu sein. Während die erste Männer-Studie von Helge Pross aus dem Jahr 1978 noch belegte, dass alles in traditioneller Butter ist, machte die sieben Jahre später durchgeführte Brigitte-Studie »Der Mann« schon deutlich, dass sich zumindest ein Teil der Männer und Väter auf den Weg gemacht hatte. Davon zeugt auch »Das Väterbuch« aus dem Jahr 1982. Aber trotz dieses, auch durch die Einführung des Erziehungsurlaubs im Jahr 1979 beflügelten ersten Aufbruchs der Väter hat es noch weitere 20 Jahre gedauert, bis die Diskussion im Mainstream angekommen ist. Ich habe aber den Eindruck, dass – ähnlich wie in einer KiTa, in der jedes Jahr die gleichen Themen neu diskutiert werden – auch das Bewusstsein und vor allem die Haltungen zur Bedeutung von Vätern und Vaterschaft nur langsam durchsickert und immer wieder neu begründet werden muss.

Wie hat sich dein Engagement für Väter entwickelt, ggf. verändert?
Mein Engagement in diesem Themenfeld hat sich im Laufe der Zeit von der unmittelbaren Arbeit mit Vätern in den verschiedensten Zusammenhängen hin zu einer »Lobby- und Beratungsarbeit« für Väterthemen entwickelt. Als Referent in der Geschäftsstelle der LAG Väterarbeit NRW und in der Koordination des Verbundprojekts »Jugendliche Väter im Blick« stehen außerdem Öffentlichkeitsarbeit und Vernetzung im Vordergrund.

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche/historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Das nachhaltigste Ereignis war die Ankündigung von Renate Schmidt im Herbst 2004, in der nächsten Legislatur einen »Vätermonat« nach schwedischem Vorbild einführen zu wollen. Nach der NRW-Wahl 2005 kam alles anders, und nach einer vorgezogenen Bundestagswahl brachte Ursula von der Leyen als neue Familienministerin zwei Partnermonate ins Spiel und die gesellschaftliche Diskussion in Sachen Väter entwickelts eine bis dahin ungeahnte Dynamik, die uns »Väterarbeitern« einen kräftigen Rückenwind und nach der Einführung des Elterngeldes zum 1. Januar 2007 auch eine große mediale Aufmerksamkeit bescherte.

Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deinen privaten und/oder beruflichen Beziehungen?
Männer können ja angeblich nicht reden, erst recht nicht über ihre Gefühle, so die landläufige Zuschreibung. Im Rahmen meines ersten Väterprojektes habe ich in verschiedenen NRW-Unternehmen Väterrunden organisiert. Väter aus diversen Branchen kamen in einer verlängerten Mittagspause zusammen und haben über Herausforderungen ihrer Vaterschaft gesprochen. Am Ende der 90 Minuten, die wie im Fluge vergingen, waren alle jedes Mal erstaunt, dass Mann – obwohl sich alle vorher nicht kannten und es nichts (Alkoholisches) zu trinken gab – so intensiv ins Gespräch gekommen ist und auch über Sorgen, Nöte und Schwächen geredet hat.

Drei Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit oder Beziehungen zu anderen ausmachen?
Ausdauer, Optimismus und Kooperationsbereitschaft.

Was ist für dich »Erfolg« in deiner Auseinandersetzung mit Väterthemen? Hast du Beispiele?
Wenn ein Vater – auch gegen eigene Zweifel und/oder Widerstände aus dem familiären oder betrieblichen Umfeld – sich die (Eltern)Zeit nimmt, die er haben möchte, und gestärkt durch die eigenen Erfahrungen auch andere (werdende) Väter in seinem Umfeld dazu inspiriert und ermutigt.

Was gibt dir persönlich Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen?
Dass ich eigene Erfahrungen und Erkenntnisse weitergeben kann und durch die Arbeit mit den Vätern permanent dazulerne und auch selber in Frage gestellt werde. Das gilt insbesondere auch in der Beziehung zu meinen Kindern und den Enkel*innen.

