Wir waren viele, wir sind viele, noch

Hinter sich die Nachkriegsgeneration, vor sich die Millennials: Am Ende angekommen bemerken die Boomer mal erleichtert, mal bedrückt, dass sie auch nur eine Zwischengeneration waren und sind.

Text: Frank Keil
Foto: Archiv Ulrike Steinbrenner

 
Männerbuch der Woche, 11te KW. – Heinz Bude flaniert gekonnt in seinem schmalen wie reichen Buch »Abschied von den Boomern« durch unsere leicht vergangene Gegenwart.

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Wandernd durch das Trauertal

Aufschreiben, was ist. Beschreiben, was war, wie es vielleicht wieder sein könnte, auch wenn es nie wieder so sein wird – das ist eine wahre Herausforderung.

Spiegelung eines Baumes mit Herbstblättern im Wasser

Text: Frank Keil
Foto: derProjektor, photocase.de

 
Männerbuch der Woche, 7te KW. – Elke Naters erzählt in ihrem Protokollroman »Alles ist gut, bis es dann nicht mehr gut ist« nach dem Tod ihres Mannes, wie es wieder annehmbar wird, auch weil die Trauer und der bleibende Verlust zu dem gehören, was man so leichthin wie unbedarft »das Leben« nennt.

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Der hat uns gerade noch gefehlt!

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Mann mit Zeitung im Café

Text: Frank Keil
Foto: inuit, photocase.de

 
Neulich stand ich mit meinem Sohn auf der Wiese vor dem Bundestag. Wir waren zwei von gut Hunderttausend, die gegen den Rechtsruck in unserem Land demonstrierten. Es lag Schnee, es war kalt, aber uns war warm. Ich mit meinem Vater auf einer Demo? Undenkbar. Er hätte das nicht gewollt und ich vermutlich auch nicht.
Eine Generation weiter ist vieles anders. Zum Glück. Was auch notwendig ist, schaut man in die Welt und wie sie bedroht ist, wie sie zum Teil in Flammen steht. Und wie zugleich die alten, überwunden geglaubten Rollenbilder zurückkehren. Wie ein Mann zu sein hat und wie eine Frau und was eine Familie ist und was nicht und ein Dazwischen soll es nicht (mehr) geben. Der ganze alte Scheiß ist wieder da – so denke ich an schlechten Tagen. Und zugleich ist viel Aufbruch, viel Hoffnung, viel Erproben, was möglich ist und jedem und jeder guttun könnte, mit allem Recht zum Irrtum. Unsere Felder, unsere Anliegen. Unsere Männerwege, auf denen wir gehen, sozusagen.

Wir haben bisher keinen Newsletter verschickt, um gezielt auf unsere Texte und Interviews und Rezensionen und Fotos aufmerksam zu machen. Falsche Bescheidenheit? Vielleicht. Scheu vor der Arbeit? Möglich. Skepsis, ob ein Newsletter wirklich gelesen wird? Auch das.
Aber: Probieren wir es doch aus! Ab jetzt wird es einen Newsletter geben, einmal im Monat.

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Trauer in Venedig

Was, wenn einem klar wird, dass das eigene Leben endlich ist und das der heutigen Welt noch dazu? Oder hat das nichts miteinander zu tun?

Venedig am Abend mit Gondeln

Text: Frank Keil
Foto: 50Centimos, photocase.de

 
Männerbuch der Woche, 4te KW. – Daniel Schreiber widmet sich in seinem Essay »Die Zeit der Verluste« so gekonnt wie berührend dem Zusammenspiel wie Gegensatz von privater und gesellschaftlicher Trauer.

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Weiterhin Krieg

Der Krieg in Bosnien? Ja, den gab es. Aber was war da noch mal los? Was hat er mit den Menschen gemacht? Und hätte man daraus vielleicht etwas lernen können?

Text: Frank Keil
Foto: pur, photocase.de

 
Männerbuch der Woche, 3te KW. – Tijan Sila erzählt in »Radio Sarajevo« beeindruckend nah wie nüchtern vom Ende einer Kindheit unter ständigem Beschuss. Es hat seine Zeit gebraucht, bis er sich dieser Lebensphase literarisch nähern konnte.

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Sommer 1944

Engagiert man sich oder schaut man weg? Geht man ein Risiko ein oder hält man die Füße still? Und was hat das jeweils mit dem Leben zu tun, das man zuvor geführt hat? Fragen, auf die Antworten warten.

