Abenteuer, Freiheit, Diktatur

Ein Abenteuerroman für Jugendliche – mit Männerbildern, die zu Auseinandersetzungen und Entscheidungen herausfordern.

Text: Ralf Ruhl
Foto: time., photocase.de

 
Ferne Länder, Segelromantik, Stürme und Schiffbruch – Rachel van Kooijs Buch »Der Kajütenjunge des Apothekers« hat alles, was ein Abenteuerroman für Jugendliche braucht. Und steckt gerade deshalb voller Männlichkeit, von toxisch bis gut gemeint. Was sich folgerichtig zu einem Lehrstück über das Aufkommen einer brutalen Diktatur verdichtet.

Zur Rezension

»Wirksame Änderungen brauchen einen langen Atem und viel Geduld.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Uwe Sielert, Kiel

zwei Junge Männer am Strand

Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: benicce, photocase.de | privat

 
Was war oder ist dein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen- und Männerthemen? Was dein politisch-thematischer Zugang?
Als Jugendlicher sozialisiert im Christlichen Verein junger Männer (CVJM – heute steht das »M« für Menschen) und als Student der Erziehungswissenschaft (1970-1974) kam ich während des Studiums angesichts der Beschäftigung mit kritischer Sozialisationstheorie gar nicht um die Geschlechterfrage herum. Ohnehin war ich fasziniert davon, zusammen mit Gleichgesinnten das theoretisch-analytische Handwerkszeug selbstreflexiv in gruppendynamischen Settings ausführlich auf die eigene Biografie zu beziehen. »Das Persönliche ist politisch und das Politische ist persönlich« lernten wir aus der feministischen Kritik am Patriarchat, die Notwendigkeit der solidarischen Veränderung (Bloch: »Ich bin, aber ich habe mich nicht, darum werden wir erst«) aus der marxistischen Philosophie, und die didaktische Umsetzung mit Hilfe der »dynamischen Balance von Ich – Gruppe – Thema im Globe« von Ruth Cohn aus der Themenzentrierten Interaktion (TZI). Soweit die Theorie und mein politisch-thematischer Zugang.
Im eigenen Gefühlsleben und Verhalten sah das dann nicht immer so gradlinig und klar aus. Der »stumme Zwang der Verhältnisse« produzierte zuhauf blinde Flecken im Bewusstsein des eigenen Männlichkeitsbilds und Geschlechterverhaltens. Das beobachtete Hin und Her der Selbstbilder der Jungen im Jugendzentrum zwischen »Hilfe, ich kann nicht« und »Ich bin der Größte« existierte auch bei uns Studierenden, ganz besonders bei mir, der den Kulturclash zwischen dem CVJM und dem polyamoren Marxismus eines damals kurze Zeit in Dortmund lehrenden Dieter Duhm (»Angst im Kapitalismus«) zu bewältigen versuchte. Immerhin wusste ich von Letzterem, dass auch er beim CVJM angefangen hatte, linker Aktivist und Hochschuldozent wurde, bevor er der akademischen Karriere den Rücken kehrte und ins experimentelle Weltverbesserungsmilieu eintauchte. Welt und Menschen mit jesuanischem Eifer verbessern wollte ich damals auch, nicht besonders revolutionär, eher in pädagogischer Theorie und Praxis, und mich dem »Marsch durch die Institutionen« anschließen. Nach einem Forschungsaufenthalt in den Niederlanden folgten kleinere alternative Projektgründungen und das Mittun an der beginnenden Jungen- und Männerarbeit: Vorhandenes zusammenstellen, systematisieren und vor allem in didaktischer Hinsicht weiterentwickeln.

Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen und Männern?
Mich beschäftigten [1] die Differenz und die Ähnlichkeiten zwischen dem »Prinzip Männlichkeit« und mir selbst wie auch anderen Männern, [2] Jungen- und Männersexualität, [3] die bisherige und weitergehende Entwicklung von Jungenarbeit mit ihren jeweils unterschiedlichen Akzenten (feministisch, antikapitalistisch, antisexistisch, reflektiert, gendersensibel …), und [4] vor allem die Frage, was den konkreten Jungen und Männern in den »Sozialisationsagenturen« (wie es damals kritisch-technizistisch hieß) didaktisch Hilfreiches angeboten werden kann. Seminare, Fortbildungen, Vorträge, Veröffentlichungen waren die Medien, die mir in der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften und Diplompädagog*innen zur Verfügung standen.

Wie hat sich dein Engagement für Jungen und Männer entwickelt, ggf. verändert?
Das Gender-Sternchen in der letzten Zeile deutet es schon an: Das Interesse an der Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Diskurse und vor allem die Einarbeitung in die Sexualwissenschaft und Spezialisierung auf Sexualpädagogik führten zur generellen Öffnung meines geschlechtsbewussten Blicks auf Jungen hin zu einer Sexual- und Genderpädagogik der Vielfalt. Meine Vision selbstbestimmterer, emanzipativer Menschen sah ich zunächst in der Erweiterung der Entwicklungsmöglichkeiten von Jungen innerhalb ihrer Geschlechtlichkeit und später in der Entdramatisierung der Geschlechtskategorie überhaupt. Es begann die Suche nach vielen anderen Identitätsankern und vor allem die Möglichkeit fluider Selbstdefinitionen, um aus der Tatsache, dass wir als Jungen und Männer (auch) »gemacht werden«, das »doing gender« zu vervielfältigen und pädagogisch zu begleiten.

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche/historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Schon immer war mir bewusst, dass Jungen und Männer Probleme machen und Probleme haben. Meine Probevorlesung für die Pädagogikprofessur in Kiel lautete beispielsweise »Halt suchen auf schwankendem Boden: Männlichkeit als soziales Problem«. Die erschreckenden Ausmaße männlicher Gewaltausübung waren schon immer unübersehbar, die Ausmaße sexualisierter Gewalt an Mädchen und Jungen, die in Wellen öffentlich wurden, verstörten deutlich mein Blick auf Männlichkeit und alle bisherigen Theorien und Konzepte geschlechtsbewusster Arbeit. Mir wurde schlagartig bewusst, dass die kollektiven Traumata von Gewalterfahrungen und der aktuell immer noch ausgeübte »Missbrauch« von Kindern sowie sexuelle Grenzüberschreitungen aller Art heftig wirksam sind. Die eingeschlagenen Wege der Arbeit an männlicher Gewalt und ebenso vorhandener Bedürftigkeit wurden deshalb ja nicht hinfällig, kratzten aber nur oberflächlich am männlichen Sozialisationsmodus mit seinen toxischen Auswirkungen. Und dennoch blieb ich immer skeptisch gegenüber rein antisexistischen Programmen und einer Konzentration auf Gefahrenabwehr.

Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deinen privaten und/oder beruflichen Beziehungen?
Ich habe die Geburt meiner beiden Söhne und meiner Tochter als Vater sehr bewusst miterlebt und meine beruflichen Tätigkeiten boten mir potentiell viele Freiräume, eine entscheidende Wegstrecke mit ihnen gemeinsam zu gehen. Ich denke, dass mir das auch weitgehend gelungen ist, wenn ich die gegenwärtige Beziehung zu den erwachsenen Kindern richtig deute. Und dennoch machen mir gelegentliche Konflikte und Rückmeldungen deutlich, wie selten mir gelungen ist, die hohen Ansprüche des beruflichen Wissens über Jungen im persönlichen Alltag zu leben. Ich hätte im kontinuierlichen Kontakt viel mehr geben und bekommen können. Ganz besonders in der Trauer um meinen mit 30 Jahren tödlich verunglückten Sohn ist mir das schmerzlich zu Bewusstsein gekommen. Auch für mich gilt also: Wirksame Änderungen brauchen einen langen Atem und viel Geduld.

Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und/oder Beziehungen zu anderen ausmachen?
Herausfordernd, selbstkritisch-ehrlich und eine bleibende Angst vor Zurückweisung.

Was ist für dich »Erfolg« in deiner Auseinandersetzung mit Jungen- und Männerthemen? Hast du Beispiele?
Im Anschluss an meinen Probevortrag zur »Männlichkeit als soziales Problem« beantragte der tonangebende, kurz vor der Pensionierung stehende Pädagoge des Instituts halb ironisch einen Männerbeauftragten für die Universität Kiel. Meine Seminare im Studium und in Fortbildungen bei diversen Trägern waren immer gut besucht und manche Männer versichern mir heute noch, wichtige Impulse für die eigene Person und Arbeit bekommen zu haben.

Was gibt dir persönlich Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen?
Dichter und ausführlicher Kontakt auf einem gemeinsamen Weg: sich selbst und andere ganzheitlich spüren beim lustvollen Imaginieren, Streiten, Leiden, Arbeiten, Tanzen und Ruhen sowie auch einsame Geistesblitze und körperliches Ausgepowertsein.

Was ist dir (mit) gelungen, worauf bist du (zusammen mit anderen) vielleicht auch stolz?
Die Erarbeitung und Veröffentlichung meines ersten Buchs »Jungenarbeit« und die ausführlichen Diskussionen dazu mit meinen damaligen Student*innen und anderen bewegten Männern. Die Einführung des Themas »Jungen- und Männersexualität« bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und zusammen mit spannenden Aktivisten der Aids-Hilfe während meiner Mitarbeit an der personalkommunikativen HIV-Präventionskampagne. Und die Berücksichtigung des Gender-Themas bei allen sexualpädagogischen Weiterbildungen der Sexualpädagogik.

Mit welchen Institutionen und Personen warst du gerne beruflich oder privat verbunden oder bist es noch?
Mit den Einrichtungen, die aus meinem sexualpädagogischen Engagement – immer im lustvollen Arbeitsprozess mit anderen – hervorgegangenen sind: dem Institut und der Gesellschaft für Sexualpädagogik und vielen vor allem ehemals, manchmal immer noch dort aktiven Freundinnen und Freunden. Stellvertretend für viele möchte ich meinen langjährigen Freund Frank Herrath hervorheben, mit dem ich viele Wegstrecken gemeinsam zurückgelegt habe. Viele meiner eigenen älteren Lehrer und Tutoren sind inzwischen leider verstorben. Nennen möchte ich auch hier stellvertretend nur meine langjährigen Freunde und inspirierenden Lehrer Konrad Pfaff und Siegfried Keil, die für mich sehr unterschiedliche Beispiele für positiv gelebte Männlichkeit waren: der eine theoretisch kreativ, expressiv und fröhliche Wissenschaft treibend, der andere achtsam, integrativ und langfristig gesellschaftlich engagiert.

Was hat die Männer/* ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast?
Mich haben ihre Botschaften und Haltungen, ihr Biss beim Denken und Handeln angelockt und begeistert sowie die Einladung zum Mitmachen und die Bereitschaft, an einer gemeinsamen Mission wechselseitig inspirierend und wertschätzend zu arbeiten.

Hast du eine Lebensphilosophie, ggf. ein Lebensmotto?
Lange fand ich den Kanon albern, den mein Vater trotz schrecklicher Erfahrungen im Krieg und in der Kriegsgefangenschaft in seiner christlichen Gemeindearbeit am liebsten mit anderen gesungen hat: »Der hat sein Leben am besten verbracht, der die meisten Menschen hat froh gemacht«. Doch inzwischen habe ich den Kern seiner Erfahrungen im Auf und Ab seines entbehrungsreichen Lebens nachvollzogen: sich in Resonanz mit anderen auf das Verbindende, Gelungene und Stärkende zu konzentrieren.

Wo siehst du Brüche in deinen beruflichen oder freundschaftlichen Beziehungen?
Im persönlichen Liebesleben gab es einige davon, weil die Spannung zwischen dem eigenen Begehren und der persönlichen Weiterentwicklung oft in Konflikt geriet mit dem ebenso geschätzten Festhalten am Erreichten, einschließlich versprochener Beziehungstreue. Beruflich waren es weniger Brüche als Widerstände bei der gesellschaftlichen Resonanz meines sexualpädagogischen Engagements.