Was ist dir (mit) gelungen, worauf bist du (zusammen mit anderen) vielleicht auch stolz?
Da fallen mir zuerst die drei thematischen Netzwerke ein, die ich mit engagierten Kollegen gegründet habe: 2005 das Väter-Experten-Netz VEND-eV. Gemeinsam mit Eberhard Schäfer und Martin Rosowski haben wir dann 2007 angefangen, Partner und potenzielle Mitglieder für ein Bundesforum Männer zusammenzubringen; im November 2010 gab es dann die offizielle Gründung. Das dritte Netzwerk ist die schon genannte LAG Väterarbeit NRW, die wir gemeinsam mit 22 Organisationen nach zwei Jahren Vorarbeit im Januar 2016 gründeten.

Mit welchen Institutionen und Personen warst du gerne beruflich oder privat verbunden oder bist es noch?
Außer den bereits genannten Netzwerken und Personen ist für meine Arbeit mit Vätern Harald Seehausen aus Frankfurt besonders wichtig, er beschäftigt sich seit den 1980er Jahren mit Väterarbeit und mit dem Aktionsforum Männer und Leben haben wir im Zeitraum 2005 bis 2016 sechs Impulstagungen in Frankfurt organisiert. Ein weiterer Kollege, den ich über die Arbeit in der Fachgruppe Väter des Bundesforum Männer kennen und schätzen gelernt habe, ist Holger Strenz aus Dresden. Er hat mir Zugänge zu den Anliegen und Sichtweisen von Vätern in den »neuen« Bundesländern eröffnet.

Was hat die Männer/* ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast?
Diese Kollegen hatten ebenfalls Interesse daran, Anliegen von Vätern voranzubringen, Väter zu ermutigen und sie bei ihrem Vatersein zu unterstützen – und weniger daran, sich damit selbst zu profilieren und in den Vordergrund zu stellen.

Hast du eine Lebensphilosophie, ggf. ein Lebensmotto?
Es ist immer besser, mehr als zwei Möglichkeiten zu haben.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis vom Umgang mit Väterthemen?
Die größten Widerstände sehe ich für mich in einer nach wie vor »mütterzentrierten« Familienpolitik, die die Bedeutung von Vätern für die Entwicklung von Kindern nicht sieht oder sogar leugnet. Dies fängt bei der Anerkennung der Vaterschaft an und hört bei der Erwerbsobliegenheit beim Unterhalt noch lange nicht auf.
Dieser «Mindset« erschwert es Vätern (und Müttern), gleichberechtigte und geschlechtergerechte Vaterschaft nicht nur zu wollen, sondern auch zu leben.

Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deiner Arbeit an?
Mein (fast) unerschütterlicher Optimismus und die Erfolge, die ich im Rückblick auf über 25 Jahre doch beschreiben kann.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest? Und was möchtest du gegen Ende deines Lebens erreicht haben?
Mit meinen gut 66 Jahren bin ich ja schon in der »Verlängerung«, um die laufenden Projekte gemeinsam mit den Kollegen gut abzuschließen. Ich kann mir gut vorstellen, im Anschluss daran gemeinsam mit Vätern in und aus prekären Lebenslagen in einem Projekt Wege und Möglichkeiten zu erkunden, wie Vaterschaft auch unter widrigen Umständen gelingen kann. Und ja, zufrieden bin ich, wenn paritätische Elternzeiten als Katalysator für eine gleichmäßige Aufteilung von Mental Load und Financial Load wirken, Care und Erwerbsarbeit also geschlechtergerecht aufgeteilt sind bzw. aufgeteilt werden können.

 
 

 
 
 
 
 
:: Hans-Georg Nelles, Vater von drei erwachsenen Kindern und vier Enkelkindern, ist Sozialwissen¬schaftler, Erwachsenenbildner und systemischer Organisationsberater. Seit 1998 ist er beruflich im Themenfeld »Vereinbarkeit von Beruf und Familie« engagiert. Seit 2008 als Organisationsberater und Autor mit Väter & Karriere freiberuflich und ab Juli 2018 auch als Väterexperte für den SKM Bundesverband e.V. und als Vorsitzender der LAG Väterarbeit NRW tätig. Außerdem ist er Autor des Vaeter.Blog und twittert unter @Vaeter.

