»Mich ermutigt immer wieder, wieviel Wertschätzung wir von Menschen bekommen, weil sie sich endlich gesehen und anerkannt fühlen.«

Der MännerWegeFragebogen – beantwortet von Rainer Ulfers, Hamburg

Geschminkter Mann mit intensivem Blick

Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: norndara, photocase.de | privat

 
Vorweg: Jungen* und Männer* sind sehr verschieden und längst nicht alle Menschen definieren sich als männlich oder weiblich. Ich verwende das Sternchen* hinter Jungen* und Männer*, um diese Vielfalt abzubilden. Ich lasse das * weg, wenn ich mich explizit auf das tradierte Jungen- und Männerbild beziehe.

Was war oder ist dein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen- und Männerthemen? Was dein politisch-thematischer Zugang?
Mein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen*- und Männer*themen lässt sich von meinem politisch-thematischen Zugang (wie sicherlich bei vielen) nicht trennen. Schon zu Beginn der Schulzeit hatte ich das Gefühl, den Anforderungen der Außenwelt, wie ein Junge zu sein hat, nicht gerecht werden zu können oder zu wollen. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Schwulsein hat mir dann neue Möglichkeiten aufgezeigt, Mann*sein anders zu definieren. Gleichzeitig war die Konfrontation mit heteronormativer Männlichkeit oft schmerzhaft oder zumindest herausfordernd.
Während des Studiums der Sozialen Arbeit und meines wachsenden sozial- und gesellschaftspolitischen Bewusstseins und Engagements konnte ich meine vorher vorwiegend subjektiven Erfahrungen erweitern und einordnen. Hierbei danke ich insbesondere auch einigen mitstudierenden Freundinnen. Durch ihre feministischen Positionierungen wurde mir letztendlich klar, dass wir Männ*lichkeiten nicht unabhängig von der Situation von Frauen* in der Gesellschaft diskutieren können. In dieser Zeit, in den 1980er Jahren, gründeten wir auch eine erste Männer*gruppe.

Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen und Männern?
Ich bin 1993 mit meinem Mann nach Hamburg gezogen und hatte das Glück, eine Stelle in der gerade gegründeten Anlaufstelle für Straßenkinder (KIDS) des Trägers basis & woge e.V. zu bekommen. Die Anlaufstelle startete mit einem Konzept niedrigschwelliger und lebensweltorientierter Sozialarbeit und hier begegnete ich Jungen* (zwischen 12 und 16 Jahren) aus der Bahnhofsszene, die dort Kontakte zu Pädosexuellen hatten, bei ihnen übernachteten oder teilweise mit ihnen lebten.
Ab diesem Zeitpunkt habe ich mich stark mit dem Thema Jungen* und sexualisierte Gewalt beschäftigt, und dieses Thema nicht wieder losgelassen. Es hat letztendlich dazu geführt, dass ich im Jahr 2010 die Beratungsstelle basis-praevent (Beratung für Jungen* und Männer* bei sexualisierter Gewalt) mit meinem Kollegen Clemens Fobian aufgebaut habe. Zwischen der Zeit im KIDS und der Gründung von basis-praevent habe ich noch viele Jahre in einer Anlaufstelle für männ*liche Sexworker (beim gleichen Träger) gearbeitet. Auch diese vielfältige und gleichzeitig vulnerable Zielgruppe hat mich sehr geprägt und mich mit den verschiedensten Modellen von Männ*lichkeiten konfrontiert. Insbesondere hat mich beeindruckt, dass dieses Klientel trotz diverser Problematiken wie Drogengebrauch, gesundheitlichen Gefährdungen durch HIV-Infektion, Wohnungslosigkeit, Mehrfachdiskriminierungen aufgrund von Prostitution und/oder ihrer Herkunft (viele waren bulgarische/rumänische Roma) gleichzeitig viele Ressourcen und Bewältigungsstrategien hatten, die insbesondere durch die akzeptierende und wertschätzende Haltung von den Mitarbeitenden zum Tragen kamen.

Wie hat sich dein Engagement für Jungen und Männer entwickelt, ggf. verändert?
In allen drei Arbeitsbereichen/Einrichtungen habe ich immer sehr von Netzwerkarbeit profitiert; die Auseinandersetzung mit Kolleg*innen in ähnlichen Arbeitsfeldern, das Entwickeln gemeinsamer Positionen und die Sichtbarmachung von gesellschaftlichen Missständen waren dabei handlungsleitend.
Ein Meilenstein in meiner Auseinandersetzung über Männ*lichkeiten war meine Weiterbildung in antisexistischer Jungenarbeit in der Heimvolkshochschule Frille bei Franz Gerd Ottemeier-Glücks.
Ebenso war die Notwendigkeit wichtig, sich sowohl direkt als auch theoretisch mit den speziellen Fragestellungen von Jungen*/Männern* zu befassen, die von sexualisierter Gewalt betroffen waren, und hierbei vor allem den besonderen Herausforderungen für männ*liche Betroffene aufgrund prägender Geschlechterbilder.

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche/historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Die Welle der aufgedeckten Fälle sexualisierter Gewalt in Institutionen (Katholische Kirche, Odenwaldschule etc.) ab 2010 war prägend, insbesondere auch, weil hier hauptsächlich männ*liche Betroffene waren, die vorher nicht oder kaum sichtbar waren. Alle Männer*, die 2010 an die Öffentlichkeit gingen, haben vielen anderen Mut gemacht, sich Unterstützung zu holen.

Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deinen privaten und/oder beruflichen Beziehungen?
Hier gibt es nicht nur eine wichtige Erfahrung, aber eine war sicher mein Coming-Out. Die Weiterentwicklung in der Partnerschaft und die gemeinsame Auseinandersetzung und Positionierung gegenüber Familie, Umwelt und im Beruf haben mein weiteres Handeln stark beeinflusst.
Dann bestärkt mich immer wieder in der Arbeit das mir entgegengebrachte Vertrauen und der Mut der von sexualisierter Gewalt betroffenen Jungen* und Männern*. Besonders im jährlichen bundesweiten Netzwerktreffen der Fachberatungsstellen zu sexualisierter Gewalt, die mit Jungen* und Männern* arbeiten, wird mir dabei auch immer wieder deutlich, wie wichtig die Reflexion der eigenen biografischen Erfahrungen für unsere Arbeit ist.
2022 habe ich eine angeleitete Selbsthilfegruppe für betroffene Männer* gestartet. Hier hat mich der Mut und die Offenheit der Teilnehmenden bei all ihrer Unterschiedlichkeit begeistert. Dabei wurde noch einmal deutlich, wieviel Kraft es Männern*gibt, zu merken, dass sie nicht die einzigen sind.

Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und Beziehungen zu anderen ausmachen?
Empathie, Neugier, Solidarität, Verlässlichkeit und Eigeninitiative in Zusammenarbeit mit anderen.

Was ist für dich »Erfolg« in deiner Auseinandersetzung mit Jungen- und Männerthemen? Hast du Beispiele?
Vielen Jungen*/Männern* fällt es aufgrund zugeschriebener Rollenbilder und -erwartungen schwer, sich Hilfe und Unterstützung zu holen. Für mich ist es ein Erfolg, wenn sie bei uns die Erfahrung machen, dass es kein Eingeständnis von Schwäche, sondern eine Stärke ist, sich an eine Beratungsstelle zu wenden. Ein weiterer »Erfolg« ist es, wenn es uns in der Begleitung von Betroffenen gelingt, dass diese sich auch nach vielen schmerzhaften Jahren der eigenen Vergangenheit stellen und feststellen, dass sie ihre oftmals belastende Lebenssituation verändern können.
Ein grundsätzlicher Erfolg ist es, zu sehen, dass die Ratsuchenden durch den parteilichen Ansatz in der Arbeit bestärkt (empowert) werden und dadurch mehr die Möglichkeiten und Chancen sehen, eigenes exploratives Verhalten zu nutzen.

Was gibt dir persönlich Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen?
Ein großes Glück ist es, viele meiner persönlichen Themen bei diesem Träger miteinfließen zu lassen. Das betrifft u.a. alle Fragen rund um Gender, sexuelle Orientierungen und geschlechtliche Identität, Antidiskriminierung etc., und dass diese Themen nicht nur im Kontext von Beratung, sondern auch von Netzwerkarbeit und gesellschaftlicher Auseinandersetzung bearbeitet werden können (das Persönliche ist politisch).

Was ist dir (mit) gelungen, worauf bist du (zusammen mit anderen) vielleicht auch stolz?
Der Aufbau der Fachberatungsstelle basis-praevent und das Durchhaltevermögen von meinem Kollegen und mir bei unsicherer Finanzierung und bei gleichzeitig immer größerer Nachfrage hat uns bestärkt, weiterzumachen und die Beratungsstelle und uns selbst ständig weiterzuentwickeln (auch wenn die Beratung erwachsener betroffener Männer* auch nach 13 Jahren, Stand 2023, immer noch nicht finanziell gesichert ist).

Mit welchen Institutionen und Personen warst du gerne beruflich oder privat verbunden oder bist es noch?
Zuallererst möchte ich meinen Mann nennen, der mich immer bestärkt hat, die beruflichen Herausforderungen anzunehmen, und der sich immer für eine kritische Reflexion meines eigenen Tuns und Handelns zur Verfügung gestellt hat.
Im beruflichen Kontext waren und sind dies insbesondere die Menschen, die sich kritisch mit Männ*lichkeiten und Geschlechterfragen auseinandersetzen wollten/wollen, die über den Tellerrand gucken und – über die alltägliche Arbeit hinaus – Themen wie z.B. »Menschen mit Flucht oder Rassismuserfahrungen« oder »Intersektionalität« mitdenken.
Eine besondere Qualität hatte und hat die Zusammenarbeit mit meinem Kollegen Clemens Fobian, mit dem ich 2010 gestartet bin, das Konzept einer Beratungsstelle für männ*liche Betroffene sexualisierter Gewalt umzusetzen und weiterzuentwickeln. Über 13 Jahre in dieser Zweierkonstellation vertrauensvoll zusammenzuarbeiten, Standards weiterzuentwickeln und dabei immer wieder Ideen für Veränderung Raum zu geben, hat für mich einen besonderen Wert.

Was hat die Männer/* ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast?
Lust auf eigene und gesellschaftliche Veränderungen.

Wo siehst du Brüche in deinen beruflichen oder freundschaftlichen Beziehungen? Wodurch wurden diese verursacht?
Ich bin mir unsicher, ob ich das Wort »Bruch« benutzen würde, aber ein wichtiger und nachhaltiger Einschnitt war mein eigenes Coming Out, was sich sowohl auf privater als auch beruflicher Ebene ausgewirkt hat, und dabei das Glück zu haben, dieses in einer fast 40-jährigen Partnerschaft mit meinem Mann auf vielen Ebenen gemeinsam zu bewältigen; dazu gehört auch der Weg vom Dorf in die Großstadt, die Auseinandersetzung in der Schwulenszene in den 1980er Jahren mit AIDS und damit auch mit dem Tod von Freunden.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis vom Umgang mit Jungen- und Männerthemen?
Im Widerstand von Teilen der Gesellschaft, aber auch einzelner Individuen, stereotype Rollenbilder und -klischees in Frage zu stellen, andere sexuelle Orientierungen und Geschlechtsidentitäten anzuerkennen, so also etwa in der Queerfeindlichkeit oder in aggressiven Genderdebatten. Diese Widerstände machen es jeder neuen Generation von Kindern schwer, sich ausprobieren zu können und ihre jeweils eigene Identität so zu entwickeln, dass sie nicht Abwertung und Ausgrenzung erleben, dass sie nicht unter dem Korsett gesellschaftlicher Erwartungen leiden, sondern sich zu selbständigen und selbstbewussten Menschen entwickeln können. In Bezug auf sexualisierte Gewalt sehe ich hier auch eine präventive Chance, weil ein solches gesellschaftlich verändertes Bewusstsein (in meiner Vorstellung) dazu führen würde, dass diese veränderte Gesellschaft weniger Täter*innen als auch Betroffene »produzieren« würde (mehr Verhältnisprävention statt Verhaltensprävention).

Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deiner Arbeit an?
Mit anderen zu erkennen, welch positiver Gewinn es ist, sich mit Männ*lichkeiten auseinanderzusetzen und somit einerseits sich der Unterdrückung von Mädchen*/Frauen* und LGBTI+ Personen zu widersetzen und andererseits als Mann* zu erkennen, welcher Gewinn es ist, aus diesem engen Rollenkorsett der Männ*lichkeiten rauszuschlüpfen und für sich eigene Wege zu entdecken.
Auch viele Männer* sind Verlierer patriarchaler Strukturen, so ist z.B. die Suizid-Rate bei Männern* sehr hoch oder auch haben viele Jungen* und Männer* aufgrund von eigenen oder zugeschriebenen Rollenbildern Probleme, Hilfen in Anspruch zu nehmen.
Mich ermutigt immer wieder, wieviel Wertschätzung wir von Menschen bekommen, weil sie sich endlich gesehen und anerkannt fühlen, und wie viele Impulse wir gerade unter dem Ansatz der parteilichen Arbeit setzen können.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest? Und was möchtest du gegen Ende deines Lebens erreicht haben?
Diese Frage beantworte ich mir vielleicht, wenn ich im September 2024 mein Renteneintrittsalter erreicht habe.

Eine nicht gestellte Frage, die du aber dennoch gerne beantworten möchtest?
Zu Beginn meines Studiums 1979 hatte ich das Gefühl, dass die Gesellschaft im Auf- und Umbruch ist (gerade nach dem Mief und der Verdrängung der Nachkriegszeit). Es gab die großen Emanzipationsbewegungen und ich dachte, es gibt kein Zurück mehr. Jetzt erleben wir auf vielen Ebenen ein Rollback: immer mehr rechtes Gedankengut auch in der Mitte der Gesellschaft, Verschwörungsdenken, Spaltung der Gesellschaft, Queerfeindlichkeit, dass schon ein Gendersternchen Menschen aggressiv machen kann, und plötzlich gibt es in Buchhandlungen wieder verstärkt Aufteilungen nach rosa Mädchenbüchern und blauen Jungenbüchern … Die nicht gestellte Frage wäre also: Warum ist das so? Sehen die Menschen nicht die Vorteile einer offeneren Gesellschaft? Die Antwort überlasse ich aber anderen!

 

 
 
 
 
 
:: Rainer Ulfers, Jg. 1958, Dipl.-Sozialpädagoge und Trauma-Fachberater, wohnt in Hamburg und ist seit 1993 tätig bei basis & woge e.V.

Beratungsarbeit mit männlichen Tätern und Opfern häuslicher Gewalt

Die AWO in Nordhessen bietet eine unbefristete Stelle für präventive und intervenierende Täter*innenarbeit sowie allgemeine Männer- und Väterberatung

Nein steht auf einer Hand

Text: Alexander Bentheim (Redaktion)
Foto: pontchen, photocase.de

 
Der AWO Kreisverband Werra-Meißner e.V. in Nordhessen sucht ab Januar 2024 eine*n pädagogischen Mitarbeiter*in für die langjährig etablierte Männer- und Täterberatung. Die Stelle beinhaltet präventive und intervenierende Täter*innenarbeit im Sinne der Istanbul-Konvention (Art. 16) sowie allgemeine Männer- und Väterberatung. Umfassende Informationen zur Stelle und zum Arbeitsbereich finden sich in der Stellenbeschreibung und auf der Homepage. Inhaltliche Fragen beantwortet gerne auch der jetzige Stelleninhaber Ralf Ruhl: ralf.ruhl@awo-werra-meissner.de. Die Bewerbungsfrist endet am 15.11.2023.

Oh no »Oh Boy«

Der Berliner Kanon Verlag zieht seine vielgelobte Anthologie »Oh Boy« zurück – auch hier, an diesem Ort, sehr positiv besprochen. Das will erklärt und zuvor beschrieben werden.

Mann mit Stift auf der Nase

Text: Frank Keil
Foto: obeyleesin, photocase.de (Symbolbild)

 
Potzblitz – wie konnte das passieren?! Da erscheint ein Buch zum Thema heutiger Männlichkeit*en und es wird in den Feuilletons dieser Republik sehr anerkennend besprochen und durchweg sehr gelobt; auch hier auf dieser Plattform. Und nun wird es nicht mehr ausgeliefert, der Verlag zieht es zurück. Alle begleitenden Lesungen sind zudem abgesagt. Die Aufregung nicht nur in den Sozialen Medien ist groß.

Es geht dabei ausdrücklich um einen einzelnen Text, nämlich um »Ein glücklicher Mensch« von Valentin Moritz, einem der beiden Herausgeber. Darin umschreibt er einen sexuellen Übergriff gegenüber einer Frau, den er begangen hat. Ziel des Textes sei es, so erfährt man es in dessen zweiten Teil, sich zu bekennen und das Bekennen zu beschreiben, um so zu reflektieren, um so zu lernen, damit es nicht wieder geschieht. Ihm, dem Autoren nicht und anderen Männern auch nicht. Das ist die quasi literaturpädagogische Aufgabe, die sich Moritz gestellt hat.

Nur gibt es da noch etwas Anderes. Die Frau nämlich, die diesen Übergriff erleben und erleiden musste. Und sie – eine reale Frau, natürlich – hat den Autoren zuvor klar aufgefordert, über das Geschehene nicht zu schreiben. Er solle – sozusagen – das Geschehene nicht noch einmal schreiberisch wiederholen; er solle es nicht verdoppeln, er, der schreibende Täter, sich nicht erneut inszenieren, auf dass sie als das beschriebene Opfer zurückbleibt.