Wodurch wurden diese verursacht?
Die Herausforderung konservativ-dogmatischer Gruppierungen durch meine Dekonstruktion heteronormativer Lebensvorstellungen und das Eintreten für das Recht auf altersangemessene Sexualität von Anfang an führte zu gelegentlichen persönlichen Anfeindungen, die mir manche schlaflose Nacht beschieden haben.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis vom Umgang mit Jungen- und Männerthemen?
Aus der feministische Szene spürte und spüre ich immer noch Misstrauen gegenüber einer positiven Sexualkultur, die sich nicht allein auf Gefahrenabwehr beschränkt, sondern das Recht von Jungen und Männern auf sexuelle Bildung einschließt. Da nutzen keine empirischen Hinweise auf den Mangel an sexualpädagogischer Arbeit mit Jungen als sinnvolle Gewaltprävention. Als auch der Missbrauch von Jungen in pädagogischen Organisationen bekannt wurde, wurde die Tatsache allein, dass ich mich pädagogisch mit Jungenarbeit beschäftigt habe, von einer böswilligen Journalistin in den Kontext der Missbrauchsdiskussion gestellt.

Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deinem Engagement an?
Ich glaube trotz aller Skepsis gegenüber wissenschaftlicher Arbeit, dass es auch beim Genderthema darauf ankommt, »die Sachen zu klären und die Menschen zu stärken«. Beides tut allen gut, unabhängig von geschlechtlicher Selbstdefinition oder gesellschaftlicher Zuschreibung. Und inzwischen habe sogar ich (der Zurückweisung immer noch gern aus dem Weg geht) gelernt, in wichtigen Konflikten Position zu beziehen und auch schmerzliche Widerstände auszuhalten.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest?
Selbstreflexiv zu erkunden, warum die Jungen- und Männerthemen in den letzten Jahren nicht mehr so sehr im Fokus meiner persönlichen und wissenschaftlichen Neugier gestanden haben. Die Beantwortung dieser Fragen war ein Anfang dazu.

Und was möchtest du gegen Ende deines Lebens erreicht haben?
Mit mir und meinem Leben «im Reinen sein«, wie es so schön heißt. Rückblicke auf Aufarbeitungen sind dazu ein gangbarer Weg.

Eine nicht gestellte Frage, die du aber dennoch gerne beantworten möchtest?
Nö – aber danke für die vielen Impulse!

 
 

 
 
 
 
:: Uwe Sielert, Jg. 1949, emeritierter Professor für Sozialpädagogik am Institut für Pädagogik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Diplom, Promotion und Habilitation in Erziehungswissenschaft. Diplom in Themenzentrierter Interaktion nach Ruth Cohn bei WILL International. Berufliche Stationen: Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Dortmund, Gastdozent an der Vrije Universiteit Amsterdam, Mitarbeiter der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in Köln, seit 1992 Professor für Sozialpädagogik am Institut für Pädagogik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungs- und Lehrschwerpunkte mit einschlägigen Veröffentlichungen in den Bereichen sozialpädagogische Aus- und Fortbildungsdidaktik, Sexualerziehung und Geschlechterpädagogik sowie Pädagogik der Vielfalt. Schwerpunkt im Masterstudiengang Pädagogik »Diversity and Management in Education«. Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Sexualpädagogik. – Kontakt: www.uwe-sielert.de.

»Das Schönste ist, Feedbacks zu bekommen von Menschen, die man begleitet hat.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Marc Melcher, Frankfurt/M.

2 Jugendliche auf einem Fahrrad vor Wohnblocks

Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: bilderberge, photocase.de | privat

 
Was war oder ist dein persönlich-biografischer Zugang zur Jungen-, Männer- und Väterthematik? Was dein politisch-thematischer Zugang?
Erste Erfahrungen habe ich während meines Zivildienstes in einem paritätisch besetzten Team in einer Kita in Frankfurt gesammelt. Die frühe Auseinandersetzung mit Machtverhältnissen und Geschlecht habe ich während meines Studiums an der Goethe-Universität in Frankfurt, hier vor allem in den Seminaren von Prof. Drin Barbara Rendtorff, ab 1994 erfahren, des Weiteren durch die Konfrontation mit sexualisierter Gewalt im jungen Erwachsenenalter, hier als Begleitung von einer betroffenen Person. Ich habe frühzeitig Wissen erworben (Theorie im Studium) und den Transfer in die Praxis machen können (Arbeiten im pädagogischen Bereich während des Studiums). In meinem weiteren Berufsleben folgte dann die Fortbildung in der Jungenarbeit in Nordhessen (2004) sowie meine Weiterbildung in der Genderpädagogik beim Bayrischen Jugendring in Gauting (2007).

Was waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen, Männern und Vätern?
In meiner Arbeit mit Jungen wie auch mit Studierenden der Frankfurt University of Applied Sciences war und ist es mir wichtig, Räume zum Austausch zu schaffen, ihnen zuhören, Beziehungsangebote zu machen und Impulse zu setzen, um ihnen Reflexionsebenen anzubieten.

Wie hat sich dein Engagement für Jungen, Männer und Väter entwickelt, ggf. verändert?
Die Grundrichtung ist seit den Anfängen ähnlich geblieben: zuhören statt belehren, Fragen stellen und Interesse zeigen an den Lebenswelten meiner Zielgruppen. Intersektionale Perspektiven kamen in den letzten Jahren hinzu. Immer wichtig war für mich auch der Austausch mit Kolleg*innen aus der Mädchen*arbeit und der queeren Jugendarbeit.

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche/historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Die Digitalisierung, Social Media, die Corona Pandemie und deren Nachwirkungen auf junge Menschen.

Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deinen privaten und/oder beruflichen Beziehungen?
Menschen, die ich in meinen Arbeitskontexten kennengelernt und die mich in meinem beruflichen Alltag und im Privaten weitergebracht haben.

Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und Beziehungen zu anderen ausmachen?
Offenheit, Empathie, Fürsorglichkeit, professionelle Nähe. Auch die Offenheit, auf Menschen mit unterschiedlichen Haltungen in unserer »Szene« zuzugehen.

Was ist für dich »Erfolg« in deiner Auseinandersetzung mit Jungen-, Männer- und Väterthemen? Hast du Beispiele?
Erfolg für mich bedeutet: wenn eine Beziehungsebene zwischen Menschen hergestellt wurde, wenn Impulse wahrgenommen wurden. Das Schönste ist es, Feedbacks zu bekommen von Menschen, die man begleitet hat. Manchmal sind das Zufälle, wenn man Menschen wiedertrifft, z.B. ehemalige Jungen aus der Einrichtung in Hanau, aber auch Studierende oder junge Fachkräfte, die ich mit meiner Arbeit erreichen konnte.

Was gibt dir persönlich Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen?
Zuhören, sich einlassen, sich positionieren, aber auch zu bestimmten Zeitpunkten sich zurücknehmen.

Was ist dir (mit) gelungen, worauf bist du (zusammen mit anderen) vielleicht auch stolz?
Der Begriff »stolz« ist für mich hier nicht passend. Ich bin froh und dankbar, Impulse zu setzen und gesetzt zu haben – z.B. mit und bei der Bundesarbeitsgemeinschaft Jungen*arbeit, meine Projekte in Frankfurt am Main beim Paritätischen Bildungswerk Bundesverband im Care- und Fürsorgebereich, im Kontext der Fachgruppe für Jungen*arbeit in Hessen und in meiner pädagogischen Praxis mit jungen Menschen.

Mit welchen Institutionen und Personen warst du gerne beruflich oder privat verbunden oder bist es noch?
Institutionen stehen für mich weniger im Vordergrund als vielmehr Personen. Bundesweit, hessenweit und im Raum Frankfurt gab und gibt es Menschen, von denen ich eine Menge lernen konnte. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich beim Paritätischen Bildungswerk Bundesverband 2009 die Chance bekommen habe, mich bundesweit in dieses Arbeitsfeld zu bewegen.

Was hat die Männer/* ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast?
Die Menschen, mit denen ich zusammengearbeitet habe, haben oder hatten auch immer Interesse an meiner Person, jenseits des Arbeitszeitkontextes. Auch hier stand die Beziehungsarbeit sehr oft im Vordergrund. Eine Offenheit und Nähe habe ich bei allen Personen wahrgenommen.

Hast du eine Lebensphilosophie, ggf. ein Lebensmotto?
Ich hatte eine glückliche Kindheit und liebevolle Eltern. Ich versuche, das in meiner Beziehung zu meiner Liebe zu leben und an unsere Tochter weiterzugeben. Ich versuche, die größtmögliche Akzeptanz anderen Menschen gegenüber zu haben – aber keine Toleranz bei Intoleranz, d.h., dass ich mich auch immer politisch positioniere.

Wo siehst du Brüche in deinen beruflichen oder freundschaftlichen Beziehungen? Wodurch wurden diese verursacht?
Wenn mit zweierlei Maß gemessen wird, etwa wenn eine Person sehr moralisch argumentiert, sich selbst aber in Widersprüchlichkeiten verstrickt. Widersprüchlichkeiten sind Teil des Menschseins. Sie sollten reflektiert, nicht negiert werden. Sonst wird es für mich schwierig in der weiteren Beziehung zu dieser Person, und da kann es dann auch zu Brüchen kommen.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis vom Umgang mit Jungen-, Männer- und Väterthemen?
Auf der einen Seite das Nichtreflektieren von unterschiedlichen Lebensumständen und die mangelnde Wahrnehmung bezüglich unterschiedlicher Betroffenheiten, auf der anderen Seite das Wissen darum, dass sich das Leben in der Regel nicht als schwarz/weiß-Schablone darstellt. Wir wachsen alle in Strukturen und Systemen auf und bewegen uns darin. Dadurch nehmen wir unterschiedliche Positionen ein und haben auch unterschiedliche Privilegien. Diese Privilegien können sich aber auch verändern, im Sinne von gewinnen, verlieren, ausweiten und auch wiederum einschränken.

Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deiner Arbeit an?
Zu merken, dass mein »Hauptbusiness« – nämlich: in Beziehung gehen – immer noch funktioniert und mir sehr viel Freude und Erfüllung bereitet. Kindern und Jugendlichen wird viel zu wenig zugehört, Adultismus ist oft das Metathema. In unseren Workshops zum Thema »Sexismus und sexualisierte Gewalt« wurde das 2023 wieder sehr deutlich.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest? Und was möchtest du gegen Ende deines Lebens erreicht haben?
Ich würde gerne mehr zum Thema »Mobbing« mit Jungen* arbeiten, auch zum Thema »Beziehung« bzw. Liebesbeziehung, Wünsche und »Lebens«-Träume. Das passiert einfach zu wenig. Und vor allem Fachkräfte schulen, die mit »cis hetero Jungen« und männlichen Jugendlichen arbeiten und hier oft an ihre Grenzen kommen. Am Ende meines Lebens möchte ich das Gefühl haben, ein erfülltes Leben gehabt zu haben. Zum jetzigen Zeitpunkt, glaube ich, bin ich auf einem guten Weg dahin.

Eine nicht gestellte Frage, die du aber dennoch gerne beantworten möchtest?
Ja: Wie steht es mit dem Thema »Konkurrenz und Machtverhältnisse« innerhalb der »Szene«? Darüber würde ich mich gerne einmal mit Kolleg*innen austauschen, da diese Frage nicht oft reflektiert wird. Ich stelle mir interessante Resonanzen vor und Gedanken, die uns auch weiterbringen.
 
 

 
 
 
 
:: Marc Melcher, Jg. 1973, arbeitet in Frankfurt am Main und lebt auch dort in der Nähe. Von 2000 bis 2009 arbeitete ich in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in Hanau bei der evangelischen Kirche. Seit 2009 bin ich Bildungsreferent beim Paritätischen Bildungswerk Bundesverband mit den Themenfeldern: Jungen*arbeit, Genderpädagogik in Kita, Hort und OKJA, und ich bin Berater für den Early Excellence-Ansatz im Elementarbereich. Ich gebe Fortbildungen in meinen Themenfelder für Fachkräfte und führe dort immer wieder Projekte/Workshops in »koedukativen« und »homogenen« Settings mit Kindern und Jugendlichen durch, um die daraus gewonnen Praxiserfahrungen in die nächsten Fort- und Weiterbildungen einfließen zu lassen; in einem Interview mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung konnte ich mein Verständnis dazu etwas ausführen. Freiberuflich bin ich darüber hinaus Referent bei der Sinus Akademie für deren Jugendstudie und führte 10 Jahre lang den Boys’Day an der Frankfurt University of Applied Sciences mit Studierenden durch. Ehrenamtlich bin ich seit mittlerweile 10 Jahren im Vorstand der Bundesarbeitsgemeinschaft Jungen*arbeit.