»Visionssuchen halfen mir dabei, meinen inneren Vaterkonflikt zu klären und als Mann nachzureifen.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Peter Maier, Kühbach b. Augsburg

Mann allein am Strand

Leitfragen: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: cw-design, photocase.de | privat

 
Kindheit in der Nachkriegszeit

Geboren bin ich 1954 in einem Dorf in Ostbayern. Mein Vater war Hitlerjunge, die Propaganda der Nazi-Zeit hatte ihn total verblendet. Einmal gestand er mir, dass er noch bis zum 1. Mai 1945, kurz bevor die Amerikaner einrückten, jeden im Dorf mit seiner Pistole erschossen hätte, der etwas gegen Hitler gesagt hätte. Obwohl mein Vater sich deswegen im Nachhinein sehr schämte und sich innerlich von der Nazi-Ideologie lossagte, war meine Erziehung durch ihn dennoch sehr autoritär geprägt. Und es gab für mich mehrere heftige Gewalterfahrungen durch meinen Vater.

Mein Vater hatte einen Doppelberuf: Er war Landwirt und Viehhändler und es war sowohl ihm als auch mir seit frühester Kindheit an sonnenklar, dass ich als sein Erstgeborener einmal in seine Fußstapfen treten sollte. Daher war es für mich ein Schock und ein totaler Bruch in meiner Biographie, als mein Vater mich nach der 5. Klasse Volksschule plötzlich gegen meinen Willen aufs Gymnasium schickte. Die nächsten neun Jahre war ich als Fahrschüler täglich zwei Stunden auf der Strecke – ins 31 Kilometer entfernte Gymnasium des Nachbarlandkreises. Mein jüngerer Bruder sollte nun einmal den Hof übernehmen, mein Vater wollte mich nicht mehr zu Hause haben. Ich war draußen aus dem Hof, raus auch aus der männlichen Ahnenlinie und irgendwie auch aus der Familie, die von meinem Vater geprägt und total dominiert wurde.

Als mich mein Vater dann in der 7. Klasse wegen der Note Drei in einer Erdkunde-Arbeit kritisierte, packte mich eine heilige Wut und ich beschloss, nun Tag und Nacht für die Schule zu lernen und zugleich täglich im großen Hof mit damals großem Stall voll Vieh mitzuarbeiten – 365 Tage im Jahr. Ich wollte meinem Vater zeigen, was ich draufhabe und sein Kritiker-Maul ein für alle Mal stopfen. Mein Vater war nun am Beginn meiner Pubertät zu meiner größten Herausforderung im Leben und zu meinem größten Gegner geworden, den ich täglich durch gute Leistungen und viel Arbeit auf dem Hof niederzukämpfen versuchte. Dies gelang wohl auch, hatte aber zur Folge, dass ich zu einem Lern- und Arbeitsroboter wurde. Meine Pubertätsentwicklung fand, da vollkommen auf den Vater und auf die Arbeit fixiert, hauptsächlich im Verborgenen statt.

Im Alter von 17 Jahren gab es dann den nächsten Schock für mich: Da mein Vater erkannte, dass ich für ihn auf dem Bauernhof sehr nützlich war, wollte er, dass ich nun nach dem Erwerb der Mittleren Reife das Gymnasium sofort verlassen und bei ihm zu Hause »einsteigen« sollte. Als »Bauernbub« hatte ich mich in der fernen Schule mühsam durchgebissen und ein gutes Zeugnis erreicht. Dieses war jedoch für meinen Vater plötzlich nichts mehr wert. Denn es hatte sich herausgestellt, dass mein jüngerer Bruder für das Bauer-Sein doch nicht geschaffen war. Nun wollte der Vater wieder mich als seinen potentiellen Nachfolger zu Hause haben.

Doch diesmal wehrte sich etwas in mir. Ich fühlte mich wie eine Schachfigur, die von meinem Vater auf dem »Brett seiner Lebensplanung« in autoritärer Weise beliebig herumgeschoben werden sollte. Ich war doch nicht sein Besitz! Ich sagte gar nichts und blieb stur am Gymnasium, machte ein sehr passables Abitur und leistete anschließend sofort meinen 15-monatigen Wehrdienst als Sanitäter ab. Mir war aber klar, dass diese Zeit nur eine Art von Moratorium für mich war: Denn das Damoklesschwert des Bauernhofes und der Erwartungen meines Vaters an mich hingen die ganze Zeit drohend über mir. Was sollte ich nun tun?