Horizont Wattenmeer

Text: Frank Keil
Foto: Katinka Tulpenzwiebel, photocase.de

 
Männerbuch der Woche, 50te KW. – Florian Knöppler lässt in »Südfall« einen britischen Piloten zum Ende des Krieges hin auf eine kleine, in sich nicht immer einige Gemeinschaft angewiesen sein.

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Hausnummer 23, vierter Stock

Warum ist der Blick zurück meist keiner, bei dem man vor Überschwang wegdriftet? Weil vielleicht nur so die Spannung bleibt und es eine Zukunft gibt?

Text: Frank Keil
Foto: Özlem23, photocase.de

 
Männerbuch der Woche, 46te KW. – Der dänische Lyriker Søren Ulrik Thomsen erzählt in seinem Erinnerungsessay »Store Kongensgade 23« mehr als gekonnt vom Dasein in seiner Ungleichzeitigkeit.

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Vor der stehengebliebenen Zeit

In den Dingen, die uns umgeben, die wir zuvor gesammelt haben, ist vieles Erlebte enthalten. Um ihren ganz eigenen Zauber zu entschlüsseln, muss man später recht genau hinschauen.

Bild von Orhan Pamuk

Text: Frank Keil
Foto: Orhan Pamuk / Hanser Verlag

 
Ein besonderes Männerbuch der Woche, 43te KW, in Ausstellungsform: Die Dresdner Gemäldegalerie Alte Meister zeigt Orhan Pamuks visuell so eindringliches wie kluges Werk »Der Trost der Dinge«. Und dann wartete noch (s)ein Buch mit dem schönen Titel »Der Koffer meines Vaters«.

Zum Ausstellungsbesuch und mehr als nur einen Blick in Orhan Pamuks Werk.

Das bin noch ich

Wer sind wir, wenn wir nicht mehr das tun können, von dem wir denken, dass es uns ausmacht? Und wie finden wir das heraus?

Ein Mann spielt Geige in einem Zimmer

Text: Frank Keil
Foto: Bengelsdorf, photocase.de

 
Männerbuch der Woche, 41te KW. – Stefan Moster lässt in seinem Roman »Bin das noch ich« auf einer finnische Schäreninsel einen verzweifelten Musiker allmählich wieder zu sich kommen. Es hilft: die Natur, auch die Sonate für Violine Solo von Belá Bartók.

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»Hinter den Geschichten der anderen«

Impressionen, Einfälle und Gedanken zum Jahrestag des Endes der DDR.

Text: Frank Keil
Foto: willma, photocase.de

 
Männerbücher der Woche, 40te KW. – Neben Erinnerungen an eine Kindergärtnerin mit DDR-Hintergrund wirft die Schriftstellerin Anne Rabe in ihrem wunderbaren Roman »Die Möglichkeit von Glück« einen Blick auf ein immer auch gewalttätiges Land und der nahezu prophetische Band »Wie erst jetzt die DDR entsteht«, herausgegeben von Michael Rutschky 1996, wird noch einmal aus dem Regal genommen.

