Nachrichten von Carola und andere Unglücke

Sommer. Ruhe. Ausspannen. Nur was liest man, das einerseits nicht allzu anstrengt, andererseits doch solide Kopfnahrung bietet? Vier Titel bieten sich an.

Mann und Frau lesend Rücken an Rücken am Strand

Text: Frank Keil
Foto: owik2, photocase.de

 
Männerbücher der Woche, 32te und 33te KW. – Heinz Strunk schaut nach einem gelben Elefanten, Kerstin Ekman lässt in »Wolfslichter« einen Mann in eine Lebenskrise stürzen, die Literaturanthologie »Hamburger Ziegel« widmet sich (nicht nur) den Vätern und Thilo Krause bezaubert mit seinen (gleichfalls nicht nur) erzgebirgischen Gedichten.

Zu den Rezensionen

»Es geht mir um Geschlechtergerechtigkeit.«

Der MännerWegeFragebogen – beantwortet von Matthias Stiehler

Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: Matthias Stiehler | Michael Tischendorf

 
Was war oder ist dein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen-, Männer- und Väterthemen? Was dein politischer und fachlicher Zugang?
1984 geriet ich in eine schwere persönliche Krise. Ich lebte in einer Partnerschaft, wir hatten ein Kind. Meine damalige Partnerin und ich waren beide mit unserer gemeinsamen Situation unglücklich. Von meiner Erziehung her war ich fest davon überzeugt, dass ich einen größeren Anteil Schuld trug, denn ich war der Mann. Und meine Eltern, die beide zwar bis zum Schluss zusammenblieben, waren nach meinem Eindruck eigentlich auch immer unzufrieden. Insbesondere meine Mutter klagte fast täglich ihr Leid. Ich war überzeugt, dass ich mein Verhältnis zu meinem Vater aufarbeiten musste, um partnerschaftsfähiger zu werden. Gesellschaftlich war ich dabei durch die feministische und männerkritische Sichtweise der damaligen BRD geprägt. Denn als Theologiestudent war ich in der DDR nicht nur mit Westliteratur versorgt, sondern wir rezipierten auch die dortigen Diskussionen.
In der Folge meiner persönlichen Krise ging ich in eine stationäre Psychotherapie. Dort entwickelte ich jedoch ein Gespür dafür, dass meine Sicht zu einseitig war. Zugegeben, die Kritik an meinem Vater war berechtigt. Aber es war eben nicht nur mein Vater, dem ich meine Schwierigkeiten zu »verdanken« hatte. Meine Mutter hatte einen ebenso großen Anteil. Das war zugegeben erschütternd für mich. Denn ich erkannte, dass ein partnerschaftliches Miteinander von Frauen und Männern auch die gemeinsame Verantwortung für die entstandene Situation betrifft.
Ich gründete dann gemeinsam mit Gleichgesinnten eine Selbsthilfegruppe, in der sowohl Männer als auch Frauen waren. Das entsprach konsequent den gewonnenen Einsichten und bestimmt mich bis heute.