»Immer wieder berührende Momente im Miterleben von Lernprozessen bei den Jugendlichen.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Christian Sieling, Dietzenbach b. Frankfurt/M.

Mann erzeugt Feuerkreis vor Publikum in der Nacht

Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: Nena2112, photocase.de | Alexander Bentheim

 
Was war oder ist dein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen-, Männer- und Väterthemen? Was dein politisch-thematischer Zugang?
Über den Zivildienst und persönliche Beziehungen wurde ich zunächst Krankenpfleger und arbeitete in diesem Feld 17 Jahre. Schon in der Ausbildung ca. 1988 initiierte ich eine regionale Krankenpflegeschüler*innen-Selbstorganisation und darin eine Gruppe »Männer in der Krankenpflege“ (dazu gibt es sogar noch ein damals getipptes kurzes Papier mit geschlechtsbezogenen Reflexionen).
Politisch bin ich v.a. seit meiner Darmstädter Zeit ab 1987 in der außerparlamentarischen Linken aktiv, temporär auch in der damaligen »Sonntagsgruppe Darmstadt« mit einer seit 1993 arbeitenden Männerteilgruppe dieser ca. 15-köpfigen politischen Aktivgruppe. Mit drei Männern dieser Gruppe nahm ich 1993 erstmals am Bundesweiten Männertreffen im nahen Bessunger Forst teil, was mich von den Ideen und Erfahrungen her bis heute begleitet.

Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen, Männern und Vätern? Wie hat sich dein Engagement entwickelt, ggf. verändert?
1993 begann ich auch in der wohl ziemlich einmaligen Männerkreistanzgruppe der VHS Darmstadt mitzutanzen, bis heute, jetzt mit Dreierteam aus Teilnehmern, die das Erbe unseres 2021 verstorbenen Tanzlehrers Philipp Mitterle weiterführen. Außerdem begann ich 1993 an der Uni Frankfurt Pädagogik auf Diplom zu studieren, faktisch aber gleich Gender Studies, v.a. im Fachbereich Soziologie. 1995 begann ich dann auch ein über Jahre zusammengewürfeltes Halbjahrespraktikum mit geschlechtsbezogener Arbeit für verschiedene regionale Jugendbildungswerke, meist in geschlechterreflektierten Schulprojekten. Während eines Unistreikes bildeten wir eine 7-köpfige AG »autonomes Tutorium kritische Männerforschung«; persönlich halten wir den Kontakt bis heute. Mein Diplom 1999 war dann eine (nicht veröffentlichte) kritische Auseinandersetzung mit den sexualpädagogischen Diskursen der Jungenarbeit, die ich im Rückgriff auf die Theorien von Michel Foucault kritisch betrachtete.

Gibt es für dich ein nachhaltiges gesellschaftliches/historisches Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Nein. Oder viele, je nachdem. Für mich wichtig ist meine mit jeweiligen Ereignissen verwobene persönlich-politische Entwicklung, das ist in Kürze nicht beschreibbar.

Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deinen privaten oder beruflichen Beziehungen?
Seit August 2000 bin ich Vater, erst von einem Sohn, ab 2009 auch von einer Tochter. Anders als ich es bei meinem Vater als selbstständigem Dachdecker und Vater ab 1963 erlebt habe (ich erinnere z.B. Vater, Onkel und andere erwachsene Männer in den 60ern nur weit vorlaufend vor uns Kindern mit den Müttern), wollte ich dagegen immer auch nah und selbstverständlich begleitend im Alltag bei meinen Kindern sein. Daher habe ich meinen Beruf auf halbtags beschränkt und hatte bis zur Pubertät auch sehr viel gemeinsame Zeit mit meinen Kindern.

Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und/oder Beziehungen zu anderen ausmachen?
Eigenschaften zu benennen finde ich generell nicht offen genug, als kontaktfreudig könnte ich mich aber immer bezeichnen.

Hast du eine Lebensphilosophie, ggf. ein Lebensmotto?
Mein grundlegendes Lebensmotto verdanke ich wohl meiner sehr katholischen Mutter: »Liebe Deinen Nächsten!«. Dazu möchte ich meine Mitmenschen in Begegnungen kennen und verstehen lernen und da sein, wenn ich gebraucht werde und etwas beitragen kann. Lange musste ich aus politischen Reflexionen heraus Abstand zur (Herrschaftsinstitution) Kirche nehmen, seit einigen Jahren fühle ich mich meinem in der Kindheit gewachsenen Glauben wieder sehr verbunden, auch wieder bei Besuchen in Kirchen und Klöstern – da gab es übrigens die ersten vorsichtigen Wiederannäherungen bei den morgendlichen Workshops »Taizé-Lieder singen« im Rahmen der Bundesweiten Männertreffen.

Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deiner Arbeit an?
Eine grundlegende Motivation liegt wohl in meinem Mut zur Selbstheilung, auch wenn mich als Dachdeckersohn z.B. extreme Höhenangst begleitet. In Kindheit und Jugend habe ich manche Ohnmachtserlebnisse mit bzw. durch andere Jungs durchleben müssen, als Kind auch in Krankenhäusern, damals gab es nur sehr eingeschränkte, nicht mal tägliche Besuchszeiten. In der abgesicherten beruflichen Rolle brauche ich eigentlich nicht übermäßig viel Mut, wie es Außenstehende hinsichtlich meiner Zielgruppen manchmal vermuten, aber schon ein zuversichtliches, selbstbewusstes, angstfreies und offenes Zugehen auf Menschen und ein klares Angebot zur (Arbeits)Beziehung. Wenn dann erfolgreich wertschätzende Resonanz kommt, hat das letztlich auch viel geheilt (und da habe ich übrigens auch einige Kollegen in der Jungenarbeit mit ähnlichen Erfahrungen in ihrer Jugendzeit kennen gelernt).
Und schließlich ganz zentral ist, vermutlich auf christlichen Fundament, mein Sehnen nach einer gerechteren Welt, auch für zukünftiges Leben, und auch aus dem Schmerz heraus beim Betrachten jetziger und geschichtlicher Ungerechtigkeiten und Zerstörungen. Als entscheidende Entwicklungsschritte sehe ich dabei das radikale, selbstreflexive Öffnen und Engagieren für lebbare Vielfalt – auch eben in politisch, fachlichen Diskursen, weg von den damals jugendlichen Kämpfen für das vermeintlich klar identifizierte »Gute« (was in den 90er Jahren der westdeutschen Linken für mich im Nachhinein erschreckend viel ideologische Begrenztheit, auch männlich-patriarchale bedeutet).

Was ist für dich »Erfolg« in deiner Auseinandersetzung mit Jungen-, Männer- und Väterthemen? Hast du Beispiele?
Meine Jugendbildungsarbeit, die sich auf Beziehungsarbeit stützt, wirkt m.E. wegen punktueller und zeitlich befristeter Impulse und Projekte über dann nachhaltig in Erinnerung bleibende Lernerlebnisse an außerschulischen Lernorten. Das sind z.B. das »Blindenmuseum«, besondere Ausstellungen, Reisen … die selbst explizit Geschlechterthemen als Impulse anbieten können, aber nicht müssen, auf jeden Fall in der Gruppe aber geschlechtsbezogen reflektiert werden. Daneben wirkt das Sich-umeinander-kümmern in der Gruppe und mein Part der Fürsorge für das Rahmenprogramm einschließlich Organisation, An- und Abreise, Verpflegung, Unterkunft … bei aller Hinführung zu selbsttätigen Lernerlebnissen darf dies als Basiserfahrung nicht unterschätzt werden, nicht zuletzt auch in Verantwortung und angemessener Offenheit für ein gutes Wieder-voneinander-Abschied-nehmen.

Wo siehst du Brüche in deinen beruflichen oder freundschaftlichen Beziehungen? Wodurch wurden diese verursacht?
Ehrlich gesagt habe ich sehr große Privilegien in meiner Arbeit im Jugendbildungswerk, als einer in sich geschlossenen kleinen Einheit in der Kreisjugendförderung, denn bis heute können wir unsere Projekte zu dritt auf zwei Vollzeitstellen selbst gestalten und durchführen. Nicht einen einzigen Arbeitsauftrag zum reinen Abarbeiten habe ich bis jetzt von der Leitung erhalten. Allenfalls das Budget ist für manche Teilvorhaben zu begrenzt – bezogen auf meine Projekte stehen nur ca. 7.000 bis 8.000 Euro Veranstaltungsmittel bei ca. 40-50 Veranstaltungseinheiten pro Jahr zur Verfügung. Und das kooperierende System Schule passt nicht immer zu meinen Projekten, lässt mich aber in der Regel gerne selbstverantwortlich machen, insbesondere mit den als »problematisch« angesehenen Jungs. Viel Anerkennung erinnere ich da, und eigentlich keine wirklich blockierenden Widerstände.

Mit welchen Institutionen und Personen warst du gerne beruflich oder privat verbunden oder bist es noch?
Neben der fachlichen Wertschätzung von erfahrenen Kolleg*innen, die mir ebenso wichtig ist wie die elementaren Kooperationen in der kommunalen Jugendbildungsarbeit auf Landkreisebene (welche zentral von Wertschätzung und Verlässlichkeit leben), gibt es für mich immer wieder berührende Momente im Miterleben von Lernprozessen bei den Jugendlichen.
Besondere Erlebnisse waren für mich, auch ganz persönlich, sechs jährliche Geschichtswochenendreisen mit der Jungengruppe eines Jugendraumes. Diese kam zunächst mit dem eigenen Anliegen, ein KZ zu besichtigen, was dann zu Fahrten nach Buchenwald, Verdun, Leipzig, Bremerhaven, Berlin und auch in den Geburtsort meines verstorbenen Vaters nach Bischofferode im Eichsfeld führte, mit jeweils vielen geschichtsbezogenen und persönlichen Erlebnissen. Und genauso hatte ich auch unvergessliche Erlebnisse mit Jungengruppen in den Tagen, als meine Mutter 2018 starb, von der mich erreichenden Todesnachricht mitten im Projekt bis zum Austausch über Trauererlebnisse während der Gruppenarbeit.

Was gibt dir persönlich Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen? Was ist dir (mit) gelungen, worauf bist du (zusammen mit anderen) vielleicht auch stolz?
Das immer wieder berührende Feedback der Jungen. Ein besonderes Beispiel, das mich im Frühjahr tief durchatmen ließ und welches ich nicht vergessen werde: ein Junge, 8. Jahrgang Gesamtschule, verblieb mit zunächst Widerständen beim Wochenschulprojekt »Soziale Jungs«. »Wir sind die, die kein Sozialpraktikum hinbekommen haben«, sagte er, und der Direktor merkte an: »Ich hoffe, Sie überleben die Jungs«. Mein Ansatz war jedoch: »Was heißt für uns überhaupt sozial?«. Immer startend mit einem gemeinsamen Frühstück und morgendlichen offenem Tischgespräch: dass die Nutella plötzlich verschwunden war, kam hier respektvoll und auf Augenhöhe »auch auf den Tisch« – ebenso wie dann ein Besuch im Blindenmuseum, das gemeinsame Schauen der Filme »Masel Tov Cocktail« und »Ziemlich beste Freunde« mit gegenseitiger Assistenzübung »Cola anreichen«. Nach dem Abschied am Freitagmittag im Raum im 1. Stock rief mich der Junge aus der 8. Klasse unten vom Schulhof aus der sich entfernenden Gruppe heraus noch mal ans Fenster: »Herr Sieling, Herr Sieling … es war so geil, wir haben so viel gelernt, Herr Sieling, ich habe von Ihnen gelernt, wie man mit Menschen umgeht – ich rufe Sie mal in zwei Jahren an.« Das hat mich sehr berührt.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest? Und was möchtest du gegen Ende deines Lebens erreicht haben?
Was ich mir mit Blick auf meinen Abschied von beruflicher Arbeit und letztlich vom Leben wünsche: den Abschied annehmen und Danke sagen können für all das geschenkte Leben, und das direkt den Menschen oder in nachfühlenden erinnernden Gedanken und im Gebet.
Konkret, auch um den Kreis beruflicher Tätigkeit zu schließen, ein Praktikum in einem Hospiz in der Pflege, vielleicht wenn ich 65 bin. Sterbebegleitung in der Pflege war für mich eine gleichermaßen umfassende und tiefgreifende Tätigkeit, denn begonnen habe ich nach der Krankenpflege-Ausbildung damals bewusst auf der AIDS-Station der Frankfurter Uniklinik. In meinen Rentenzeiten kann ich mir ein Ehrenamt im Hospiz-Bereich durchaus vorstellen, zum Lernen, Annehmen und Geben. Dann würde ich auch ein Abschiedsjahr 2029/30 im Jugendbildungswerk planen, vielleicht mit einem Fachtag, den ich zum Thema »Abschied in der Arbeit mit Jugendlichen« anbiete. Und noch viele bundesweite Männertreffen, Kreistänze, meine Kinder ins Leben gehen sehen, zuversichtlich sein bis zum 80. Geburtstag und gerne auch darüber hinaus …

 
 

 
 
 
 
 
:: Christian Sieling, ich bin Jg. 1963 und wohne in Frankfurt/M. zusammen mit meiner Familie und Hund seit 16 Jahren. Ich arbeite seit 2000 als Jugendbildungsreferent für das kommunale Jugendbildungswerk des Kreises Offenbach mit dem auch damals so ausgeschriebenen Schwerpunkt »Jungenarbeit und Geschlechterseminare« auf meinerseits gewollter 0,5-Teilzeitstelle. Seit 2000 mache ich auch mit bei der informellen »Fachgruppe Jungen*arbeit Hessen«, die seit ca. 2009 einen jährlichen Fachtag anbietet.