Ich gehe meinen eigenen Weg

Kurz vor der Entlassung aus der Bundeswehr 1975 forderte mich mein Vater an einem Samstag im Juni erneut offensiv auf, dass ich nach Ende des Wehrdienstes bei ihm auf dem Hof »einsteige« – als Abiturient ohne jede Lehre oder berufliche Ausbildung. Da brach es, selbst für mich unerwartet, aus mir heraus: »Vater, ich möchte mich mit Menschen beschäftigen und nicht mit Feld und Vieh!« Raus war es. Das waren die ultimativen Trennungsworte zwischen meinem Vater und mir. Mein Satz war ein Schlag für uns beide – für meinen Vater und für mich selbst. Denn eigentlich wäre ich gerne Bauer geworden, ich wusste aber, dass ich zu Hause immer nur der Knecht oder sogar der Leibeigene meines autoritären Vaters sein würde und nie ein eigenes Leben neben ihm entwickeln konnte. Ich musste unbedingt von ihm weg.

Nun aber kamen auch aus meinem Vater ebenfalls todernste Worte, die viele Jahre in mir nachhallten: »Ja so einen wie Dich kann ich hier nicht brauchen! Wenn Du schon diese sichere Existenz des Bauernhofes ausschlägst, dann sieh zu, dass Du eine Arbeit findest, mit der Du zu hundert Prozent Deine Existenz sichern kannst!« Das empfand ich als eine starke Drohung und als Abwertung meines anderen Weges, den ich ab jetzt gehen wollte.

In diesem Moment spürte und wusste ich zweierlei: Zum einen hatte mich mein Vater, der vollkommen mit seinem Hof identifiziert war, ab jetzt total fallen gelassen. Für ihn war ich nichts mehr wert und wie gestorben. Jede Vaterliebe, die Vaterenergie, die Vaterkraft in mir und der Vatersegen waren aus mir gewichen. Mein Vater stand nicht mehr hinter mir, für ihn war ich ein Versager, ein Feigling, ein Verräter, der sich aus der Familie und der Verantwortung davonstiehlt. Ein junger Mann hat es aber sehr schwer, auf eigene Mannes-Beine zu kommen, wenn ihm diese Vater-Qualitäten entzogen werden und fehlen.

Zum anderen wusste ich, dass ich ab jetzt vollkommen auf mich allein gestellt und ohne jede moralische Unterstützung durch meinen Vater war. Ich wollte Gymnasiallehrer werden und musste mich an der Uni ganz alleine durchkämpfen. Zudem waren die Aussichten auf eine Anstellung als bayerischer Gymnasiallehrer damals sehr schlecht, es gab nur weniger Stellen, wenn ich mit Studium und Referendariat fertig sein würde. Auf keinen Fall aber wollte ich auf den Bauernhof meines Vaters zurückkehren, falls es beruflich als Pädagoge nicht klappen sollte.

Angetrieben von Existenzangst und der Drohung des Vaters schaffte ich das 1. Staatsexamen in meinen beiden Fächern Physik und Katholische Religionslehre mit Bravour. Vor dem Referendariat wollte ich mir jedoch einen lange gehegten Wunsch erfüllen: Ich ging 1981 für ein halbes Jahr auf eine Missionsstation in einem kenianischen Buschdorf. Dort war ein früherer Religionslehrer von mir, ein Comboni-Missionar, in der Erst-Evangelisierung afrikanischer Stämme tätig. Mehrere Monate lang machte ich in der benachbarten staatlichen Secondary School meine ersten Gehversuche als junger Lehrer. Das war inspirierend und der ganze Auslandsaufenthalt bedeutete im Grunde den nächsten wichtigen Schritt in meiner Ablösung (Initiation) von meinen Eltern.