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche/historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Das wesentliche Ereignis für mein männerpolitisches Engagement war dann die deutsche Einheit 1989/90. In Bezug auf Fragen der Geschlechtergerechtigkeit fiel mir die heftige Ideologisierung im Westen auf. Das war in meinen DDR-Kreisen – akademisch gebildete, alternative, bürgerbewegte Szene – nicht in gleichem Maße so. Wenn ich ehrlich bin, verstehe ich bis heute dieses Gegeneinander der Geschlechter in den alten Bundesländern nicht. Ich denke, das hat vor allem mit der größeren Bedeutung von materiellem Besitz zu tun, was in der Geschlechterdiskussion bis heute fortwirkt. Frauen haben sich – vermutlich zurecht – materiell abhängiger in ihren Partnerschaften gefühlt. Andererseits war der emotionale Zugriff der Mütter auf ihre Kinder aufgrund der traditionellen Rollenverteilung größer. Ich brauchte eine Weile um zu verstehen, dass aktive Vaterschaft im Westen nicht so selbstverständlich war, wie es meine Generation in der DDR bereits gelebt hat – zumindest in den alternativen Kreisen. Das mag zu der für mich nur schwer zu verstehenden Unterschiedlichkeit geführt haben, mit der Frauen und Männer beurteilt werden und die bis heute andauert. Sie ist geprägt von Verständnis für Begrenzungen der Mütter und kritischer Sicht auf die Fehler der Väter. Mir jedenfalls war es auch und gerade unter den neuen gesellschaftlichen Erfahrungen wichtig, für das Miteinander von Frauen und Männern in Kritik und Würdigung einzutreten.
Eine wichtige Zäsur war für mich daher erreicht, als 2001 der Erste Deutsche Frauengesundheitsbericht herausgegeben wurde. Den fand ich gut und richtig. Das Problem war nur, dass es keinen Männergesundheitsbericht an seiner Seite gab. Dabei wusste ich – ich arbeitete mittlerweile in einer Beratungsstelle des Gesundheitsamtes Dresden – dass die Männergesundheitsforschung ebenso lückenhaft und rudimentär war. Es gab nur bei Weitem nicht diese gesellschaftliche Lobby. Männer haben ebenfalls massive gesundheitliche Probleme und sie litten vergleichbar unter den gesellschaftlichen und oftmals auch privaten Anforderungen. Da mag man viel von »patriarchaler Dividende« sprechen. Die geringere Lebenserwartung sollte uns hier jedoch zu einer differenzierten Betrachtung führen. Für mich war es daher eine Frage von Geschlechtergerechtigkeit, sich ebenso um die Männer zu kümmern. Die Reduktion von Männerproblemen auf marginalisierte Gruppen griff mir zu kurz.
2001 initiierte ich eine Initiative für einen bundesdeutschen Männergesundheitsbericht, der viele Männer (und auch einige Frauen) in der Forderung nach einem solchen zusammenführte. Klaus Hurrelmann unterstützte mich dabei nach Kräften.

Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen, Männern und Vätern?
Mein Engagement in den folgenden Jahren bezog sich vor allem auf die Männergesundheit. Das entsprach meiner Expertise in meiner Arbeit im Gesundheitsamt und meiner gesundheitswissenschaftlich ausgerichteten Promotion. Ich war Teil der sich nun stärker artikulierenden Männergesundheitsbewegung. U.a. war ich Gründungsmitglied des Netzwerks Jungen- und Männergesundheit, ich war Gründungs- und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Mann und Gesundheit (DGMG), und später dann auch Vorstandsmitglied der Stiftung Männergesundheit.
Als besonderen Erfolg sehe ich, dass die DGMG gemeinsam mit der Stiftung Männergesundheit 2010 einen ersten deutschen Männergesundheitsbericht herausgegeben hat. Er fand seine Fortsetzung in weiteren Berichten der Stiftung Männergesundheit, die jeweils ein bestimmtes Thema im Fokus haben. Ich war dabei Mitherausgeber des ersten, zweiten und vierten Berichts. Zuvor, 2007, hatte ich gemeinsam mit Theodor Klotz das Buch »Männerleben und Gesundheit« herausgegeben. Ebenfalls 2007 entwickelte ich gemeinsam mit einem Freund aus der AIDS-Hilfe Dresden das Internetprojekt »Pflege Deinen Schwanz«, das die Förderung sexueller Gesundheit von Männern im Fokus hat.
2017 initiierte ich innerhalb der Stiftung Männergesundheit den »Tag der ungleichen Lebenserwartung« (10. Dezember), zu dem wir in den Folgejahren Social-Media-Kampagnen und Vor-Ort-Projekte durchführten.
Über das Thema Männergesundheit hinaus führte ich Ende der Neunziger-, Anfang der Zweitausenderjahre Männerwochenenden in Dresden durch. Ich absolvierte zudem eine therapeutisch-beraterische Ausbildung. Mit Freunden, die ich dort kennenlernte, bot ich über mehrere Jahre Männerworkshops in Naumburg an, bei denen es um tiefenpsychologisch fundierte Selbsterfahrung ging. Darüber hinaus leite ich seit 2005 Männergruppen, die tiefenpsychologisch ausgerichtet sind und körpertherapeutische Elemente enthalten.
Zur gleichen Zeit begann ich gemeinsam mit meiner Frau, Paarberatungen anzubieten. Unser Ansatz, dass wir als Frau und Mann und als Alltagspaar den Paaren in Krisensituationen zur Verfügung stehen, ist ihnen eine große Hilfe und für mich persönlich beglückend. Darin verwirklicht sich mein Streben nach Geschlechtergerechtigkeit, bei dem Frauen wie Männer gleichermaßen verständnisvoll und kritisch betrachtet werden.

Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und in Beziehungen zu anderen ausmachen?
Es geht mir bei all meiner Arbeit um das Miteinander. Es ist für mich beispielsweise nicht vorstellbar, einen Mann in der Männergruppe, der sich über ein aktuelles Problem in seiner Partnerschaft beschwert, nicht auf seine Anteile bei der Entstehung der Schwierigkeiten anzufragen. Gleiches gilt für unsere Arbeit mit Paaren. »Parteiliche Beratung«, egal ob für Männer oder für Frauen, lehne ich ab, denn sie hilft den Betroffenen kaum, die Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. Das bedeutet jedoch nicht, in gesellschaftlichen oder strukturellen Fragen keine Haltung einzunehmen. Ich wende mich nur gerade auch im Geschlechterdiskurs gegen die schon im Vorhinein feststehenden Antworten.
Diese Haltung erfordert natürlich auch, diesen Anspruch bei sich selbst zu leben. Insbesondere die gemeinsame Arbeit mit meiner Frau in den Paarberatungen erfordert beständige Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten und den eigenen Haltungen. Wir befinden uns daher in einem steten Selbsterfahrungsprozess, den wir in Supervision, Intervision und dem gemeinsamen Leben umsetzen. Dabei erlebe ich, dass unsere Liebe zueinander wächst.

Was ist für dich »Erfolg« in deiner Auseinandersetzung mit Jungen-, Männer- und Väterthemen? Und welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest?
Erfolge sehe ich in meiner Auseinandersetzung mit den angesprochenen Themen, wenn ich in meiner beständigen Auseinandersetzung vorankomme. Ich habe gerade mein neues Buch »Partnerschaft ist zweifach« fertiggestellt. Es beschreibt weitergehende Erkenntnisse, die wir in zahllosen Paarberatungen gewonnen haben. Das Schreiben zwingt zur Genauigkeit und Klarheit. Auf dieses Buch bin ich wieder stolz. Zumal der Titel das Thema der Geschlechtergerechtigkeit auf den Punkt bringt.
Erfolg ist auch, wenn Paare oder einzelne Menschen mit meiner oder unserer Unterstützung einen guten Weg für sich finden. Diese direkte, unmittelbare Arbeit kann beglückend sein und gibt mir Energie.
In gleicher Weise kann ich das für mein politisches Engagement für die Männergesundheit leider so nicht sagen. Sicher gibt es mittlerweile eine größere gesellschaftliche Aufmerksamkeit gegenüber Männergesundheitsthemen, wenn wir die letzten zwanzig Jahre betrachten. Immerhin wurde auch vom Robert-Koch-Institut 2014 ein staatlicher Männergesundheitsbericht herausgegeben. Aber auf diesem Gebiet halten sich das Gefühl, etwas erreicht zu haben, und das Gefühl der Vergeblichkeit, die Waage. 2023 bin ich vom Vorstand der Stiftung Männergesundheit zurückgetreten und habe mich damit vom Thema Männergesundheit weitgehend zurückgezogen.
Dennoch bin ich auf mein jahrelanges gesellschaftliches Engagement stolz. Ich denke, ich habe auf meine Weise Akzente gesetzt und vor allem thematisch genau das vertreten, was ich vertreten wollte und was ich weiterhin vertreten werde. Insofern gibt es kein Projekt, das bis zu meinem Lebensende noch umgesetzt werden müsste, um meinem Leben Sinn zu geben. Nichtsdestotrotz werde ich sicher weitere Projekte vorantreiben, solange ich die Kraft dazu habe. Ein bis zwei Buchideen habe ich jedenfalls schon im Kopf.
 