 
I.
Eines Tages kam unser Sohn in einem evangelischen Kindergarten unter, bei uns um die Ecke, in fußläufiger Nähe. Für ihn waren ab nun tagsüber zwei Erzieherinnen zuständig: Steffi und Frau Hörschelmann. Steffi war eine junge Frau, geduldig und freundlich, nachgiebig und sanft. Steffi eben. Frau Hörschelmann (wir haben nie ihren Vornamen erfahren, so wie wir nie den Nachnamen von Steffi erfahren haben und wenn, haben wir ihn absichtsvoll bald vergessen) hätte vom Alter her gut Steffis Mutter sein können, und sie war vom Temperament her das ganze Gegenteil: streng und konsequent, dabei leicht bestimmerisch (wobei sie im Umgang mit den Kindern nie ungerecht und unfair war, das soll nicht unterschlagen werden).
Steffi stammte aus Hamburg, also aus dem Westen. Frau Hörschelmann hatte zuvor lange in Ostberlin/Hauptstadt-der-DDR einen Kindergarten geleitet, also im Osten und war später über irgendwelche Wege nach Hamburg gekommen (wenn ich es richtig erinnere, hatte ihr Mann nach der Wende hier einen neuen Job gefunden und sie war mitgegangen). Frau Hörschelmann und Steffi waren ein gutes Team, einerseits; und andererseits hätten (deshalb?) die Unterschiede zwischen den beiden nicht größer sein können, was insgesamt ein schönes Rätsel ergab.
Tobten etwa die Kinder unbändig über den Hof, so beim nachmittäglichen Abholen, wo Kita-Kinder nun mal am Rad drehen, nahm Steffi sich die drei, vier der Lautesten, beugte sich zu ihnen herunter, legte die Arme um sie und sprach leise und beruhigend auf sie ein, während Frau Hörschelmann auszurufen pflegte: »Benehmt euch! Wir sind doch hier nicht bei den Hottentotten!«
Meine Hinweise, die so genannten »Hottentotten«, ein Schimpfwort, seien tatsächlich eine Ethnie in Südafrika gewesen, die von den deutschen Kolonialtruppen noch vor dem Ersten Weltkrieg rücksichtslos ausgerottet worden seien, quittierte sie stets mit einem kaum sichtbaren Hochziehen ihrer Augenbrauen, dann drehte sie sich weg und scheuchte die Kinder in die Arme ihrer wartenden Eltern.
Steffi und Frau Hörschelmann – das war für uns ein unergründliches Spannungsfeld zwischen Laissez-faire und Disziplin, zwischen Strenge und Lockerheit, in das wir tagtäglich unser Kind schickten; das wir von außen nach Elternart kritisch zu beobachten versuchten (natürlich!), um gegebenenfalls einzuschreiten, was nicht nötig wurde. Denn unser Kind schien mit dem Wechselbad aus Weichheit und Härte gut zurecht zu kommen; es nahm sich offenbar, was es brauchte, ließ liegen, was es störte, und es war nun mal, wie es war, so wie wir Steffi bis zum letzten Tag mit »Steffi« anredeten und daher duzten, während es bei Frau Hörschelmann bei »Frau Hörschelmann« blieb und beim »Sie«.