Schwierigkeiten als Lehrer mit Jungen

Als ich dann jedoch im September 1981 mit dem Referendariat begann, wehte mir ein sehr kalter Wind an bayerischen Gymnasien entgegen. Aufgrund der guten Noten im 1. Staatsexamen bekam ich 1983 doch noch eine feste Beamtenstelle. Nun war meine berufliche Existenz gesichert. Aber nun begann meine Not. Denn ich hatte immer wieder große Schwierigkeiten im Unterricht, vor allem mit Jungen. Sie erkannten meine Autorität als Lehrer nicht an, rebellierten und versuchten laufend, meinen Unterricht zu stören. Jetzt rächte es sich, dass ich keine wirkliche Jugend gehabt hatte wie die meisten meiner Altersgenossen im Dorf. Als Fahrschüler ins weit entfernte Gymnasium und durch die tägliche Arbeit auf dem Bauernhof war ich der Dorfgemeinschaft und meinen Kumpeln aus der Volksschulklasse vollständig entfremdet worden. Ich musste mir jetzt schmerzlich eingestehen, dass ich meine Pubertät nie richtig durchlebt hatte. Daher konnte ich mich auch nicht so richtig in die Lage von Jungen in ihrer Pubertät einfühlen. Was wollten sie bloß von mir?

Heute ist mir vieles klar: Die Jungen suchten damals Stärke, Coolness, Humor und vor allem Orientierung und Anerkennung durch einen männlichen Lehrer. Sie wollten und brauchten für ihre Persönlichkeitsentwicklung einen »starken« Lehrer, an dem sie sich reiben konnten und der in der Lage war, ihnen Grenzen zu setzen. Doch was ist ein starker Lehrer? Offensichtlich strahlte ich diese Stärke überhaupt nicht aus. Die Jungs wollten testen, ob ich ihnen und ihrer geballten Jungen-Energie gewachsen war. Und sie waren bedürftig nach männlicher Energie und suchten Zuwendung, Klarheit und Kraft, um sich an mir als männlicher Bezugsperson auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden orientieren zu können. Das konnte ich ihnen aber aufgrund meiner eigenen Defizite nicht bieten und ihre starken Energien machten mir große Angst. Diesen war ich kaum gewachsen.

Den Jungs war es aber egal, woher ich kam und was ich fühlte. Sie hatten kein Verständnis für mein eigenes, mir selbst noch unbewusstes unterschwelliges Bedürfnis nach Zuwendung und Mitgefühl. Da dieses von meinem eigenen Vater nie wirklich gestillt worden war, suchte ich die Anerkennung fälschlicher Weise bei den Jungen in meinen Klassen. Verkehrte Welt! Wir waren also in unserem Bedürfnis nach männlicher Anerkennung und Zuwendung zu Konkurrenten geworden.

Das konnte nicht gut gehen und darum suchte ich schon bald nach Beginn meines Referendariats nach Hilfe: Zehn Jahre lang machte ich berufsbegleitend eine ambulante Psychotherapie – zunächst fünf Jahre lang als Einzeltherapie, später zusätzlich auch als Gruppentherapie und das zwei Mal pro Woche. So konnte ich viele Defizite aus meiner eigenen Jugendzeit erkennen und heilen. Das half mir sehr und ermöglichte es mir, in meinem Beruf stabil zu bleiben. Dennoch vermisste ich etwas Entscheidendes in meinem Beruf, aber ich konnte lange nicht wirklich sagen, was dies war.

Die Initiations-Thematik ändert alles

Dies änderte sich erst, als ich um die Jahrtausendwende auf die Initiations-Thematik stieß. In zwei Workshops mit dem afrikanischen Schamanen, Männer-Initiator und Buch-Autor Malidoma Patrice Somé 2001 und 2002 war ich ausschließlich mit Männern zusammen und konnte erleben, dass ich mit meinem Vaterkonflikt nicht alleine war. Fast alle waren auf der Suche nach sich selbst als Person, vor allem aber als Mann. In diesem Kreis von Männern fühlte ich mich angenommen und geborgen. Das war neu für mich und sehr wohltuend. Daher war ich anschließend auch drei Jahre lang Mitglied in einer Malidoma-Männer-Gruppe in München, die sich nach dem zweiten Workshop gebildet hatte.