 

 
 
 
 
 
:: Dr. Matthias Stiehler, Jg. 1961, Dresden. Maschinenbauschlosser, Theologe, Erziehungswissenschaftler, Psychologischer Berater. Verheiratet, drei Kinder, sechs Enkel. www.matthias-stiehler.de.
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Schöne neue Jungenwelt

Mit diesem Bilderbuch ist man bei der Jungenerziehung moralisch auf der richtigen Seite. Als Vater, Mutter, Erzieherin… Aber ist es das, was Jungen brauchen?

Text: Ralf Ruhl
Foto: LP, photocase.de

Scott Stuart will mit »Echte Jungs wie Du und ich« zeigen, dass es das allein richtige Männerbild nicht gibt. Dass historisch das Männerbild nur auf Kraft und Macht gebaut war. Demgegenüber setzt er Selbstbestimmung und Freiheit. Allerdings mit moralischer Verpflichtung des Gemeinsinns für andere. »Du kannst selbst entscheiden, was für ein Mann du sein willst«, ist seine Botschaft an die Jungen. Klingt gut, stimmt und funktioniert so aber leider nicht …

Zur Rezension

»Eine neue Männergeneration denkt und fühlt oft schon progressiver als meine eigene.«

Der MännerWegeFragebogen – beantwortet von Marc Gärtner

Männer in Bewegung

Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: 3ster, photocase | privat

 
Marc, was war oder ist dein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen-, Männer- und Väterthemen? Was dein politischer und fachlicher Zugang?
Einerseits gab es ab der späten Kindheit einen Schrecken vor vielen Situationen, die mit Konkurrenz, Aggression und (gegenseitiger) Abwertung bis hin zu Demütigung zu tun hatten. Manche kennen diese ex- oder implizite Gewalt ja ebenfalls, von Straßen, Bolzplätzen und Schulhöfen. Später habe ich gelernt, dass das durchaus zu den üblichen »Männlichkeitsanforderungen« gehört. Andererseits haben mich früh soziale Bewegungen und progressive Ideen fasziniert. Feminismus habe ich daher als Verbündeten erlebt: Das meiste, was er in Frage stellte, war ohnehin eine Bürde, und er half mir bei der Menschwerdung ungemein. Meiner Deutschlehrerin habe ich diesbezüglich viel zu verdanken.

Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen, Männern und Vätern?
Am Anfang war es vor allem Sexismus, auch Fragen rund um sexualisierte Gewalt. Ebenso war Homophobie, angeregt durch schwule und lesbische Freund*innen, ein Thema. Die massive Welle des Rechtsradikalismus Anfang der 1990er stellte Fragen, die sich schnell auch als Männerfragen herausstellten. Diese Fragen finde ich noch immer wichtig.

Wie hat sich dein Engagement für Jungen, Männer und Väter entwickelt, ggf. verändert?
Am Anfang standen diverse Männergruppen in Bremen. Gemeinsam wollten wir das Patriarchat, naja, stürzen ging offenbar nicht, aber zumindest stören. Unser Vehikel war das »Männercafé«, eine monatliche, thematische Diskussionsveranstaltung. Mein blinder Fleck war die Kombination »Arbeitswelt und Geschlecht/Männlichkeit«. Darauf brachte mich ab 2001 das Berliner Institut Dissens, bei dem ich dann rund ein Jahrzehnt zu genau diesem Thema geforscht, gelehrt und beraten habe.