II.
Eine ganze – so scheint es – Flut an Büchern ist in den letzten Monaten erschienen, die vom Leben in der einstigen DDR zu berichten versuchen. Die sich aufmachen, zu ergründen, was das für ein (seltsames?) Land gewesen sein mag, ob es noch immer (und in welcher Weise?) seine einstigen BewohnerInnen und auch deren Nachkommen, die das DDR-Leben pikanterweise nie erlebt haben, prägt und vielleicht nicht loslässt und woher (deshalb?) der tiefe Graben zwischen Ost- und Westdeutschland kommt, nicht nur, was die (möglichen?) Wahlerfolge der AfD im kommenden Jahr in Sachsen und Thüringen und überhaupt perspektivisch in den nun ehemaligen Neuen Bundesländern angeht. Plus sich schnell zuspitzender Debatten, mit zuweilen leicht absurden Fragen: Wer erinnert sich richtig? Und warum? Darf jemand mit einer Westbiografie über die DDR schreiben? Falls ja, was ist zu beachten? Oder ist das Schreiben über die DDR nur Ostlern vorbehalten? Konnte man zu DDR-Zeiten in der Elbe baden und wer tat das? Und sei es nicht an der Zeit, die Lebensleistungen der DDR-BürgerInnen einfach mal zu würdigen (Mauer und Stasi und Stacheldraht hin oder her), gewissermaßen vorbehaltlos? Und wer zieht überhaupt am Ende die richtigen Schlüsse aus dem Durchdachten, Wiedergegebenem, am Ende also weiter-Erzählten?
»Manchmal drohe ich zu verschwinden« schreibt Anne Rabe zwischendurch in ihrem Roman »Die Möglichkeit von Glück«. Das Buch steht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis, der auf der kommenden Frankfurter Buchmesse verliehen wird – und das sehr zu Recht, und ist nicht allein der Titel genial?
Also: »Manchmal drohe ich zu verschwinden. Hinter den Geschichten der anderen, hinter den Dokumenten, hinter den Büchern, die sich wie eine Mauer auftürmen.« Und weiter: »In den Jahren habe ich mir ein Fundament an Wissen zugelegt und trotzdem immer das Gefühl, dass es noch nicht reicht, dass ich mir kein Urteil bilden darf.«
Es ist dieses Nicht-reichen, dem sie folgt, dem sie misstraut, dass sie zugleich antreibt und das sie Seite um Seite weiterschreiben lässt. Und es ist »dass ich mir kein Urteil bilden darf«, das gleichfalls wie Treibstoff wirkt, wie Kraftnahrung.
Anne Rabe ist 1986 in Wismar geboren und dort aufgewachsen. Sie kam zum Theater, zum Schreiben, zum Fernsehen, so war sie als Drehbuchautorin an der RBB-Serie »Warten auf‘n Bus« beteiligt. Und sie ist als Essayistin und Vortragende unterwegs, dabei ist ihr Schwerpunkt die Vergangenheitsbewältigung der DDR, der Blick zurück, der für die Einschätzung der Gegenwart Folgen haben kann und allermeistens hat. Nun hat sie eben, die Mauer der Bücher beiseiteschiebend, einen Roman verfasst: Stine heißt ihre Protagonistin, aufgewachsen in Wismar, ohne dass im Text einmal der Stadtname fällt, so wie Stine dasselbe Geburtsjahr hat wie ihre Erschafferin und dennoch bleiben es zwei unterschiedliche Personen. Rabe gestaltet ihre Erfahrungen, ihre Recherchen, ihre Schlussfolgerungen literarisch, es kommt etwas Neues zum bisher Angesammelten hinzu: die Kraft und der Eigensinn der Fiktion.