Der Autor hat der Bitte dieser Frau, die anonym bleiben möchte und von der paradoxerweise im Fortlauf der Berichterstattung immer mehr bekannt wird, nicht entsprochen. Er hat den Text geschrieben. Und jetzt bewegen wir uns außerhalb des Textes: er hat die Zusammenhänge gegenüber seinem Verlag offengelegt, vor der Drucklegung, wie man so sagt. Er hat sie nicht verschwiegen. Nach Auskunft des Verlages lag zunächst folgende Option auf dem Tisch: Moritz zieht sich von dem Buchprojekt insgesamt zurück. Der Verlag entschied anders. Und der Autor folgte.
Nun gibt sich der Verlag reumütig, ein großer Fehler sei es gewesen, den Text zu veröffentlichen; sollte das Buch neu aufgelegt werden, wird es daher ohne den beanstandeten Text erscheinen. Ich wage mich mal kurz aus dem Fenster: nach dem Wirbel, der nicht nur in den Sozialen Medien zu verfolgen ist, ist eine Neuauflage in gedruckter Form eher unwahrscheinlich.

»Oh Boy« ist eine literarische Anthologie. Die an ihr beteiligten Autoren treten an, um sich dem Erkundungsfeld Männlichkeit*en mit literarischen Mitteln und Formen und zuweilen einer ganz eigenen Sprache zu nähern und es dann zu betreten, und sie folgen damit gerade nicht journalistischen und/oder wissenschaftlichen Standards (wo da genau die Trennlinie zur Literatur verläuft, darüber ließe sich gewiss umfassend streiten). Was berichtet wird, was Erzählstoff ist, hat sich also einerseits nicht so wie beschrieben ereignet – und andererseits eben doch oder anders oder nicht genauso oder nur so ähnlich und auch wieder nicht – und so weiter. Dabei kann man noch so viel verfremden und überschreiben: auch das Erfundene gibt es nur, weil sich zuvor etwas ereignet hat, das anschließend Erzähl-Material wird. Woher sollte dieses sonst kommen?

Ich habe den Text von Valentin Moritz gelesen, bevor ich das Buch besprach, selbstverständlich. Und ich habe diesen Text in meiner Besprechung salopp hintenüberfallen lassen, ich habe ihn einfach nicht weiter erwähnt. Nicht, weil ich schon etwas von dem Kommenden ahnte und so vorbeugen wollte, das wäre ja cool. Sondern: Ich mag diese Art von Selbstbezichtigungstexten grundsätzlich nicht. Sie berühren mich bald unangenehm. Es liegt immer ein Hauch von Eitelkeit in der Luft und zuweilen mehr als das: Ich bekenne mich schuldig und in dem ich mich schuldig bekenne und in dem ich mich selbst in aller Öffentlichkeit an den Pranger stelle, ist die Schuld schon halb abgetragen, wenn nicht weit mehr als das. Mit seiner Schuld – ich bin jetzt mal kurz böse – hausieren zu gehen und sie für sich öffentlich anzunehmen, um daraus ein Thema zu entwickeln, für ein Buch, für einen Film, für was auch immer, ist selbstverständlich ein legitimes Vorgehen. Es ist nur einfach nicht mein Fall. Andere entscheiden da anders. Als Leser*innen und eben als Autor*innen.

Wobei – das meine ich auch jetzt, wo das Buch nochmals aufgeschlagen neben mir liegt und ich in diesen Text noch einmal lesend geschaut habe – mir schien und scheint, als ob dem Autor von Anfang an selbst nicht ganz wohl war bei seinem Besserung-durch-Geständnis-Projekt. Zu unklar, zu verwirrend, vor allem zu abstrakt umschreibt der Text das Geschehene, ohne es in seinem Kern zu berühren, und das macht es einem alles andere als leicht, zu verstehen, um was es ihm eigentlich geht: Es ist schlichtweg unabhängig davon, ob es okay ist, einen solchen Text zu schreiben, er bleibt ein schwacher und zielloser und oftmals auch pathetischer Text, der mich erneut ratlos zurücklässt.

Und nun? Ich will mich um eine Antwort nicht drücken: ja, man darf als Täter (was immer jetzt Täter im Einzelfall ist; es ist auf jeden Fall ein Wort, vor dem wir sofort in die Knie gehen) in literarisierter Form über seine Tat schreiben. Die Frage ist: wie, also in welcher Form? Und die Frage ist: warum, was ist der Zweck? Und drumherum gibt es die Gesetze, denen man sich gegebenenfalls stellen muss, die dann entscheiden und die über jeglichen moralischen Forderungen stehen und werden diese noch so vielfältig über die Sozialen Medien gestellt (die Literaturgeschichte ist voll von Prozessen und Urteilen, ob ein Text oder Buch veröffentlicht werden darf). Und ebenso gilt: Nicht alles, was man darf, sollte man auch tun. Und oft ist man gut beraten, von sich aus zu verzichten.

Und zum anderen Grundsätzlichen. Wie umgehen mit Stoffen, in denen es nun mal angelegt ist, dass mitmenschliche und zwar heftigste Kollisionen ins Zentrum rücken und sich mehr oder weniger deutliche Erkennbare zu Wort melden und für ihr Recht auf Nichterwähnung plädieren: Romane über die Kindheit, Erzählungen über eine gescheiterte Ehe oder Liebe oder Affäre, um kurz das Naheliegendste zu nehmen? Die Literatur ist auch davon voll; sie existiert von ihr. Und so verlangen die Fragen nach den Bedürfnissen und Interessen von Beschriebenen nach literarischen Antworten, die immer wieder neu gestaltet und riskiert werden müssen.

Ein Beispiel, um das Feld kurz zu erkunden: In letzter Zeit ist dankenswerterweise ein Schwung von Romanen und Erzählungen jüngerer Autor*innen mit migrantischen Wurzeln und entsprechenden Lebensgeschichten erschienen. Die dort beschriebenen Väter und Mütter kommen nicht immer gut weg. Manchmal kommen sie gar nicht gut weg. Werden zuweilen sehr drastisch und konsequent und deutlich in ihrer Unfähigkeit beschrieben, ihren damaligen Kindern eine Orientierung zwischen den verschiedenen Lebenswelten zu bieten, in denen sie sich zurechtfinden mussten. Literarisch wird das erzählt, wird angeklagt, wird auch gewütet und geschimpft, literarisch wohlgemerkt. Aber eben auf Grundlage persönlicher Erlebnisse und Erfahrungen und auch Verletzungen, aus denen Textdateien wurden.
Ältere werden sich an die so genannte Väter-Literatur der 1980er-Jahre erinnern, was wurden da die Väter der Kriegsgeneration von ihren 1968er-Kindern literarisch verdroschen! In den letzten Jahren erst weitete man den Blick, und zwar auf die Traumatisierungen hin, die diese Väter selbst erlebt hatten, auf ihre womögliche Unmöglichkeit, die erlebte Gewalt in Erziehung und Krieg und Alltag einigermaßen zu verarbeiten, statt sie mehr oder weniger linear an ihre Kinder und besonders an ihre Söhne als eine Art Double weiterzugeben, die sich nun damit abmühen mussten und dabei zur Schreibmaschine fanden. Viel Zeit, auch Nachdenkenszeit musste vergehen, damit dieser zweite Blick, der Blick auf das Dahinter möglich wurde. Heute ist man auch literarisch schlauer – und empfindsamer und gnädiger und also weit weniger rigoros.