»Das meiste, was ich in der Jungenmedizin gelernt habe, habe ich durch die Jungen und jungen Männer gelernt.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Bernhard Stier, Hamburg

verschmitzt schauender Junge

Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: Alexander Bentheim

 
Was war dein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen-, Männer- und Väterthemen?
Ich stamme aus einem sehr empathischen, patriarchalisch geprägten Elternhaus mit klarer Rollenstruktur. Erst später, in der Auseinandersetzung mit meiner eigenen Vaterrolle und Partnerschaft, erkannte ich auch die »weichen« Seiten meines Vaters und die starke Rolle meiner Mutter, eine Familie mit 4 Kindern und allem, was dazugehört, zusammenzuhalten. Sie war es auch, die für das Thema »Gesundheit« zuständig war, einem Thema, welches mein Vater, zumindest für sich, völlig ausgeklammert hatte. Der Körper musste – vor allem auch in Bezug auf berufliche Anforderungen – »wie selbstverständlich« funktionieren.
Mein frühes Interesse für die Jugendmedizin, als Kinder- und Jugendarzt schon zu Klinikzeiten und später in eigener Praxis, lehrte mich die Erkenntnis, dass Jungen und junge Männer gegenüber Mädchen und jungen Frauen medizinisch und psychisch schlechter versorgt sind. Schnell wurde mir klar, dass dies zum einen mit der nach wie vor bestehenden Vorstellung von Männlichkeit zu tun hat (»Mann und krank geht gar nicht«), wie ich sie in meinem Elternhaus kennengelernt hatte. Zum anderen bestehen aber deutlich schlechtere Versorgungsstrukturen und medizinische Expertise – zumal, wenn scheinbar der Bedarf geringer ist, ausgedrückt etwa in verminderter Inanspruchnahme medizinischer Unterstützung. Im Laufe der Zeit sah ich viele Jungen und Männer mit Erkrankungen, die sich »rein zufällig« bei den Vorsorgeuntersuchungen ergaben und von ihnen »nicht bemerkt worden waren«. Allerdings folgte auch, je mehr ich mich mit »Jungenmedizin« – einem Begriff, den ich 2005 erstmals formulierte – beschäftigte und mir Kenntnisse erwarb, dass die Inanspruchnahme deutlich gesteigert und sehr dankbar aufgenommen wurde. Dies wiederum zeigte mir, dass ein Zuständigkeits- und Expertiseangebot sehr gut in der Lage ist, die medizinische und psychische Versorgungslage zu verbessern. Und dass es dadurch möglich ist, die Vorstellung von »Männlichkeit und Krankheit geht nicht zusammen« zu überwinden.
Im Jahr 2006 folgte daraufhin das erste Jugendmedizin-Lehrbuch (inzwischen in der 2. Auflage 2019) mit einem eigenen Jungenmedizinkapitel und 2013 das erste Handbuch zur Jungengesundheit.

Und dein politisch-thematischer Zugang?
Durch meine Tätigkeit im Netzwerk »Jungen- und Männergesundheit« lernte ich Männer kennen, die sich außerhalb des rein medizinischen Bereichs beruflich mit Jungengesundheit beschäftigen und vielfältige Expertise entwickelt haben. Gleichzeitig wurde mir umso mehr deutlich, dass hierbei in der medizinischen Versorgungsstruktur deutliche Defizite bestanden. Im Gegensatz zur Kinder- und Jugendgynäkologie gab es für Jungen und junge Männer keine vergleichbaren Strukturen und Zuständigkeiten. Als Konsequenz wurde ich zuständig für Jungenmedizin im Netzwerk »Männergesundheit« und war Mitbegründer der Fachgruppe »Jungenmedizin/Jungengesundheit« des Bundesforum Männer. Parallel dazu initiierte ich eine Beauftragung für Jungenmedizin und Jungengesundheit im Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte Deutschlands e.V., dessen erster Beauftragter ich für diese Thematik wurde. Leider kam es bislang nicht zur Gründung einer interdisziplinären Arbeitsgemeinschaft Jungenmedizin/Jungengesundheit – dieses Vorhaben ist aber nicht aufgegeben.

Welche sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen und Männern?
Neben der Jugendmedizin und darin dem speziellen Lebensabschnitt »Pubertät« ist nach wie vor mein zentrales Thema die Verbesserung der medizinischen Expertise und Versorgungsstruktur für Jungen und junge Männer. Dabei sah und sehe ich einerseits meine Aufgabe darin, in zahlreichen Kapiteln zur Jungenmedizin in pädiatrischen Lehrbüchern sowie in vielfältigen Artikeln zu unterschiedlichen jungenmedizinischen Themen in medizinischen Fachzeitschriften im In- und Ausland die jungenmedizinische Expertise zu verbreiten und »in die Fläche« zu bringen. Andererseits helfe ich durch Vorträge und Seminare, das Interesse zum jungenmedizinischen Handeln zu fördern und damit die konkreten Versorgungsstrukturen zu verbessern.
Das meiste, was ich in der Jungenmedizin gelernt habe, habe ich durch die Jungen und jungen Männer, die meinen medizinischen Rat suchten und suchen, gelernt. So ist meine feste Überzeugung, dass es der beste Weg ist, über das Interesse für dieses Gebiet zum Handeln zu kommen. Die Jungen und jungen Männer danken es einem vielfältig!

Wie hat sich dein Engagement für Jungen, Männer und/oder Väter entwickelt, ggf. verändert?
Das Interesse und die Beschäftigung mit jungenmedizinischen Themen hat sich etwas in Richtung der Thematik »Jungengesundheit« verlagert, ganz im Sinne des Begründers der Salutogenese, dem amerikanisch-israelischen Gesundheitswissenschaftler Aaron Antonovsky (1923–1994), der diese als Gegenbegriff zur Pathogenese eingeführt und in einem komplexen Modell ausformuliert hat. In diesem Zusammenhang sehe ich den Wandel der »Männlichkeit« im Laufe des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts als eines der zentralen Themen an. Das Ringen der Geschlechter um ihre gleichberechtigte Rolle und Verantwortung in unserer Gesellschaft ist nach wie vor geprägt von Verlustangst und Niederlagen. Dabei zeigen sich – während ich diese Zeilen schreibe – z.T. in verheerender Weise die »Fliehkräfte« des Rückschritts in eigentlich überkommen geglaubte Männlichkeitsstrukturen. Und doch hoffe ich, dass sich die Errungenschaften eines gleichberechtigt lernendenden Miteinanders der Geschlechter nicht mehr aufhalten lassen. Jeder und Jede ist dabei gefragt!

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche oder historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Der Fall der »Berliner« Mauer und die Wiedervereinigung war und ist für mich das nachhaltigste Ereignis. Es hat wieder einmal bewiesen, dass (a) alles seine Zeit hat, (b) der Glaube an und der Einsatz für etwas, an das man glaubt, selbst wenn es noch so unwahrscheinlich ist, Erfolg haben kann, (c) Hartnäckigkeit und ein langer Atem – und nicht Mutlosigkeit und Verzweiflung – gefragt sind, und (d) letztlich nicht die Attribute »Feuer und Schwert«, sondern gegenseitiges »Verständnis und Demut« den Erfolg möglich machen. Das gilt gleichermaßen auch für das geeinte Europa – insbesondere das deutsch-französische Verhältnis.

Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deinen privaten und beruflichen Haltungen und Beziehungen?
Durch meine, nun schon seit über zwanzig Jahren währende, Beschäftigung mit der Jungenmedizin und Jungengesundheit hat sich auch meine persönliche Einstellung sehr geändert. So ist Gesundheit für mich nicht mehr selbstverständlich gegeben, sondern erfordert ein Kümmern. Krankheit ist für mich keine Niederlage, kein Manko, kein Stigma, sondern eine Herausforderung, die es entweder zu bewältigen oder anzunehmen gilt. So bin ich im beruflichen wie auch im privaten Leben langsam vom Kämpfer (Typ »lonesome cowboy«) zum Vor- und Nachdenker geworden. Dabei denke ich auch viel über meine Männlichkeitsprägung nach, wohlwissend, dass sich nicht alles so einfach über Bord werfen lässt. Diese Erkenntnisse versuche ich auch an meine Söhne und männlichen Enkel weiterzugeben bzw. sie mit ihnen zu teilen.

Drei Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und Beziehungen zu anderen ausmachen?
Toleranz, Zuverlässigkeit, Verantwortungsbewusstsein.

Was ist für dich »Erfolg« in deiner Auseinandersetzung mit Jungen-, Männer- und Väterthemen? Hast du Beispiele?
Ja, einige. Zum Beispiel, dass die »Jungs« kommen und bei mir Rat suchen; dass Eltern sich an mich wenden, wenn es mit speziellen Jungen-Themen Probleme gibt. Auch dass Kolleg*innen meine Expertise anfragen und ich mit meinem Anliegen das Bewusstsein für Jungenmedizin und Jungengesundheit voranbringe, auch immer wieder gehört und gefragt werde, das ist für mich Erfolg. Ich hoffe sehr, dass das bald auch mein*e Nachfolger*in im BVKJ sagen kann – nichts ist unendlich!

Was gibt dir persönlich Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen?
Eine von Liebe und gegenseitigem Verständnis geprägte Beziehung, eine große und empathische Familie, langjährige Freundschaften, gemeinsame Aktivitäten und geistige Herausforderungen »am Puls der Zeit«. Und nach wie vor meine jungenmedizinische Expertise »an den Mann und die Frau« bringen zu können. Das gilt auch für mein privates Umfeld mit zwei Söhnen und fünf männlichen Enkeln.

Was ist dir (mit) gelungen, worauf bist du (zusammen mit anderen) vielleicht auch stolz?
Dass die »Jungenmedizin« inzwischen zu einem feststehenden Begriff geworden ist und zunehmend mehr in den Fokus genommen wird. Allerdings ist eine gleichwertige medizinische Versorgung der Geschlechter noch (lange) nicht erreicht. Dranbleiben ist die Devise.