Es ist ein Familienroman, es ist ein Ermächtigungsroman, es ist ein Deutschlandroman, es ist ein Roman auch, der von der Kontinuität des (Ver)Schweigens innerhalb der deutschen Familien erzählt und den Verheerungen, den dieses anrichtet. Weshalb sich Stine aufmacht, etwa das Leben ihres Großvaters zu erkunden, ein Soldat der Wehrmacht, der anschließend auf den sich gründenden Arbeiter-und-Bauern-Staat nichts kommen lässt, der eine gewisse DDR-Karriere absolviert, der seinem Staat lebenslang mit (wenn man so will) deutscher Treue zur Seite steht: Wer aus der DDR über die Grenze zu flüchten versuche, der wusste doch, dass auf ihn geschossen werden würde und durfte sich heute wie damals darüber nicht beschweren, was sollte und soll also die Empörung, das etwa ist ein Argumentationsstrang, dem er anhängt, dem er folgt, weil er gilt und den er der heranwachsenden Stine anbietet. Nur – was hat er selbst gemacht, während des Krieges, mit den Partisanen etwa? Und was hat er gewusst von den behördlichen Übergriffen, die nach dem Mauerfall zur Sprache kommen, warum auch endete seine Karriere so abrupt, was ist da im Detail vorgefallen? Er selbst hat darüber nicht oder nur in vagen, eher verschleiernden Andeutungen gesprochen, doch Stine lässt nicht locker. Sie nimmt den inneren Auftrag, wissen zu wollen und wissen zu müssen, an.
Sie schaut auch in ihre Herkunftsfamilie, wo Schläge und Demütigungen zum Erziehungsstil ihrer ebenfalls regimetreuen Eltern gehörten, und Anne Rabe lässt ihre Heldin auch erleben, wie schwer es ist, sich auch als Erwachsene mit bald eigenen Kindern, der (um es mit Christa Wolf zu sagen) Kindheitsmuster bewusst zu werden und dann sich ihrer zu entledigen, so wie auch davon erzählt wird, wie heilsam ein Kontaktabbruch mit der eigenen Herkunftsfamilie sein kann.
»Die allermeisten Menschen standen hinter den Gardinen«, hat Anne Rabe neulich in einem Interview kurz zu den Montagsdemonstrationen des Herbstes 1989 angemerkt, das dürfe man nicht vergessen, wenn man sich heute (vor allem im Westen) wundere, dass vom so freudig wirkenden Aufbruch der Mauerfall-Tage so wenig übrig geblieben sei und man schon immer und nicht erst heute der (westlichen) Demokratie skeptisch bis ablehnend gegenüberstehe, statt diese als Freiheitsgewinn zu verstehen und dann zu nutzen. Überhaupt ist ihr Roman auch eine grundlegende Auseinandersetzung mit den vielen DDR-Mythen, die sich durchaus im gesamtdeutschen DDR-Verständnis festgesetzt haben und gelegentlich auch von liberalen Geistern unüberprüft weitererzählt werden: Jeder hatte Arbeit, die Mieten waren billig, jeder erhielt seine Chance, der Antifaschismus war Staatsraison, die Frauen waren emanzipiert, in den Familien hatte der Staat nichts zu melden, niemand wurde bevorzugt; wer nicht mit dem Gesetz in Konflikt kam, hatte nichts auszustehen und konnte sich eines angenehmen Lebens erfreuen, und bekam einer Ärger mit Behörden und Polizei, dann wird das schon seinen Grund gehabt haben – etwa, wenn man als junger Mensch in einem der berüchtigten Jugendwerkhöfe landete. Und so stellt ihr Roman eines grundlegend in Frage: die Vorstellung, man könne in einer Diktatur unbehelligt und unbeschädigt und auch schuldfrei seinen Alltag leben, um dann auch noch hinterher zu behaupten, so schlimm sei das alles nicht gewesen, das habe man ja selbst erlebt. Und wie sie das macht, mit Rückgriffen auf die Stärken von kurzen nüchternen und eingestreuten Sachtexten und getragen von einer emphatischen, generationen-überspannenden Familien-Erzählung, das ist ganz großartig, gleichzeitig schmerzhaft und erhellend, aufrüttelnd und verstörend, aber auch tröstend am Ende. Lesen also, bitte lesen.