Ich schaue nochmal in den Text von Valentin Moritz, lese, blättere weiter, lese; zwei-, dreimal habe ich den Satz »Das ist doch eher ein Sturm im Wasserglas« hingetippt und besser wieder gelöscht. Kein Frauenname fällt, kein Ort wird beschrieben, in dem jener Übergriff geschah. Wir Lesende werden in keine Wohnung geführt, kein Bett steht in irgendeinem Raum mit Schreibtisch, Pflanzen und Bücherregal, noch sonst etwas. Was wir über den Übergriff erfahren, der doch der Grund für diesen Text ist, ist rein Gedankliches und dieses Gedankliche ist fast ausschließlich selbstreflexiv und tendenziell selbstgefällig: »Ich rede noch immer um den heißen Brei herum. Dabei glüht der ganze Text längst vor Schamesröte«.
Oh, nein, der Text glüht nicht vor Schamesröte. Der Autor mag beim Schreiben geglüht haben, das glaube ich gerne und sofort. Doch es hat ihn offensichtlich nicht herausgeführt aus einem inneren und kalten Durcheinander von Anspruch und Wirklichkeit, das eingefasst ist von einer Rahmenhandlung, wo junge Männer irgendwo am Strand von Usedom Frisbee spielen. Wenn man dem Text eine inhaltliche Unangemessenheit vorwerfen muss, dann wohl eher die, dass der Autor einen körperlichen Übergriff gegen eine Frau in ein selbstbezogenes Gedankenspiel während eines heiteren Sommermoments überführt, wo junge, unbedarft wirkende Männer einer Plastikascheibe hinterherrennen wie junge Hunde. Führt dieser Weg irgendwohin?

Vielleicht hätte Moritz es bei seinem Projekt der Enttarnung unangenehmer bis schä(n)dlicher Männlichkeit einfach eine Nummer kleiner angehen lassen sollen. Bescheidener, zurückhaltender und in der Themen-Beispiel-Wahl demütiger. Warum musste es – ich bin mal kurz zynisch – ausgerechnet eine der Königsdiziplinen der toxischen Männlichkeit sein: der sexualisierte Übergriff? Wie viel erhellender wäre es gewesen, für uns, für ihn, wenn er sich die Frage gestellt hätte: »Warum muss ich mich unbedingt so in mein Thema verbeißen?« Wenn er sich als Mann gefragt hätte: »Warum kann ich nicht sagen: Okay, dann geht das eben nicht; dann kann ich die Geschichte nicht so, wie von mir gewünscht, schreiben.« Die Welt ist voll von Männern, die nicht aufhören können: ob sie nun bis spät in die Nacht das Bad neu fliesen, ob sie noch am Geschäftsbericht sitzen, obwohl die Sonne aufgeht und ob sie die Strecke Berlin-Adria in einem Rutsch zu fahren sich vorgenommen haben und das dann auch tun.

Tja. Noch mal: Was fangen wir nun an mit dem Schlamassel? Da fällt mir – Kunstgriff – noch ein Buch ein, dass ich vor einigen Jahren hier auf den MännerWegen besprochen und empfohlen habe, 2017 war das, so lange ist das her? Egal. »Ich will dir in die Augen sehen« von Thordis Elva und Tom Stranger führt dem oben Beschriebenen gegenüber nun wirklich in das Zentrum eines Sturms, mit anfangs ungewissen Ausgang: Eine Frau trifft nach Jahren den Mann wieder, der sie einst vergewaltigt hat, und es folgt das Protokoll einer Wiederbegegnung, damit man am Ende für immer auseinander gehen kann. Ich schaue schnell mal nach: Oh, es ist noch erhältlich

PS: Und Valentin Moritz? In was hat er sich da nur reingeritten und warum hat ihn sein Verlag – offenbar – so wenig bis falsch beraten? Ich jedenfalls wünsche ihm an dieser Stelle hier von Herzen, dass er das alles gut übersteht: die berechtigte Kritik, wohl auch die Scham, die nicht ausbleiben dürfte; die Anwürfe, die Beschimpfungen auch, die es bestimmt gibt, und er heil dabei bleibt. Das fällt uns Männern nämlich gar nicht so leicht: einzugestehen, dass so etwas passieren kann und dann daraus zu lernen, im nun endlich eigenen Tempo.

»Du machst mir Angst!«

Neues Video der Männerberatung der AWO Werra-Meißner und des Institut NoMos im YouTube-Kanal »Täterberatung Häusliche Gewalt«

Clown mit Maske im Halbdunkel

Text: Alexander Bentheim (Redaktion)
Foto: Alexander Bentheim

 
Angst kennt jeder. Niemand will sie spüren. Weil sie mit Gefühlen von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein verbunden ist. Werden diese Gefühle ersetzt und überlagert mit Aggression und Gewalt, lösen sie Verunsicherung und genau diese Ängste aus bei jenen, die man liebt oder die einem sonst wichtig sind: Partner*in, Kinder, Angehörige.
Ralf Ruhl, Männerberater der AWO im Werra-Meißner-Kreis, und Robert Moos, Täter*innenberater beim Institut NoMos, zeigen in ihrem neuen Video:
_ welche Wirkung Angst auf die körperliche, seelische und soziale Gesundheit hat,
_ welche psychischen und sozialen Ursachen hinter angstauslösendem Verhalten stecken,
_ wie man* einen Weg aus diesem schmerzhaften Kreislauf finden kann.