Mit welchen Institutionen und Personen warst du gerne beruflich oder privat verbunden oder bist es noch?
Hier ist als erstes meine seit 35 Jahren bestehende Ausbildungstätigkeit in pädiatrischer Ultraschalldiagnostik zu nennen. Dieses seither bestehende Team aus fünf Männern stellt für mich den Idealtypus einer intensiv gelebten Männerfreundschaft dar. Diese Freundschaften haben mir sehr viele Erkenntnisse auch zur »Männergesundheit« geliefert und sind auch eine wesentliche Basis meiner beruflichen Tätigkeit. In diesem Zusammenhang ist mir auch die Verbreitung und Ausbildung sonografischer Expertise in der Jungenmedizin, und generell in der Kinder- und Jugendgynäkologie, bei jungen Kolleg*innen ein wichtiges Anliegen.
Das Netzwerk »Jungen und Männergesundheit«, allen voran Gunter Neubauer und Reinhard Winter, war(en) und sind immer noch wichtige Ideengeber, um mit meinen jungenmedizinischen Themen über den Tellerrand zu schauen.
Meine Tätigkeit im BVKJ e.V. und meine interdisziplinären Symposien zur Jungenmedizin bei den DGKJ-Kongressen – zusammen mit Maximilian Stehr, Wolfgang Bühmann und Manfred Endres.
Last but not least Alexander Bentheim, mit dem sich immer wieder trefflich über diese Themen diskutieren lässt.

Was hat die Männer/* ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast?
Die Zusammenarbeit hat mir – neben fachlichem Input – vor allem die vielfältigen Seiten des »Mannseins« immer wieder deutlich gemacht. Man ist nicht nur einfach Mann, sondern hat vielfältige, auch für die soziale Gemeinschaft wertvolle Facetten, die es weiterzuentwickeln gilt. Es ist schön, ein Mann zu sein, aber auch immer wieder Aufgabe und Herausforderung. Diese Facetten haben mir diese Männer in unterschiedlicher Art in zahlreichen Gesprächen und Diskussionen, aber auch und gerade im Beisammensein und gemeinsamen Erleben, z.B. bei Segeltörns, nahegebracht.

Hast du eine Lebensphilosophie, ggf. ein Lebensmoto?
»Solange wir das Leben haben, sollen wir es mit den uns eigenen Farben der Liebe und der Hoffnung malen« (Marc Chagall).

Wo siehst du Brüche in deinen beruflichen oder freundschaftlichen Beziehungen? Wodurch wurden diese verursacht?
Im »Alpha-Tier«-Gehabe, welches auch ich zeitweilig gelebt habe. Aber das Alter macht milde und nachdenklicher. Ich versuche, diese Nachdenklichkeit, Milde und Toleranz auch meinen Söhnen und Enkeln zu vermitteln – eine nicht immer leichte Aufgabe.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis vom Umgang mit Jungen- und Männerthemen?
»Zwei Dinge pflegen den Fortschritt der Medizin aufzuhalten: Autoritäten und Systeme« (Rudolf Virchow). Das musste ich leider immer wieder erfahren in meinem Begehren, die Jungenmedizin und Jungengesundheit voranzubringen.

Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deinem Engagement an?
Dass eine medizinische Gleichberechtigung und gute gesundheitliche Versorgung, unabhängig vom Geschlecht, noch (lange) nicht erreicht ist. Meine Veröffentlichungen, Seminare und Vorträge sollen entsprechend auch dabei helfen, die hegemoniale Männlichkeit zu überwinden.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest? Und was möchtest du gegen Ende deines Lebens erreicht haben?
Eine interdisziplinäre AG-Jungenmedizin/ Jungengesundheit.

Eine nicht gestellte Frage, die du aber dennoch gerne beantworten möchtest?
Die Frage fällt mir gerade nicht ein, aber die Antwort wäre: »Die stärkste Musik ist die, die man macht, weil man sie mit anderen teilen will.« (Herbie Hancock)

 

 
 
 
 
 
 
:: Bernhard Stier, Arzt, Autor, Referent zu den Schwerpunktthemen Jungengesundheit, Pubertät, Jungen- und Jugendmedizin, Sonografie, lebhaft in Hamburg. Mehr zu mir gibt’s hier.

»Ich bin immer noch hungrig danach, in dieser verrückten Welt Sinn und Perspektive zu finden.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Dirk Achterwinter, Bielefeld

Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: roterfuchs38, photocase.de | privat

 
Ich bin ein Kind der 1960er-Jahre und daher mitgeprägt von der Adenauer-Ära. Meine Großväter und mein Vater waren sehr in ihre jeweiligen Arbeiten eingebunden, in der Metall- und Textilindustrie und mit Karrieren als Meister oder zumindest Vorarbeiter, aber auch damit beschäftigt, ihre Kriegserlebnisse »zu verarbeiten«; die Schatten der Nazi-Zeit waren lang. Der mütterliche Teil meiner Familie musste die eigene traumatische Fluchtbiographie bewältigen.
Ich war in den 1970ern auf einer reinen Jungenrealschule, die einen hohen Anspruch an sich hatte, aber wenig pädagogisches Grundverständnis entwickeln konnte. Die ersten Lehrerinnen wurden als exotische Wesen wahrgenommen, von uns als Schülern und auch vom alten männlich-traditionellen Lehrerkollegium. Dank der damaligen Bildungsreform konnte ich dann Abitur machen und habe schließlich – nach einem kurzen Versuch, evangelische Theologie zu studieren – Zivildienst in einer stationären Einrichtung der Jugendhilfe gemacht und dann an der Uni in Bielefeld den Abschluss als Diplom-Pädagoge.
Im Studium war einer meiner Schwerpunkte die Sexualpädagogik. Weil damals auch schon Männer in der pädagogischen Arbeit fehlten, bekam ich Anfragen für die Arbeit mit Jungengruppen zu sexualpädagogischen Themenbereichen. Das hat sich mit vielen inhaltlichen Variationen bis in die 2020er-Jahre fortgesetzt. Ich habe nach dem Studium bei Pro Familia, bei der AWO, der Diakonie und der Caritas gearbeitet. Von 1993 bis 2023 war ich in Beratungsstellen tätig, lange auch in Leitungsfunktionen. Und da ich immer auf der Suche nach Wegen zu mir selbst war, um mich selbst besser verstehen zu lernen, habe ich auch mehrere Zusatzausbildungen gemacht.
Privat fahre ich gerne Motorrad, gehe gern laufen (am liebsten am Meer), liebe das Bogenschießen und mag Fantasie-Geschichten wie »Das Rad der Zeit« und »Star Wars«.
Diese biographischen »Rohdaten« sind wichtig, um zu verstehen, warum die Männer- und Jungenarbeit immer eine Rolle für mich gespielt hat. Denn die Frage nach der eigenen Identität ist für mich immer auch eine geschlechtsspezifische und die Wurzeln liegen in der eigenen Biographie. Auch hier spielt die Variable »Geschlecht« und die daran geknüpften Erwartungen aus dem sozialen Umfeld eine große Rolle. So war in meiner Herkunftsfamilie immer klar, dass ich als erstgeborener Sohn eine ganz bestimmte Rolle mit klar definierten Aufgabenbereichen zu erfüllen habe. Die familiären Erwartungen und die damit verbundenen Introjekte waren so also immer an die Rolle als Junge und dann später als Mann geknüpft.

Was war oder ist dein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen-, Männer- und Väterthemen? Was dein politischer und fachlicher Zugang?
Bei mir ist das ganz klar die Suche nach dem »Wer bin ich?«, »Wo komme ich her?« und »Bin ich richtig, so wie ich bin?« Meine männlichen Vorbilder, mein Vater und meine Großväter, haben mir ganz klassische Biografien vorgelebt. Vorbilder, denen ich folgen wollte und ich dann doch gemerkt habe: »Diese Schuhe passen mir nicht richtig.« Irgendetwas stimmte nicht, aber woran liegt das? Aus dieser »Defizit«-Wahrnehmung und den Erwartungen an mich entstand nach und nach die Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle. Als Kind hatte ich die Vorbilder »Old Shatterhand«, »Winnetou«, »Dietrich von Bern« und »Der rote Kosar«. Als Jugendlicher waren mir eine Zündapp GTS 50, der Film »Easy Rider«, Lederjacken, »bloß keinen Tanzkurs machen!« und »Rebellen sind cool« wichtig. Als junger Erwachsener stand ich auf den Ford Fiesta GT, fragte nach lebenswerten Werten, ging zu Kirchentagen, war Kindergottesdiensthelfer, Kriegsdienstverweigerer und schließlich Zivildienstleistender, der sich fragte, was aus ihm einmal werden soll.
So wie mein Vater wollte ich nicht leben, aber wie dann? Arbeit hatte trotz allem einen hohen Stellenwert, nur welchen? Identitätsstiftend soll sie sein, aber wie für mich? Und Sexualität: wie soll ich damit umgehen, wo kann ich mich orientieren? Gleichzeitig fragen und sprechen ging nicht. Im Hintergrund das gesellschaftliche Rauschen um Willy Brandt und »Mehr Demokratie wagen«, eine Bildungsreform, Lehrer auf dem Weg zu sich selbst, die Nachrüstungsdebatte, Wohngemeinschaften als Lebensform, Helmut Kohl und die Spendenaffäre. Ich war auf der Suche nach etwas, das ich nicht klar definieren konnte, und fühlte mich angesprochen von BAP in »Fuhl am Strand«: »Hey, Vorbild, dank dir schön, ich glaub, ich bekomm es langsam selber hin«. Trotzdem wirken sie, diese männlichen Vorbilder, gerade wenn sie aus dem Familiären kommen. Das Männliche war irgendwie konstant, nur alle Fragen drumherum nicht. Wie Mannsein richtig geht, konnte mir niemand sagen, die realen Vorbilder waren jedenfalls nicht die, die mich fasziniert hätten. Also weitersuchen.
Entscheidend war dann, dass ich selbst Vater wurde. Als ich das erfuhr, konnte ich eine Woche nicht schlafen. Ich wusste einfach nicht, wie ich diese Rolle, die Verantwortung meistern könnte oder müsste. Das Pädagogik-Studium gab ein paar kleine Antworten und Denkansätze, aber so richtig zufriedenstellend war das nicht. Es gab einige Männer, die ähnlich unterwegs waren wie ich, was auch hilfreich war, dennoch gab es in dieser Szene auch viel warme Luft, Narzissmus, Konkurrenz und den einen oder anderen Abstoß. Die alten Männlichkeitsmythen wirkten auch hier noch.
Heute würde ich sagen: es war ein dynamischer Prozess, Ergebnis offen. Er wurde geprägt von vielfältigen Einflüssen, den damaligen Politiken, individuellen Beziehungserfahrungen, eigenen scheiternden Gehversuchen und immer wieder der Sehnsucht: Da muss doch was sein! Aber liegt es an mir? Am Patriachat? Stelle ich mich einfach nur an? Wichtig war für mich eine Erfahrung, die am Ende jeder Aus- und Fortbildung angesichts der anstehenden Prüfung die wiederkehrende Frage »Kann und schaffe ich das überhaupt?« aufwarf. Viele Selbstzweifel traten in diesen Phasen nach vorne. Als mir das klar wurde und ich – auch dank der Trauma-Ausbildung – mehr und mehr die Verhaltensmuster verstand, konnte ich Stück für Stück mehr in die innere Ruhe finden. Ich hatte endlich Erklärungen, welche Personen und Themen und Einflüsse mich auf meiner Suche nach meiner Männlichkeit auf welche Weise beeinflusst haben und es teils immer noch tun.
Jetzt, mit 62 Jahren, ändert sich mein Bild von mir als Mann noch einmal, der ergebnisoffene Prozess läuft also weiter. Aber auf einem anderen Niveau. Es gibt nach all den Jahren und Lebenserfahrungen mehr Selbst-Akzeptanz. Nur das fällt noch schwer: Meine Enkelin Paula sagt »Opa« zu mir, eine Spielart von Mannsein, die ich nicht so gut annehmen kann. Denn »Opa« hat was mit offenen Sandalen und weißen Socken und Flecken auf einem alten Hemd zu tun. Das mag ich nicht. Und trotzdem entspricht das Bild der Rollenerwartung meiner Enkel an mich, ganz geschlechtsspezifisch.

Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen, Männern und Vätern?
Da bin ich wohl immer noch Gestalttherapeut. Die Jungen und auch Männer und Väter haben ja das Recht, mit ihren ganz eigenen Themen zu kommen. Die sind vielfältig und variantenreich, bunt und schillernd, auch traurig und sehr bewegend. Meine Aufgabe ist, mit ihnen im Kontakt zu schauen: »Was bringst du mit? Wo willst du hin? Wie kann das gelingen?« Bei den Jungen bin ich, je nach Alter und Entwicklungsstand, auch direktiv, schließlich habe ich mehr Lebenserfahrung und kenne die eine oder andere Klippe im Meer des Lebens. Bei jungen Männern in ihren 20ern erlebe ich oft, dass diese ein eindeutiges Coaching ansprechen und auch fordern; ihre Themen sind aktuelle Lebenskrisen, Partnerschaften, Gestaltung der beruflichen Biographie. Da haben sich Haltung und Auftrag der Klienten gegenüber früher verändert. Ältere Männer in ihren 40-50ern brauchen oft mehr Raum und Zeit, um ihre Themen benennen zu können. Hier spielt auch Scham eine Rolle. »Bin ich Ordnung, wenn ich als Mann Hilfe und Unterstützung brauche? Darf ich das überhaupt?« In der Paarberatung, wenn Kinder ein Thema sind, kommt das eigene männliche Rollenbild deutlich zum Tragen. Die Wünsche der Partnerin und Mutter werden zwar erkannt, gewürdigt, respektiert, doch es fehlt den Männern an »Werkzeugen« für die Umsetzung, um ihr und den Kids auch gerecht zu werden. Da sind die jungen Männer in den 20ern und 30ern deutlich flexibler.
Natürlich sind das nur recht grobe Zuschreibungen. Die Motivationen, sich auf die Auseinandersetzung mit den eigenen Bildern einzulassen, sind so vielfältig wie die eigenen Biographien und die Dynamiken der Partnerschaften. Wiederkehrende Themen sind die eigene und partnerschaftliche Sexualität einschließlich Lust auf Männlichkeit und Potenz, Umgang und Verbalisierung von Ängsten, Vorstellungen von Erfolg, das Gelingen von Partnerschaften, erlebte Verletzungen und Kränkungen mit ihren Wirkungen, die Furcht vor Einsamkeit, nicht ausgesprochene Traurigkeiten. Viele Themen kreisen auch um Trennung und Scheidung und die daraus entstehenden Probleme und Fragen, die bis hin zur Begleitung bei Prozessen vor dem Familiengericht reichen können, z.B. Regelung der Besuchszeiten, Unterhaltszahlungen, Umgang mit erlebter oder ausgeübter Gewalt und Kränkungen in der Beziehung, Zukunftshoffnungen und -ängste, Rettungsphantasien.

Wie hat sich dein Engagement für Jungen und Männer oder Väter entwickelt, ggf. verändert?
Es verändert sich immer wieder. In den Beratungsstellen gab es einen festen Rahmen durch Gesetze, Verträge und Finanzierungen. Aktuell kommen Selbstzahler. Dadurch verändert sich das Klientel, mit dem ich arbeite. Gleich geblieben sind allerdings die genannten Inhalte. Selbstzahler erlebe ich aktuell als sehr motiviert. Die ratsuchenden Männer wollen für sich weitere Schritte gehen und sind aktiv in diesem Prozess engagiert.
Für Jungen biete ich nach wie vor Projekte an. Es gibt mittlerweile mehr Männer, die das tun, und ich begrüße das. Gleichzeitig ist hier auch ein »Markt« entstanden, einzelne Kollegen leben von dieser Projektarbeit, was wiederum übliche wirtschaftliche Sachzwänge schafft. Trotzdem halte ich für gut, dass sich dieses Berufsfeld mehr und mehr professionalisiert. Das biete für viele Jungen Chancen. Vor 10-15 Jahren sah das Feld noch anders aus, da fehlte dieser Ansatz.
Mit der LAG Jungenarbeit NRW arbeite ich immer noch zusammen. Auch hier ist wunderbar zu beobachten, dass die Jungenarbeit dank des Engagements der Mitarbeitenden einen hohen professionellen und akzeptierten Standard erreicht hat.
Was über die Jahre gleichgeblieben ist: die meisten Jungenprojekte werden nach wie vor von weiblichen Fachkräften bzw. Lehrerinnen initiiert.
Meine innere Arbeitshaltung ist ruhiger geworden. Früher habe ich viel mit der Dynamik der jeweiligen Gruppe gearbeitet. Heute kann ich aus der Ruhe heraus andere Impulse setzen.

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche / historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
In meiner subjektiven Wahrnehmung gibt es – wie beschrieben – Unterschiede in den Generationen. Die jüngeren Männer schauen in ihren 20-30er Jahren bewusster und reflektierter auf ihre Rolle. Vor allem, was das Thema Vaterschaft angeht. Diesen Unterschied erkläre ich mir damit, dass (a) die jungen Mütter und Partnerinnen dieser Männer ihre Ansprüche und Rechte bewusster einbringen und Familie auch anders leben wollen als in früheren Generationen; (b) Bildung und Ausbildungen, auch Verdienste und materielle Sicherheiten heute in einem viel direkteren Zusammenhang damit stehen; (c) über die Jahre hinweg die Geschlechterdiskussionen offensichtlich doch fruchtbar waren: es hat sich etwas bewegt. Wer das wie bewertet, das bleibt wahrscheinlich immer sehr subjektiv. Mir persönlich jedenfalls haben die gemachten Erfahrungen viel Sicherheit gegeben.
Wichtig für mich war die Trauma-Ausbildung. Hier habe ich noch einmal gut gelernt und letztendlich auch verstanden, dass nicht ich Erfahrungen mache, sondern – im bewussten Widerspruch zum vorherigen Satz – die gemachten Erfahrungen mich gemacht haben. Die Trauma-Theorie kann hier vieles gut mit der Psychoedukation erklären und nachvollziehbar machen, was mich lange beschäftigt hat und was ich vorher nicht, dann aber sehr gut »greifen« konnte.

Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deinen privaten und beruflichen Beziehungen?
Was für mich ein riesiger Schatz war und ist, das sind die vielen intensiven Begegnungen mit Männern und auch Jungen in der Beratung, in der Projektarbeit, auf Fortbildungen. Teilweise wurden daraus langjährige Freundschaften bzw. tragende Beziehungen, die immer auf irgendeine Weise mit »Männerthemen« verbunden sind. Gleichzeitig sind sie sehr individuell und bunt und vielseitig und wirklich bereichernd.
Ich habe auch von nicht wenigen Förderschülern so viel gelernt. Diese Jungs haben mir Verhaltensweisen gezeigt, die ich als sehr herausfordernd erlebt habe. Und gleichzeitig, in der konstruktiven Auseinandersetzung, habe ich Stück für Stück verstanden, warum dieses Verhalten dieser Jungs ganz viel Sinn macht. Durch sie habe ich gelernt »in Mustern« (Verhaltensmustern und deren Ursachen) zu denken. Das war ein tolles Geschenk. Oder um es mit dem »Konzept des guten Grundes« meines Trauma-Ausbilders Lutz-Ulrich Besser zu sagen: diese Jungs waren sehr authentisch.

Drei Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und Beziehung zu anderen ausmachen?
Selbstlob fällt mir schwer, da bin ich doch sehr protestantisch sozialisiert! Aber Humor gehört zu mir (als geborener Rheinländer, der seit 1984 in Ostwestfalen lebt) und beständig neugierig, weil stets auf dem Weg, mich und andere besser zu verstehen. Und immer noch hungrig danach, in dieser verrückten Welt Sinn und Perspektive zu finden. Ich habe das große Glück, in meiner eigenen Familie viel Sicherheit und Stabilität zu bekommen, das kann ich dann auch gut weitergeben; ein riesiger Schatz.

Was ist für dich Erfolg in deiner Auseinandersetzung mit Jungen-, Männer- und Väterthemen? Hast du Beispiele?
Kürzlich war ich mit einem in seiner Seele sehr verletzten Jungen beim Bogenschießen. Er hat 15 von 20 Pfeilen auf eine Entfernung von ca. 18 Meter in ein sehr kleines Ziel gesetzt. Was er aufgrund seiner vielen unterschiedlichen Diagnosen und dass er es im Leben wirklich nicht leicht gehabt hat, eigentlich gar nicht hätte bewerkstelligen können. Aber er war erfolgreich, und wir haben uns beide sehr gefreut. Das sind die kleinen Augenblicke, die viel bewirken, auch wenn das nicht messbar ist. Die Kunst ist für mich als Pädagogen, viele dieser kleinen Situationen zu schaffen und daraus step-by-step etwas Größeres entstehen zu lassen. Ich denke, das gelingt nur durch Kontakt- und Beziehungsarbeit.
Ein anderes Beispiel ist ein Junge, den ich schon lange beruflich begleiten darf. Seine Eltern haben hohe Berufsabschlüsse und Geld spielte in der Familie nie eine Rolle. Der Sohn wurde aber nie so gesehen, wie er es sich gewünscht hat. Er entsprach nicht den Erwartungen der Eltern. Er hat nur Einsen in der Schule und zieht weiße Hemden zur Zeugnisübergabe an. Aber er ist einsam, kämpft in der Familie immer wieder um Akzeptanz, hat keine Freunde und wurde im System Schule zum Mobbingopfer. Als die Eltern dann angefangen haben, die Situation ihres Sohnes mehr und mehr zu verstehen, beide an der Schule für ihn kämpften und einen Wechsel ermöglichten, erging es ihm zusehends besser. Diesem Jungen fehlt noch viel an Unterstützung, aber das ist schon mal gelungen und war ein kleiner, aber deutlicher Erfolg.
Ein drittes Beispiel habe ich aus der Paarberatung. Ein beruflich erfolgreicher Mann konnte seiner neuen Partnerin erzählen, dass er nie emotional positive Körperberührungen durch seine Eltern erlebt hatte. Körperlichkeit und Nähe waren dagegen immer direkt mit Sexualität verbunden, diese wiederum sehr stark mit Leistungsdruck (»seinen Mann stehen müssen«). Was zu noch mehr Druck führte, so dass er nie darüber sprechen konnte. Mit der Beratung war dies aber endlich möglich, ein wichtiger Schritt zur Klärung seiner Probleme.
Das sind für mich drei Beispiele für sicher nur kleine Erfolge, die aber doch einen guten Weg weisen.

Was gibt dir persönlich Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen?
Das ist relativ einfach zu beantworten: Lachen, Spaß, erlebte Leichtigkeit. Im Kontakt mit Anderen Ideen, Projekte, Inhalte weiter gestalten zu können, dazu dann auch die Rückmeldungen der Klienten und Kooperationspartner. Zu sehen, dass meine Arbeit angenommen wird, ich immer wieder angesprochen werde und dass sich begonnene Prozesse weiterentwickeln können. Zusammengefasst: Positive Kontakte, aus denen sich neues Kreatives entwickelt; die gute Balance zwischen Selbstwahrnehmung und externer Rückmeldung; das Gefühl von Selbstwirksamkeit in einer verrückten Welt.

Was ist dir (mit) gelungen, worauf bist du (zusammen mit anderen) vielleicht auch stolz?
Ich bin Gründungsmitglied der LAG Jungenarbeit NRW. Ich bekomme Anfragen und Aufträge, konnte ein Image entwickeln und lebe quasi auch von meinem »Ruf«. Da wo ich mich für Jungenarbeit eingesetzt habe, ist etwas geblieben, es gibt kleine erkennbare Spuren. Und ja, ich habe mich mit meinen Themen weiterentwickelt und konnte auf diesem Weg anderen gerecht werden. Das freut mich.

Mit welchen Institutionen und Personen warst du gerne beruflich und privat verbunden oder bist es noch?
Mit sehr vielen ehemaligen Kollegen und Kolleginnen aus den verschiedenen Institutionen, in denen ich unterwegs war, aber auch mit freiberuflichen Kollegen und Kolleginnen. Glücklich bin ich darüber: aus den Gründungszeiten der Jungenarbeit sind viele positive Beziehungen und Kontakte erhalten geblieben, und aus diesen heraus gibt es auch jetzt noch schöne und gute Kooperationen, etwa mit der LAG Jungenarbeit NRW. Und es gibt Vernetzungen zum Thema Trauma mit den Kolleg*innen um den Jugendhof Vlotho. Auch hier hat sich die positive Kultur der Zusammenarbeit erhalten. Nicht zuletzt ist es auch die Familie mit den daraus entstandenen Verzweigungen, das spielt für mich eine ganz große Rolle.