III.
Schnitt. Ein harter Schnitt. Und auch nicht. Und dazu geht es zurück ins Jahr 1996, da ist die DDR seit sechs Jahren auch amtlich Geschichte. Ich gehörte damals zu den Autoren, die regelmäßig das Magazin »DER ALLTAG« mit literarisch-journalistischen Beiträgen belieferten. Das Magazin zierte den schönen Untertitel »Die Sensationen des Gewöhnlichen«. Und das war Programm (sozusagen): sich nicht in den Sphären des hochdosierten Politischen zu verlieren, sondern im Gegenteil auf das Kleine im Leben dafür um so genauer zu schauen, auf das vordergründig Normale, auf das angeblich Nebensächliche, auf den Alltag eben.
Wie man sich denken kann, gab es das Magazin (das viel Lob erhielt, viel auch kollegiale Anerkennung) nicht allzu lange; zu wenig marktschreierisch, zu wenig dominanz-heischend war es im Auftreten. Und doch entstanden in kurzer Zeit wegweisende Ausgaben in einer ganz eigenen Mischung aus Essays, Interviews und Reportagen sowie Fotostrecken, etwa der Band »Wie erst jetzt die DDR entsteht«. Wie gesagt: geschrieben, produziert und verlegt im Jahr 1996. Geduldig stand der Band die letzten Jahre in meinem Bücherregal und wartete. Bis nun, bis jetzt.
Die Idee von Herausgeber Michael Rutschky zu diesem DDR-Alltags-Band war ganz einfach: Wo die DDR als Staats- und als Wirtschaftssystem im Betriebs- wie Volkswirtschaftlichen sich aufgelöst hatte, würde der Kultur die Aufgabe zufallen, das, was sich in den 41 Jahren ihres Bestehens an Lebensgeschichten der dort (damals) Lebenden nun mal angesammelt hätte, zu bewahren, zu pflegen und auch immer wieder neu zu deuten, um es so am Leben zu erhalten. Im Grunde wäre es wie in der Physik: Endet etwas, ist es deswegen nun nicht weg und nicht mehr da. Keine Materie löst sich auf, so laut es auch geknallt haben mag. Keine Energie verschwindet spurlos im Nichts und ist nie dagewesen. Sie taucht stattdessen nur an anderer Stelle wieder auf, in einem anderen Daseinszustand, das ja. Aber sie ist da. Wobei eben die Sphäre des Kulturellen getragen wird von der Sphäre des Geschichtlichen und den in ihr angelegten, auch tradierten Grundlagen von Gut und Böse, richtig und falsch – und schon steckt man mitten im Schlamassel. In seinem Editorial schreibt Rutschky daher zusammenfassend: »Diese DDR entsteht als Kultur, als eine Erfahrungs- und Erzählgemeinschaft, worin der bespitzelte Bürger dem Stasi-Informanten stets näher bleibt als dem demokratisch empörten, auf Aufdeckung erpichten Journalisten aus dem Westen.« Und das skizziert damals (1996!).
Es folgt ein Interview mit dem in Zwickau geborenen Kulturwissenschaftler Horst Groschopp, der zeitweise als ABM-Kraft an der Berliner Humboldt-Universität tätig war, der auch Umschulungskurse für Ost- und WestberlinerInnen durchgeführt hatte, wovon er erzählt; dann ein Porträt des Dramatikers Heiner Müller, eine besondere, immer wieder rätselhafte und vor allem ambivalente Ost-West-Figur mit Zigarre; dazu Reportagen über die Hausbesetzer-Szene auf dem damaligen noch nicht gentrifizierten Prenzlauer Berg (vielleicht sind sich Ost und West nie näher gekommen, denn in den schartigen und gekonnt verwilderten Hinterhofhäusern jener ersten Jahre) und manches mehr.
Ich habe damals einen Beitrag über meine Großmutter väterlicherseits geschrieben. Denn sie war Mitte der 1950er-Jahren aus einer kleinen sächsischen Kleinstadt in den Westen und dort nach Hamburg zunächst illegal übergesiedelt (dahinter steckt eine verwickelte, auch seltsame Familien-Geschichte, die ich gerade für ein Roman-Projekt zu entwirren suche). Jahrzehntelang hatte sie anschließend mit ihrem Entschluss gehadert, hatte sich nach ihrer sächsischen Heimat verzehrt, war nie in Hamburg, wo sie am östlichen Stadtrand wohnte, so richtig heimisch geworden, war im Herzen eine Ostdeutsche geblieben. Um sich dann, nachdem es die DDR nicht mehr gab und sich auch ihre Identität als Rübergemachte Jahr für Jahr mehr auflöste, man auch ob LIDL&ALDI&Co ihre Westpakete nicht mehr brauchte, mit ihrer seinerzeit in der DDR gebliebenen und gleichfalls über 80 Jahre alten Schwester zu überwerfen, getragen von einer tiefen Einsicht: »Von drüben kommt nichts Gescheites.«
Nun erst, kurz vor ihrem Tod, war sie eine Westdeutsche geworden und fand darin die Stabilität der Enttäuschten (und um Enttäuschung scheint es mir beim Aufeinandertreffen von Ost- und Westdeutschen generell zu gehen). Und ich muss bekennen, noch einmal 27 Jahre später, dass jetzt, wo ich dabei bin, die Erzählungen und Anekdoten meiner Großmutter nach und nach zu überprüfen (soweit das möglich ist, aber einiges ist möglich, erstaunlich viel sogar), stoße ich darauf, dass vieles anders gewesen ist, als sie es mir seinerzeit in ihrer kleinen Küche erzählt hat; dass sie mir bis ans Ende ihres Lebens eine damals schlüssige Lebensgeschichte aufgetischt hat, die als Geschichte stimmig und auch schön war, ist und bleibt, die aber nur zu Teilen dem damaligen Geschehen entspricht, wenn überhaupt (auch davon wird zu erzählen sein, selbstverständlich), wozu passt, dass ich diese Geschichte lange gerne geglaubt habe, wovon nun Abschied zu nehmen ist.
Und so bin ich weiterhin (wie man wohl merkt) in diesen Ost-West-Kuddelmuddel verstrickt, komme davon einfach nicht los, freue mich schon darauf, was ich wohl in noch mal 20 Jahren über all das denke, und wer weiß, was noch passieren wird, im Kleinen und im Großen, weshalb zum Schluss noch einmal Michael Rutschky zitiert werden soll, wie er sich damals einer Ahnung hingab: »Wäre das Gelände der ehemaligen DDR nicht in fünf auf ihre Abgrenzung voneinander schon stolze Einzelländer zerteilt, man könnte bald den Zeitpunkt in der Zukunft ins Auge fassen, wo die fünf Länder sich zu einer starken gemeinsamen Ostprovinz zusammenschließen, eine Föderation innerhalb der Föderation, die dem Rest der Bundesrepublik mit dem entschlossenen Selbstbewusstsein entgegentritt, welches der Freistaat Bayern seit langem vorzuzeigen liebt.«

 


 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Anne Rabe
Die Möglichkeit von Glück
Stuttgart: Klett Cotta Verlag 2023 | 384 Seiten | 24 Euro | ISBN 978-3-608-98463-7 | Leseprobe
 
Michael Rutschky (Hg.)
Wie erst jetzt die DDR entsteht. Der Alltag. Die Sensation des Gewöhnlichen
Berlin: Elefantenpress 1996 | 192 Seiten | ISBN 3885206722 | Der Band ist antiquarisch erhältlich, z.B. bei booklooker.de