NEU: »Du machst mir Angst!« (6’18“)

Die weiteren Videos als Einzelbeiträge:
:: Empathie – So lernst du Mitgefühl (4’54“)
:: Du hast es in der Hand – Vorstellung des Tutorials (4’30“)
:: Dein Krisenthermometer (4’04“)
:: Wut, Kränkung, Provokation (4’13“)
:: Dein Notfallplan (3’25“)
:: Bilanz und Konsequenzen der Tat (6’56“)
:: Gewaltspirale und Kreislauf der Liebe (6’40“)
:: Kinder und Häusliche Gewalt (5’23“)
:: Häusliche Gewalt und Kinder – Experte Manuel Schwab (7’09“)
:: Verhalten entsteht im Kopf (3’45“)
:: So gelingt Kommunikation (6’32“)
:: Wenn die Polizei kommt (7’25“)
:: Paardynamik (7’55)

Zum Videokanal Täterberatung Häusliche Gewalt mit allen Beiträgen

»Verlässlichkeit und der gemeinsame Einsatz gegen soziale Ungerechtigkeiten«

Der MännerWegeFragebogen – beantwortet von Dirk Bange, Hamburg

Baum im Nebel
Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: tequila sunrise, photocase.de | privat

 
Dirk, was war oder ist dein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen-, Männer- und Väterthemen? Was dein politischer und fachlicher Zugang?
Ich bin über die sexualisierte Gewalt an Kindern, insbesondere an Jungen, zur Jungen- und Männerarbeit gekommen. Ende der 1980er Jahre hat sich, ausgehend von Zartbitter Köln, mehrere Jahre lang eine Gruppe von Fachmännern zum so genannten »Männerwochenende« in Wuppertal getroffen. Wir haben dort von der Jungensozialisation über die Sexualität von Männern sehr vieles sehr offen und persönlich diskutiert. Unser Ziel war es, ausgehend von unseren eigenen biographischen Erfahrungen, den gesellschaftlichen Blick auf die Jungen zu verändern und auf ihre »schwachen Seiten« aufmerksam zu machen. Zu der Gruppe, die sich neben dem Wochenende in Wuppertal regelmäßig bei Zartbitter in Köln getroffen hat, gehörten auch Rainer Neutzling und Dieter Schnack. Die beiden veröffentlichten im Jahr 1990 das bis heute für mich wichtige Buch »Kleine Helden in Not: Jungen auf der Suche nach Männlichkeit«. Wir alle haben damals gehofft, dass sich eine Männerbewegung bildet, die gesellschaftliche Veränderungen erkämpfen würde. Leider ist es dazu nur in Ansätzen gekommen.

Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen, Männern und Vätern?
Der Einsatz gegen sexualisierte Gewalt an Kindern – insbesondere Jungen – ist mir bis heute ein großes Anliegen. Gemeinsam mit vielen Kollegen haben wir hier sicher einiges zum Besseren bewegt. Daneben war mir die Veränderung der Väterrolle stets wichtig. Das ergibt sich schon aus meinen Aufgaben als Abteilungsleiter für Familie und Kindertagesbetreuung in der Hamburger Sozialbehörde, aber natürlich auch als Vater zweier Töchter.

Wie hat sich dein Engagement für Jungen, Männer und Väter entwickelt, ggf. verändert?
Mir liegen die Themen weiterhin am Herzen und ich versuche, so viel Zeit wie möglich dafür aufzuwenden. Wenn ich dann sehe, dass sich etwas zum Positiven verändert, motiviert mich das, weiterzumachen.

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche/historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Die Aufdeckung der Missbrauchsskandale Anfang der 2010er-Jahre war sehr wichtig. Sie hat dazu geführt, dass insbesondere die sexualisierte Gewalt an Jungen mehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit und der Politik gerückt ist. Im Kontext der stärkeren partnerschaftlichen Aufteilung der Familien- und Erwerbsarbeit war die Einführung des Elterngeld Plus mit dem Partnerschaftsbonus am 01. Januar 2015 ein Meilenstein.

Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deinen privaten oder beruflichen Beziehungen?
Absolut wichtig war es für mich, dass ich immer wieder Mitstreiter/innen getroffen habe, die sich unermüdlich gegen die sexualisierte Gewalt und für eine veränderte Mädchen- und Jungensozialisation eingesetzt haben. Ich kann nicht alle aufzählen, möchte aber exemplarisch ein paar Namen nennen, da wir einen langen Weg gemeinsam gegangen sind: Ursula Enders, Jörg Fegert, Barbara Kavemann und Thomas Schlingmann waren für mich wichtige Wegbegleiter/innen.

Drei Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und Beziehungen zu anderen ausmachen?
Verlässlichkeit, Beharrungsvermögen, an Fakten orientiert argumentieren und nicht zuletzt bin ich auch für den einen oder anderen Spaß zu haben.

Was ist für dich »Erfolg« in deiner Auseinandersetzung mit Jungen-, Männer- oder Väterthemen? Hast du Beispiele?
Ein Erfolg war sicher, dass viele Väter ihre Rolle heute anders leben als in vergangenen Zeiten. Dabei möchte ich aber nicht verschweigen, dass hier – wie z.B. bei den Partnerschaftsmonaten – noch reichlich Luft nach oben ist. Für mich sehr, sehr wichtig ist, dass Jungen, denen sexualisierte Gewalt widerfahren ist, sich heute öffnen und dann auch Hilfe bekommen können.

Was gibt dir persönlich Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen?
Wenn ich den Eindruck habe, dass sich durch meine Arbeit die Situation für Kinder verbessert. Ich habe in Berlin sehr intensiv daran mitgewirkt, dass es ab 2026 für die 1. Klasse und dann Jahr für Jahr aufwachsend bis zur 4. Klasse einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule gibt. Dies könnte zu mehr Bildungsgerechtigkeit führen, und wenn dann auch noch die Themen Mädchen- und Jungensozialisation an den Schulen mehr Gewicht bekommen, wäre das doch fein.