Was hat die Männer ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast?
Es gab immer Gemeinsamkeiten, dabei auch sehr oft die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechterrolle, aber ebenso mit dem Moped fahren, zusammen durch den Teutoburger Wald laufen oder verlorene Pfeile wiedersuchen. Vielleicht ist »auf der Suche sein« ein Merkmal meiner Generation: verstehen wollen und daher viel Bereitschaft zum Nachdenken. Der Liedermacher Klaus Hoffmann sagt es mit der Liedzeile: »Diese Kinder erkennen sich am Gang«. Das meint für mich das Gefühl und das Wissen, da teilt jemand mit mir ein Thema, es gibt gemeinsame Schnittmengen, »etwas« verbindet uns. Ich habe wenig destruktive Konkurrenz erlebt, die Lust auf Abenteuer, auf Spaß, Lachen und Freude am Tun – klischeehaft so ein bisschen wie in den Zigaretten-Werbungen – standen im Vordergrund.

Hast du eine Lebensphilosophie, ein Lebensmotto?
Ja, mehrere, aus verschiedenen Quellen: »Nur im Kontakt mit dir kann ich mich finden« (aus der Gestaltarbeit), »Nicht ich mache Erfahrungen, Erfahrungen machen mich« (aus der Traumatherapie) und »Der Weg ist das Ziel«, was sich ziemlich abgegriffen anhört, aber dennoch für mich gilt.

Wo siehst du Brüche in deinen beruflichen oder freundschaftlichen Beziehungen? Wodurch wurden diese verursacht?
Brüche und dann Veränderungen gab es immer dann, wenn verschiedene »Dynamiken der Entwicklung« unterschiedliche Geschwindigkeiten entfalteten, etwa als ich Vater wurde. In meinem Umfeld war ich einer der ersten, das hat mein Leben verändert, sowohl hinsichtlich meiner ganz alltäglichen Aufgaben bis hin zur inneren Haltung.
Beruflich veränderte sich einiges mit der Übernahme der ersten Leitungsfunktion. Da gab auch so etwas wir Neid, Skepsis, Reserviertheit. Jetzt, mit 62 Jahren, kann ich aber auch sagen: die Brüche waren gut, sie haben zu meiner Weiterentwicklung beigetragen, haben mich gefordert, ich musste hier und da etwas verändern. Die oft zitierte Weisheit »Krise als Chance« ist vielleicht etwas übertrieben, bei mir war es aber so, dass durch die Brüche immer auch Bewegung entstand. Und parallel gab es dann auch Entwicklungen im Selbstbewusstsein, mit der Erfahrung: Ich komme auch nach Brüchen klar, ich muss vor Veränderungen nicht so viel Angst haben.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis vom Umgang mit Jungen-, Männer- und Väterthemen?
Der Diskussionsbedarf innerhalb der Jungen-Männer-Szene war oft größer und anstrengender als mit Menschen – Frauen, Männern, Vätern – außerhalb dieser Peergruppe. Vielleicht ist das auch einer der Gründe, dass ich mich eher am Rand dieser Szene sehe und nicht im Zentrum. Ich bin ganz dankbar, dass die Jungen- und Männerarbeit nicht der alleinige Schwerpunkt meiner beruflichen Orientierung geblieben ist. Auch wenn sie mich immer noch gut begleitet. Ich bin von daher in keinem aktiven Gremium mit dieser Schwerpunktsetzung. Das ist auch gut so.

Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deiner Arbeit an?
Die protestantische und sozialdemokratische Arbeitshaltung meiner männlichen Vorfahren und die Chance, damit ebenso selbstwirksam zu werden und mein Geld zu verdienen. Weiterhin die stete Suche nach Antworten; Spaß an dem, was ich tue und mich immer wieder gut selbst spüren zu können; das Wissen um die Erfahrungen, die den Alltag leichter machen; der Wunsch, in dieser verrückten Welt kleine positive Impulse zu setzen. Und auch Anerkennung und Lob von außen so wie die Abenteuerlust auf Neues.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeit dazu hättest? Und was möchtest du gerne gegen Ende deines Lebens erreicht haben?
Ein »Bielefelder Büro für Beratung und Supervision« (BBBS) wäre ein Traum. Ein loser Zusammenschluss von engagierten Kolleg:innen, die Angebote und Projekte speziell für die sozialen Arbeitsfelder Kita, Schule, stationäre Jugendhilfe, Jugendämter, Beratungsstellen entwickeln. Mit passenden Antworten und Perspektiven für engagierte Teams und Leitungen, um diese angesichts gegenwärtiger Überlastungen, die strukturell defizitär bedingt sind, zu unterstützen und damit zu entlasten. Parallel dazu wäre es schön, die Beratungsarbeit mit Jungen und Männern weiter zu verbessern. Wenn ich einmal abtrete, wären schön bebilderte Erinnerungen an mich bei denen, die noch bleiben, schon cool.
 
 

 
 
 
 
 
:: Dirk Achterwinter, Jg. 1961, Diplom-Pädagoge, mit weiteren Qualifikationen als Sexualpädagoge, Gestalttherapeut, Systemischer Supervisor (DGSv) und Traumatherapeut, die je auch immer meinem Wunsch eines Selbstfindungsprozesses folgten. Ich lebe mit meiner Partnerin in einer langen Beziehung seit 1979, habe einen Sohn, eine Tochter und zwei Enkelkinder. – www.achterwinter-beratung.de

Schöne neue Jungenwelt

Mit diesem Bilderbuch ist man bei der Jungenerziehung moralisch auf der richtigen Seite. Als Vater, Mutter, Erzieherin… Aber ist es das, was Jungen brauchen?

Text: Ralf Ruhl
Foto: LP, photocase.de

Scott Stuart will mit »Echte Jungs wie Du und ich« zeigen, dass es das allein richtige Männerbild nicht gibt. Dass historisch das Männerbild nur auf Kraft und Macht gebaut war. Demgegenüber setzt er Selbstbestimmung und Freiheit. Allerdings mit moralischer Verpflichtung des Gemeinsinns für andere. »Du kannst selbst entscheiden, was für ein Mann du sein willst«, ist seine Botschaft an die Jungen. Klingt gut, stimmt und funktioniert so aber leider nicht …

Zur Rezension

»Verlässlichkeit und der gemeinsame Einsatz gegen soziale Ungerechtigkeiten«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Dirk Bange, Hamburg

Baum im Nebel
Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: tequila sunrise, photocase.de | privat

 
Dirk, was war oder ist dein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen-, Männer- und Väterthemen? Was dein politischer und fachlicher Zugang?
Ich bin über die sexualisierte Gewalt an Kindern, insbesondere an Jungen, zur Jungen- und Männerarbeit gekommen. Ende der 1980er Jahre hat sich, ausgehend von Zartbitter Köln, mehrere Jahre lang eine Gruppe von Fachmännern zum so genannten »Männerwochenende« in Wuppertal getroffen. Wir haben dort von der Jungensozialisation über die Sexualität von Männern sehr vieles sehr offen und persönlich diskutiert. Unser Ziel war es, ausgehend von unseren eigenen biographischen Erfahrungen, den gesellschaftlichen Blick auf die Jungen zu verändern und auf ihre »schwachen Seiten« aufmerksam zu machen. Zu der Gruppe, die sich neben dem Wochenende in Wuppertal regelmäßig bei Zartbitter in Köln getroffen hat, gehörten auch Rainer Neutzling und Dieter Schnack. Die beiden veröffentlichten im Jahr 1990 das bis heute für mich wichtige Buch »Kleine Helden in Not: Jungen auf der Suche nach Männlichkeit«. Wir alle haben damals gehofft, dass sich eine Männerbewegung bildet, die gesellschaftliche Veränderungen erkämpfen würde. Leider ist es dazu nur in Ansätzen gekommen.

Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen, Männern und Vätern?
Der Einsatz gegen sexualisierte Gewalt an Kindern – insbesondere Jungen – ist mir bis heute ein großes Anliegen. Gemeinsam mit vielen Kollegen haben wir hier sicher einiges zum Besseren bewegt. Daneben war mir die Veränderung der Väterrolle stets wichtig. Das ergibt sich schon aus meinen Aufgaben als Abteilungsleiter für Familie und Kindertagesbetreuung in der Hamburger Sozialbehörde, aber natürlich auch als Vater zweier Töchter.

Wie hat sich dein Engagement für Jungen, Männer und Väter entwickelt, ggf. verändert?
Mir liegen die Themen weiterhin am Herzen und ich versuche, so viel Zeit wie möglich dafür aufzuwenden. Wenn ich dann sehe, dass sich etwas zum Positiven verändert, motiviert mich das, weiterzumachen.

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche/historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Die Aufdeckung der Missbrauchsskandale Anfang der 2010er-Jahre war sehr wichtig. Sie hat dazu geführt, dass insbesondere die sexualisierte Gewalt an Jungen mehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit und der Politik gerückt ist. Im Kontext der stärkeren partnerschaftlichen Aufteilung der Familien- und Erwerbsarbeit war die Einführung des Elterngeld Plus mit dem Partnerschaftsbonus am 01. Januar 2015 ein Meilenstein.

Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deinen privaten oder beruflichen Beziehungen?
Absolut wichtig war es für mich, dass ich immer wieder Mitstreiter/innen getroffen habe, die sich unermüdlich gegen die sexualisierte Gewalt und für eine veränderte Mädchen- und Jungensozialisation eingesetzt haben. Ich kann nicht alle aufzählen, möchte aber exemplarisch ein paar Namen nennen, da wir einen langen Weg gemeinsam gegangen sind: Ursula Enders, Jörg Fegert, Barbara Kavemann und Thomas Schlingmann waren für mich wichtige Wegbegleiter/innen.

Drei Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und Beziehungen zu anderen ausmachen?
Verlässlichkeit, Beharrungsvermögen, an Fakten orientiert argumentieren und nicht zuletzt bin ich auch für den einen oder anderen Spaß zu haben.

Was ist für dich »Erfolg« in deiner Auseinandersetzung mit Jungen-, Männer- oder Väterthemen? Hast du Beispiele?
Ein Erfolg war sicher, dass viele Väter ihre Rolle heute anders leben als in vergangenen Zeiten. Dabei möchte ich aber nicht verschweigen, dass hier – wie z.B. bei den Partnerschaftsmonaten – noch reichlich Luft nach oben ist. Für mich sehr, sehr wichtig ist, dass Jungen, denen sexualisierte Gewalt widerfahren ist, sich heute öffnen und dann auch Hilfe bekommen können.

Was gibt dir persönlich Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen?
Wenn ich den Eindruck habe, dass sich durch meine Arbeit die Situation für Kinder verbessert. Ich habe in Berlin sehr intensiv daran mitgewirkt, dass es ab 2026 für die 1. Klasse und dann Jahr für Jahr aufwachsend bis zur 4. Klasse einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule gibt. Dies könnte zu mehr Bildungsgerechtigkeit führen, und wenn dann auch noch die Themen Mädchen- und Jungensozialisation an den Schulen mehr Gewicht bekommen, wäre das doch fein.

Was ist dir (mit) gelungen, worauf bist du (zusammen mit anderen) vielleicht auch stolz?
Ich habe ja schon ein paar Beispiele genannt. Deshalb möchte ich ergänzend nur auf den Fachartikel »Sexuelle Erregung als Faktor der Verunsicherung sexuell missbrauchter Jungen« von Thomas Schlingmann und mir verweisen. Durch ihn ist es uns gelungen, ein für viele sexuell missbrauchte Jungen belastendes Thema bekannter zu machen. Ich bin von Betroffenen mehrfach darauf angesprochen worden, dass ihnen das sehr geholfen hat.

Mit welchen Institutionen und Personen warst du gerne beruflich oder privat verbunden oder bist es noch?
Ich bin bis heute mit Zartbitter Köln bzw. Ursula Enders eng verbunden. Wichtig war auch meine Zeit im Fachbeirat beim UBSKM und die gemeinsamen Treffen mit dem Betroffenenrat. Mit der neuen UBSKM Kerstin Claus arbeite ich sehr vertrauensvoll zusammen. Nicht zuletzt möchte ich aber auch meine Kollegen und Kolleginnen aus der Sozialbehörde nennen. Mit vielen von ihnen verbindet mich ein enges und von Vertrauen getragenes Verhältnis.