Fast zeitgleich nahm ich an drei Visionssuchen in der Tradition der amerikanischen School of lost Borders teil, in den Jahren 2000, 2003 und 2007. Jedes dieser elementaren Rituale in der Natur dauerte 12 Tage. Der Kern davon war jeweils die sogenannte »Solozeit«, eine Auszeit von vier Tagen und Nächten ganz allein in der Natur ohne Essen, ohne Zelt und ohne alle Kommunikationsmittel wie dem Handy, unsichtbar für alle anderen Menschen. In diesen jeweils 100 Stunden Alleinsein in einer Art von »Anderswelt« war ich ganz auf mich gestellt und mit mir selbst konfrontiert, schmorte im eigenen Saft und stellte mir viele Lebensfragen. Die drei Visionssuchen halfen mir enorm dabei, meinen inneren Vaterkonflikt zu klären und als Mann nachzureifen.

Und plötzlich war mir klar, was mir selbst und meinen Jungs in der Schule die ganze Zeit gefehlt hatte: ein elementares Übergangsritual vom Jugendlichen ins Erwachsensein. Als ich im August 2007 von den Nockbergen in Kärnten herab zur Alm stieg, die das Basislager für unsere Visionssuche-Gruppe war, wusste ich, dass ich ab jetzt solch ein fundamentales Ritual auch meinen Schülern anbieten sollte. Doch zunächst wollte ich für mich selbst die Grundlagen dafür schaffen: Von 2007 bis 2009 machte ich die Fortbildung zum Initiations-Mentor und Jugend-Visionssuche-Leiter in der Tradition der School of lost Borders in einer Gruppe in Niederbayern.

Acht Jahre lang veranstaltete ich danach zusammen mit kleinen Leitungsteams das sogenannte WalkAway-Seminar für 15- bis 17-jährige Jugendliche, ein viertägiges erlebnispädagogisches Ritual in der Natur, eine Visionssuche für junge Menschen. Die Jugendlichen ließen sich darauf ein, nach einer zweitägigen Vorbereitung für 24 Stunden im Wald zu verschwinden und einen Tag und eine Nacht zu überstehen – ohne Essen, ohne Zelt und vor allem ohne ihr geliebtes Smartphone, unsichtbar für alle Menschen. Am vierten Tag frühmorgens standen die Eltern bereit, um ihre jugendlichen Kinder zu begrüßen. Im nahen Seminarzentrum konnte man dann jeweils für drei Stunden eine Stecknadel fallen hören, während die Jungen und Mädchen ihre ergreifenden Geschichten von allein da draußen in der wilden Natur erzählten.

Dieses Ritual hat den Jugendlichen enorm in ihrer Persönlichkeitsentwicklung geholfen – zu mehr Selbstbewusstsein, Selbständigkeit und Selbstverantwortung auf ihrem Weg hin ins Erwachsensein. Das Ritual hat nicht selten auch die ganze Familie verändert. 83 Mädchen und Jungen haben mit mir diesen WalkAway absolviert, zwei Drittel von ihnen waren Jungen. Die dabei gemachten Erfahrungen haben mich so angeregt und motiviert, dass ich schon 2009 anfing, darüber Bücher zu schreiben: »Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft« . Dieser Schreibfluss hielt an und hat mich sehr erfüllt. In das erst vor kurzem veröffentliche Buch »WalkAway – Jugendliche auf dem Weg zu sich selbst« ist die Essenz meiner Erfahrungen mit Initiationsritualen eingeflossen. Die Situation der Jungen stand dabei jedoch immer im Mittelpunkt. Zugleich dienten diese Bücher stets meiner Selbstreflexion und Befreiung meines eigenen Mann-Sein.