Was ist dir (mit) gelungen, worauf bist du (zusammen mit anderen) vielleicht auch stolz?
Ich habe ja schon ein paar Beispiele genannt. Deshalb möchte ich ergänzend nur auf den Fachartikel »Sexuelle Erregung als Faktor der Verunsicherung sexuell missbrauchter Jungen« von Thomas Schlingmann und mir verweisen. Durch ihn ist es uns gelungen, ein für viele sexuell missbrauchte Jungen belastendes Thema bekannter zu machen. Ich bin von Betroffenen mehrfach darauf angesprochen worden, dass ihnen das sehr geholfen hat.

Mit welchen Institutionen und Personen warst du gerne beruflich oder privat verbunden oder bist es noch?
Ich bin bis heute mit Zartbitter Köln bzw. Ursula Enders eng verbunden. Wichtig war auch meine Zeit im Fachbeirat beim UBSKM und die gemeinsamen Treffen mit dem Betroffenenrat. Mit der neuen UBSKM Kerstin Claus arbeite ich sehr vertrauensvoll zusammen. Nicht zuletzt möchte ich aber auch meine Kollegen und Kolleginnen aus der Sozialbehörde nennen. Mit vielen von ihnen verbindet mich ein enges und von Vertrauen getragenes Verhältnis.

Was hat die Männer/* ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast?
Verlässlichkeit und der gemeinsame Einsatz gegen soziale Ungerechtigkeiten. Entscheidend dabei war und ist immer das gegenseitige Vertrauen. Und aus heutiger Sicht muss ich sagen, dass ich da fast niemals enttäuscht worden bin.

Hast du eine Lebensphilosophie, ggf. ein Lebensmotto?
Immer weitermachen, nicht aufgegeben und das Glas ist immer fast voll.

Wo siehst du Brüche in deinen beruflichen oder freundschaftlichen Beziehungen? Wodurch wurden diese verursacht?
Mein beruflicher Wechsel von Zartbitter Köln in die Hamburger Sozialbehörde war sicher ein Bruch. Ich kam aus der Praxis in die Verwaltung und das macht schon einen Unterschied aus. Ich habe aber immer den Kontakt zur Basis gehalten und versucht, ihre Perspektive in die Kinder- und Jugendpolitik einzubringen. Gleichzeitig habe ich stets wissenschaftlich gearbeitet und dadurch eine dritte Perspektive gehabt, die für meine Arbeit sehr bereichernd war und ist.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis vom Umgang mit Jungen-, Männer- und Väterthemen?
Die gesellschaftlichen Widerstände gegen ein anderes Jungen- und Männerbild sind immer noch enorm. Das deutet daraufhin, dass ihre Veränderung an den Kern unserer Gesellschaft rührt und die bestehenden Gesellschaftsstrukturen zumindest teilweise in Frage stellt.

Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deiner Arbeit an?
Es werden immer noch Kinder sexuell missbraucht und sie haben sehr häufig lange unter den Folgen zu leiden. Gleiches gilt für die Jungensozialisation, die weiterhin viel Unglück produziert. Hier etwas zu verändern, ist und bleibt eine starke Antriebsfeder für mich.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest? Und was möchtest du gegen Ende deines Lebens erreicht haben?
Da gibt es viele. Ich verzichte deshalb darauf ein einzelnes zu benennen.

Eine Anmerkung, die du gerne noch machen möchtest?
Die Zusammenarbeit mit Dir, Alexander, war immer klasse. Als ich die Antworten auf Deine Fragen entwickelt habe, habe ich mir ein altes Heft von »Switchboard – Zeitschrift für Jungen- und Männerarbeit« herausgesucht und angeschaut. Da wurde mir klar, dass Du einer von den Männern bist, mit dem ich einen langen gemeinsamen Weg beschritten habe. Ich möchte Dir an dieser Stelle dafür und für Deinen Einsatz für Jungen und Männer stellvertretend danken.
 
 

 
 
 
 
 
 
:: Dirk Bange, Jahrgang 1964, lebt mit seiner Frau am Rande von Hamburg und ist Vater zweier Töchter. Er ist promovierter Erziehungswissenschaftler und arbeitet bei der Hamburger Sozialbehörde als kommissarischer Leiter des Amtes für Familie. Seit mehr als 30 Jahren setzt er sich gegen sexualisierte Gewalt an Kindern und für ein verändertes Jungenbild ein. Er veröffentlichte sechs Bücher und schrieb mehr als 100 Fachaufsätze insbesondere zum Kinderschutz und zu anderen Themen der Kinder- und Jugendhilfe.

Man geht nicht weg, man bleibt

Es ist nicht selbstverständlich, dass man sein Leben so lebt, wie man wollte. Das sollte man sich zuweilen vor Augen führen.

Text: Frank Keil
Foto: Don Espresso, photocase.de

Männerbuch der Woche, 29te KW. – Kent Haruf erzählt in seinem nun übersetzten Erstling »Das Band, das uns hält« von einer unglückseligen Frau und einem noch unglückseligeren Mann und auch sonst haben es seine Helden entschieden schwer.

Zur Rezension

»Sich für die gesellschaftlichen Veränderungen der Geschlechterverhältnisse unbeirrt einsetzen.«

Der MännerWegeFragebogen – beantwortet von Gerhard Hafner, Berlin

Kleinkind im Park auf Fahrrad

Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: 1100, photocase.de | Fotostudio Neukölln

 
Was war oder ist dein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen-, Männer- und Väterthemen? Was dein politischer und fachlicher Zugang?
Mein Zugang war in den 1970er Jahren auf der einen Seite der gesellschaftliche Impuls der Frauenbewegung, auf der persönlichen Ebene, dass ich mit meinen Liebesbeziehungen und meiner beruflichen Perspektive zutiefst unzufrieden war.

Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen, Männern und Vätern?
In den 1970er Jahren stand die Auseinandersetzung mit meiner Männerrolle im Mittelpunkt. Heute beschäftigt mich der Zusammenhang zwischen hegemonialer Männlichkeit und Gewalt.

Wie hat sich dein Engagement für Jungen, Männer und Väter entwickelt, ggf. verändert?
Zu Anfang stand die Selbsterfahrung in der Männergruppe, heute das gesellschaftliche Engagement und die berufliche Tätigkeit im Zentrum.

Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deinen privaten und/oder beruflichen Beziehungen?
Dass ich Vater geworden bin, ist das Wichtigste.

Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und/oder Beziehungen zu anderen ausmachen?
Die Verknüpfung von persönlichem und gesellschaftlichem Engagement. Und die Zusammenarbeit mit Frauen.

Was ist für dich »Erfolg« in deiner Auseinandersetzung mit Jungen-, Männer- und Väterthemen?
Den Aufbau von Beratungsstellen zusammen mit Männern und Frauen sehe ich als meine Erfolge.

Was gibt dir persönlich Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen?
Die gemeinsame Arbeit mit Kolleginnen und Kollegen befruchtet mein berufliches Leben und gibt mir Impulse für mein privates Leben.

Was ist dir (mit) gelungen, worauf bist du (zusammen mit anderen) vielleicht auch stolz?
Die »Beratung für Männer – gegen Gewalt« hat sich in Berlin über die langen Jahre gut entwickelt.

Mit welchen Institutionen und Personen warst du gerne beruflich oder privat verbunden oder bist es noch?
Die »Beratung für Männer – gegen Gewalt« steht immer noch im Zentrum. Zugleich engagiere ich mich als Botschafter für die Kampagne »HeForShe« von UN Women Deutschland.

Was hat die Männer/* ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast?
Ich habe mit Männern wie Frauen gerne zusammengearbeitet, die sich für die gesellschaftlichen Veränderungen der Geschlechterverhältnisse unbeirrt eingesetzt haben.

Hast du eine Lebensphilosophie, ggf. ein Lebensmotto?
Nicht lockerlassen!

Wo siehst du Brüche in deinen beruflichen oder freundschaftlichen Beziehungen? Wodurch wurden diese verursacht?
Wenn Kolleg*innen in ihrem persönlichen und gesellschaftlichen Engagement nachgelassen haben, gingen diese Beziehungen zu Ende.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis vom Umgang mit Jungen-, Männer- und Väterthemen?
Zum einen gibt es einen expliziten Anti-Feminismus, zum anderen leider immer noch die »verbale Offenheit bei weitgehender Verhaltensstarre« (Ulrich Beck).

Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deiner Arbeit an?
Mich treiben die weiterhin heftigen Sexismen an, aber auf der anderen Seite auch die Möglichkeiten der positiven Veränderungen.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest? Und was möchtest du gegen Ende deines Lebens erreicht haben?
Ich bin zurzeit dabei, ein neues Projekt aufzubauen: »Berliner Modell zur Eltern-Kind-Beratung nach häuslicher Gewalt im gerichtlichen Umgangsverfahren«. Die »Beratung für Männer – gegen Gewalt« baue ich zusammen mit Kolleg*innen weiter aus. Außerdem bin ich weiter als Botschafter der Kampagne »HeForShe von UN WOMEN Deutschland« engagiert. Das reicht.

 
 
 

 
 
 
 
 
 
 
:: Gerhard Hafner, Jg. 1949, ist Dipl.-Psychologe. Anno 1975 hat er eine der ersten profeministischen Männergruppen im Westen von Berlin mitgegründet und danach (überregionale) Männertreffen mitorganisiert, Männerzeitungen (u.a. »Herrmann – die falsche Stimme im Männerchor«) mitherausgegeben, die Berliner »Mannege – Information und Beratung für Männer« (heute Väterzentrum Berlin) mitgegründet und profeministische Männerstudien betrieben (u.a. zusammen mit Georg Brzoska: Möglichkeiten und Perspektiven der Veränderung der Männer, insbesondere der Väter. Forschung, Diskussionen und Projekte in den USA, Schweden und den Niederlanden, 1988). Seit den 1990er Jahren fokussiert er in seiner Arbeit die Themen engagierte Vaterschaft und Männergewalt gegen Frauen, indem er die »Beratung für Männer – gegen Gewalt«, »Kind im Blick« und im Jahr 2023 das »Berliner Modell zur Eltern-Kind-Beratung nach häuslicher Gewalt im gerichtlichen Umgangsverfahren« mitgegründet hat. Ehrenamtlich engagiert er sich als Botschafter bei der Kampagne »HeForShe« von UN WOMEN Deutschland.

»Hübsche Möbel, glatte Oberflächen«

Was tun, wenn das eigene Leben immer wieder auseinanderzufallen droht? Wie weiterbestehen, wenn man gerade daran so seine Zweifel hat?

Schneewald hinter Regentropfen

Text: Frank Keil
Foto: jlokij, photocase.de

Männerbuch der Woche, 11te KW. – Heidi Furre erzählt in ihrem wortwuchtigen Roman »Macht«, wie eine Frau nach einer Vergewaltigung ihr Leben zurückgewinnt.

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Luftalarm

Schauen wir in den Himmel, sehen wir was ist. Und gehen entspannt oder besorgt in den Tag. Der was wohl bringen wird?

Frau mit geschlossenen Augen in einem lost place

Text: Frank Keil
Foto: jodofe, photocase.de

Aus leider düsterem Anlass: ein Männerbuch-der-Woche-Special, 8te KW. Heute ist es ein Jahr her, dass der russische Staat samt seinem Militär die souveräne Ukraine überfallen hat. Beobachtungen, Eindrücke, Verarbeitungen, Bewältigungen von Yevgenia Belorusets (»Anfang des Krieges – Tagebuch aus Kyjiw«), Irina Rastorgueva (»Das Russlandsimulakrum«), Alhierd Bacharevič (»Sie haben schon verloren – Repression und Revolte in Belarus«) und Katja Petrowskaja (»Das Foto schaute mich an«) zu einer Invasion, deren Ende nicht in Sicht ist.

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Auf der Hütte

Nie soll es einem passieren, dass man eingesperrt ist und unfrei. Aber ist man dann verloren?

Mann sitzt hinter Gittern

Text: Frank Keil
Foto: rowan, photocase.de

Männerbuch der Woche, 7te KW. – Der belarussische Anwalt und Schriftsteller Maxim Znak berichtet in 100 gekonnten Prosa-Miniaturen vom Dasein in einem repressiven Land – und das auf kleinstem Raum.

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