Was hat die Männer/* ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast?
Verlässlichkeit und der gemeinsame Einsatz gegen soziale Ungerechtigkeiten. Entscheidend dabei war und ist immer das gegenseitige Vertrauen. Und aus heutiger Sicht muss ich sagen, dass ich da fast niemals enttäuscht worden bin.

Hast du eine Lebensphilosophie, ggf. ein Lebensmotto?
Immer weitermachen, nicht aufgegeben und das Glas ist immer fast voll.

Wo siehst du Brüche in deinen beruflichen oder freundschaftlichen Beziehungen? Wodurch wurden diese verursacht?
Mein beruflicher Wechsel von Zartbitter Köln in die Hamburger Sozialbehörde war sicher ein Bruch. Ich kam aus der Praxis in die Verwaltung und das macht schon einen Unterschied aus. Ich habe aber immer den Kontakt zur Basis gehalten und versucht, ihre Perspektive in die Kinder- und Jugendpolitik einzubringen. Gleichzeitig habe ich stets wissenschaftlich gearbeitet und dadurch eine dritte Perspektive gehabt, die für meine Arbeit sehr bereichernd war und ist.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis vom Umgang mit Jungen-, Männer- und Väterthemen?
Die gesellschaftlichen Widerstände gegen ein anderes Jungen- und Männerbild sind immer noch enorm. Das deutet daraufhin, dass ihre Veränderung an den Kern unserer Gesellschaft rührt und die bestehenden Gesellschaftsstrukturen zumindest teilweise in Frage stellt.

Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deiner Arbeit an?
Es werden immer noch Kinder sexuell missbraucht und sie haben sehr häufig lange unter den Folgen zu leiden. Gleiches gilt für die Jungensozialisation, die weiterhin viel Unglück produziert. Hier etwas zu verändern, ist und bleibt eine starke Antriebsfeder für mich.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest? Und was möchtest du gegen Ende deines Lebens erreicht haben?
Da gibt es viele. Ich verzichte deshalb darauf ein einzelnes zu benennen.

Eine Anmerkung, die du gerne noch machen möchtest?
Die Zusammenarbeit mit Dir, Alexander, war immer klasse. Als ich die Antworten auf Deine Fragen entwickelt habe, habe ich mir ein altes Heft von »Switchboard – Zeitschrift für Jungen- und Männerarbeit« herausgesucht und angeschaut. Da wurde mir klar, dass Du einer von den Männern bist, mit dem ich einen langen gemeinsamen Weg beschritten habe. Ich möchte Dir an dieser Stelle dafür und für Deinen Einsatz für Jungen und Männer stellvertretend danken.
 
 

 
 
 
 
 
 
:: Dirk Bange, Jahrgang 1964, lebt mit seiner Frau am Rande von Hamburg und ist Vater zweier Töchter. Er ist promovierter Erziehungswissenschaftler und arbeitet bei der Hamburger Sozialbehörde als kommissarischer Leiter des Amtes für Familie. Seit mehr als 30 Jahren setzt er sich gegen sexualisierte Gewalt an Kindern und für ein verändertes Jungenbild ein. Er veröffentlichte sechs Bücher und schrieb mehr als 100 Fachaufsätze insbesondere zum Kinderschutz und zu anderen Themen der Kinder- und Jugendhilfe.

»Der Anspruch sollte sein, etwas zu tun, was einem Jungen in seiner Situation hilft.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Josef Riederle, Kiel

drei junge Männer vor dramatischem Himmel

Leitfragen: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: e.kat, photocase.de | privat

 
Nach einem Verwaltungsstudium habe ich mit 29 Jahren noch Sozialpädagogik studiert. Dann begann im April 1991 der Aufbau des »Männerzentrum Kiel e.V.«, in welchem ich über 4 Jahre lang leitend aktiv war. Und 1992 absolvierte ich die Jungenarbeiter-Weiterbildung (antisexistische Jungenarbeit) an der Heimvolkshochschule Alte Molkerei Frille, um dann 1995 KRAFTPROTZ Bildungsinstitut für Jungen und Männer zu gründen, das ich 2020 an meinen Nachfolger übergeben habe. Zusammen: ein 30 Jahre langer Weg, der davon geprägt war, dass es für die Belange von Jungen und Männern kaum Verständnis gab. Die notwendige Frauenemanzipationsbewegung hat eine Sichtweise auf Jungen und Männer als störende, zerstörende, sexistische Wesen, die von der patriarchalen Dividende profitieren, entwickelt. Eine defizitorientierte Wahrnehmung, die nur einen Teil der männlichen Wirklichkeit abbildete und nicht erkannte, dass Jungen zu Männern gemacht werden. So wurden z.B. die Angebote der Jugendzentren von Jungs wahrgenommen. Aber niemand fragte danach, ob diese Angebote die Entwicklung von Jungs hin zu verantwortlicher Männlichkeit fördern oder ein tradiertes Männlichkeitsstereotyp bedienen.

1990 habe ich eine Veranstaltung zu Angsträumen in Kiel besucht und dort gab es eine Arbeitsgruppe nur für Männer. Die Inhalte der AG weiß ich nicht mehr, aber ich erinnere mich gut, wie beschämend ich es fand, dass die veranstaltende Frauenorganisation für uns Männer ein Forum schaffen musste, damit wir überhaupt mal zusammenkamen. Das war der entscheidende Funke, um zusammen mit anderen Männern das »Männerzentrum Kiel e.V.« zu gründen. Der Leitsatz für Jungenarbeiter: »Du selbst bist Dein wichtigstes Werkzeug!« macht deutlich, dass jeder, der mit Jungs arbeiten will, auch seine eigene Biografie, seine Werte und sein Mann-Sein in einer patriarchalen Gesellschaft reflektieren sollte. Denn der »heimliche Lehrplan« prägt das eigene Wirken mit.

Ich habe die Haltung, die ein Mensch berücksichtigen sollte, der mit Menschen arbeitet, in vier Sätzen ausgedrückt, die als Botschaft beim Gegenüber ankommen sollten:
1. Ich sehe Dich: Ich bin da. Ich interessiere mich für Dich. Ich bin bereit, hinter Deine Fassade zu schauen und Dich bei Deinem Blick hinter Deine Fassade zu begleiten.
2. Du bist okay: Die persönliche Wertschätzung als Mensch, den persönlichen Respekt hat jeder verdient. Aber nicht alles, was jemand macht, ist okay. Das konkrete Verhalten darf und soll kritisch reflektiert werden, doch die Person wird respektvoll behandelt.
3. Du gehörst dazu: Du bist ein Junge und daher gehörst Du dazu. Du bist ein Mann und daher gehörst Du dazu. Du musst nichts dafür tun, musst nicht gigantisch sein, Dich nicht besser oder größer darstellen als Du bist. So wie Du bist, gehörst Du dazu und genügst.
4. Ich bleibe: Ich halte Dich aus. Ich breche nicht zusammen, wenn Du deine Wut und Deinen Frust zeigst. Ich bin der Scheuerpfahl, an dem Du Dich reiben kannst. Ich konfrontiere Dich mit mir und mit meinen Werten und Bedürfnissen.

Ich habe versucht, Jungs und Männern zu verdeutlichen, dass alles, was sie empfinden, zu einem gesunden Mannsein gehört. Ich mag es nicht, von femininen Anteilen zu sprechen. Es ist alles ein männlicher Anteil eines Mannes. Alle Anteile sind gleich wertvoll, alle sind wichtige Teile eines ganzen Mannes.
Ohnmacht und Hilflosigkeit sind Empfindungen, die wohl keiner gerne spürt. Doch als Jungenarbeiter und als pädagogisch Wirkender gehören sie zum Alltag. Damit meine ich nicht, dass man nichts tun könnte. Doch der Anspruch sollte sein, etwas zu tun, was förderlich ist, was einem Jungen in seiner Situation hilft. Und da war ich oft hilflos, weil ich nicht wusste, was jetzt wirklich hilft und nicht nur einer schwierigen Situation ein vorläufiges Ende bereitet.

Ich habe in all den Jahren viele positive Rückmeldungen bekommen und weiß, dass der Arbeitsansatz der KampfESspiele® viele Frauen und Männer in ihrem beruflichen und privaten Sein gestärkt und geprägt und auch den Blick auf Jungen verändert hat.
Ich fand es immer wichtig, dass Jungen unter Jungen sein dürfen. Geschlechtshomogene Arbeit eröffnet einen Schon- und Gedeihraum zum Wachsen. Und in der Jungenarbeit ist das kein reduziertes Männlichkeitsstereotyp, das angeboten wird, sondern ein vielschichtiges, gefühlvolles, individuelles, kraftvolles, herzliches, lebensbejahendes Bild vom Junge- und Mannsein. Leider wird dies durch »moderne« Sichtweisen und Theorien in Frage gestellt und endlose Diskussionen haben mich ermüdet.

Spannend fand ich in all den Jahren die Zusammenarbeit mit der Mädchenarbeit, und die Berührungsängste der Anfangszeiten haben sich längst in eine achtsame, wertschätzende, auch sich ergänzende Akzeptanz entwickelt. Ich war nie der Netzwerker, der sich in lokalen und nationalen Arbeitskreisen wohl gefühlt hat. Ich glaube, ich habe manch einen Kollegen und manch eine Kollegin enttäuscht, wenn ich nach kurzer Zeit mehr oder weniger lautlos nicht mehr erschienen bin.

Der Kooperationspartner, der mich die letzten 20 Jahre am meisten begleitet und inspiriert hat, ist der Schweizer Verein Respect!. Vor allem Urban Brühwiler ist mir ein so geschätzter und freundschaftlicher Kollege geworden, und ich bin dankbar für jeden Tag, den ich mit ihm zusammenarbeiten durfte.

Ich arbeite seit 16 Jahren ehrenamtlich bei Männerpfade mit. Männerpfade unterstützt Männer dabei, ihr wahres Selbst zu entdecken und dem Diktat des Egos zu entkommen. Dort arbeite ich auch seit zwei Jahren in einer Ältesten-Werkstatt mit. Zunächst einmal sprechen wir von Herzen und hören einander mit offenem Herzen zu. Die Wege und Herangehensweisen an das Altern sind so unterschiedlich. Ziel dieser Werkstatt ist es auch, herauszufinden, was das Älteste-Sein in unserer Gesellschaft ist und wie es wirken kann.
Ein intensives und glückliches Leben im Angesicht des körperlichen und psychischen Abbaus, im Angesicht des sicheren Todes und der eventuell vielen Jahre, die Mann nach dem Ende der Erwerbsphase noch zu leben hat.

Ich habe mal einen Satz aufgeschrieben, der mich weiter begleitet: »Wer mehr sein will, muss lassen können.« Darum geht es mir jetzt auch mehr. Loslassen und Dasein. Und durch das Dasein auch ansprechbar sein.
Ich will mir noch viele Fragen anhören und keine Antworten darauf geben, sondern lediglich kleine Bemerkungen, die dazu führen können, dass sich die Frage weiterentwickelt.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
:: Josef Riederle, Jahrgang 1959, Kiel.

Gefühle lernen

Empathie lernen und die eigenen Gefühle wahrnehmen – wie das geht, wird in diesem Kinderbuch für die Jüngsten deutlich.

glücklicher Junge mit geschlossenen Augen

Text: Ralf Ruhl
Foto: LP, photocase.de

Was geht in dem Jungen vor, dem die Haare zu Berge stehen, dessen Gesicht rot angelaufen ist, der den Mund weit aufgerissen hat und der wild gestikuliert? Wie geht es dem Mädchen, das die Hände vor dem Bauch kreuzt, dessen Augen groß sind und leicht grau, das zusammengesunken da steht und offensichtlich nicht mit den anderen im Hintergrund spielen darf? Mit »In mir … und in den anderen« schreiben und zeichnen Karen Glistrup und Pia Olsen ein Buch über Kinder und ihre Gefühle. Höchst empfehlenswert vor allem für Eltern und pädagogisches Personal.

Zur Rezension