Nun hatte ich mein Lebensthema gefunden: Initiation. Das spürten wohl auch meine Schüler, denn nun wurde ich von den meisten von ihnen sehr geschätzt und anerkannt – als ihr männlicher Lehrer und für viele auch als eine Art Lebensbegleiter und Mentor, der sich gut in ihre Entwicklungssituation als Jugendliche einfühlen konnte. Als ich 2020 nach vierzig Jahren im Schuldienst verabschiedet wurde, galt ich bei Schülern und Kollegen als der respektierte »Mister WalkAway«, der stets sein eigenes Ding gedreht hatte. Als Supervisor versuche ich in meiner Pension, vor allem Lehrer in ihrem Beruf zu beraten zu bestärken. Als Autor sehe ich meine Aufgabe darin, im deutschsprachigen Raum für das Initiations-Thema zu werben und dieses mit heutiger Pädagogik zu verbinden.

Fundamentale Erkenntnisse

:: So viele Männer haben nie eine richtige Ablösung von den Eltern und eine Initiation in ihr eigenes Mann-Sein erlebt. Obwohl beruflich vielleicht erfolgreich, fühlen sie sich unruhig und haben Schwierigkeiten, ihren Mann in Familie und Gesellschaft zu stehen. Aus eigener Erfahrung möchte ich heutigen Männern zur Stärkung zweierlei empfehlen: eine Visionssuche zu machen und eine Männergruppe zu suchen.
:: Die von uns Europäern lange Zeit verachteten indigenen Völker hatten ein Urwissen bezüglich des Lebenskreises und der Lebensübergänge, das uns aufgeklärten, meist nur rational orientierten »Westlern« fehlt. Wir können gerade in der Initiations-Thematik viel von diesen traditionellen Völkern lernen, die ein noch elementares Wissen über das Leben und die Natur bewahrt haben.
:: Gerade die Jungen bedürfen einer besonderen gesellschaftlichen Beachtung. Im heutigen Schulsystem, das immer »weiblicher« ausgerichtet ist, gelten sie nicht selten als das »schwache Geschlecht«. Jungen sollten täglich mehrere Stunden lang be-vatert werden, um sich gut entwickeln zu können. Doch so oft sind die Väter – z.B. aus beruflichen Gründen – nicht da, sondern physisch und emotional »abwesende Väter«. Gerade männliche Lehrkräfte und Leiter von Sportgruppen haben hier eine enorme Aufgabe, den Jungen männliche Orientierung zu geben, ihnen Grenzen zu setzen und sie in ihrem Wesen liebend anzunehmen.
:: Mir ist aufgefallen, dass besonders in Deutschland die verantwortlichen Bildungsbehörden den Initiations-Begriff und geeignete Initiationsrituale wie den viertägigen WalkAway fürchten »wie der Teufel das Weihwasser«. Sie wollen mit dieser Thematik nichts zu tun haben und verweisen etwaige Initiativen vehement in den privaten Bereich. Doch hier lässt man gesellschaftlich und schulisch eine wichtige Aufgabe ungenutzt. Denn auch hierzulande sollen ja gerade die Jungen durch passende Rituale und Zeremonien den Übergang vom Junge-Sein ins Erwachsen-Sein bewältigen und erwachsen werden können. Sie brauchen solche Rituale. Vermutlich gibt es aber die folgende Problematik: Im deutschen Faschismus wurden germanische Rituale, Zeremonien und Symbole von der Nazi-Ideologie in übler Weise für rassistische und kriegerische Zwecke missbraucht. Daher fürchtet man heute womöglich, als Neonazi beschimpft zu werden, wenn man den Begriff »Initiationsritual« benutzt. Die WalkAway-Seminare, die ich angeboten haben, sind jedoch von den Initiationsritualen nordamerikanischer Indianerstämme, den »native americans«, beeinflusst und daher unberührt von faschistischen Ideologien.

 
 

 
 
 
 
 
:: Peter Maier, Jg. 1954, Gymnasiallehrer, Jugend-Initiations-Mentor, WalkAway-Leiter, Supervisor, Autor. Meine Bücher »Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft. Band I: Übergangsrituale« und »Band II: Heldenreisen« sowie »WalkAway – Jugendliche auf dem Weg zu sich selbst« sind als Print oder eBook hier erhältlich: www.initiation-erwachsenwerden.de und www.alternative-heilungswege.de; einen knappen Überblick über meine Arbeit gibt es auch in einem Flyer. Kontakt: info@initiation-erwachsenwerden.de.