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche/historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Da gibt es mehr, als ich aufzählen kann. Zunächst 1968, zwei Jahre vor meiner Geburt. Die Zeit um dieses Jahr herum war ein wichtiger Aufbruch aus der post-faschistischen Nachkriegskultur hin zur offeneren, demokratischen Gesellschaft, die auch geschlechterdemokratisch sein muss, was damals zumindest einige erkannten. Dann der Umbruch in der DDR und in Osteuropa ab 1989: Natürlich brachte er Freiheiten und Demokratie. Ich sah in dieser Zeit aber auch Gefahren: ein ungebremster, weltweiter Kapitalismus, die Erosion des Sozialstaates, aber vor allem der ungeheure Nationalismus, der sich nun vehement Bahn brach. Der führte viel Rassismus im Schlepptau, die Pogrome in Hoyerswerda und Rostock, ein massives Staatsversagen, das dann in die NSU-Mordserie mündete. Die Toleranz, die Politik und weite Teile der Gesellschaft diesen Bewegungen teilweise entgegenbrachten, hat mich immer entsetzt. Ich bin bis heute ratlos, warum traditionelle Männlichkeit aus dem Kontext von Nationalismus und Gewalt so lange ausgeblendet werden konnte. Das passierte weitgehend auch 2011 beim antifeministischen, rassistischen und Rückschritts-Manifest des Massenmörders Anders Breivik. Ähnliches gilt für den Trump’schen Rechtsradikalismus in den USA. Die Ernte solcher Ignoranz fährt heute hierzulande die AfD ein, deren Feindbilder die gleichen sind.

Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deinen privaten oder beruflichen Beziehungen?
Die stützenden, kritischen, nahen Beziehungen mit Menschen unterschiedlicher Geschlechter sind sicher das Wertvollste in meinem Leben. Selbsterfahrungsansätze wie Radikale Therapie und Co-Counseling haben geholfen, auch emotional zu wachsen und resilienter zu werden.

Drei Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und/oder Beziehungen zu anderen ausmachen?
Ich kann ganz gut auf andere zugehen; vor und mit Menschen reden, auch in größeren Gruppen, ist für mich eher angenehm. Ich arbeite auch gern in internationalen Netzwerken, das relativiert oft die Perspektive aus der eigenen, engeren Lebenswelt. Und zuletzt: Ich habe als Historiker gelernt, in längeren Entwicklungsprozessen zu denken, das kann helfen, wenn es gerade mal schwierig aussieht.

Was ist für dich »Erfolg« in deiner Auseinandersetzung mit Jungen-, Männer- und Väterthemen? Hast du Beispiele?
Es gibt sichtbare Erfolge, wie die Einführung der Partnermonate, die Vätern den Zugang zur Elternzeit erleichterte. Ich denke, dass wir mit unserer Forschung rund um »Caring Masculinities« ab den frühen 2000ern dazu beigetragen haben. Neben sehr vielen Kolleg*innen in der EU nenne ich hier vor allem die von Dissens und dem VMG Steiermark. Das Care-Paradigma hat sich ja ein wenig etabliert in der Debatte über Männlichkeiten, das finde ich erfreulich.

Was gibt dir persönlich Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen?
Ganz allgemein ist es immer ein angemessenes Verhältnis aus Herausforderung und Anerkennung, oder aus Sicherheit und produktiver Verunsicherung. Ich bin ein Teamplayer, ich brauche Austausch, emotionale Resonanz und intellektuelle Anregung. Wenn ich das habe, geht es mir gut.

Was hat die Männer/* ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast?
Dass sie die Privilegien und die Kosten traditioneller Männlichkeit gleichzeitig sehen konnten. Denn weder Gewalt noch Homophobie, weder »carelessness« noch ungebremste Konkurrenz, also Kerne hegemonialer Männlichkeit, liegen im Interesse von Jungen, Männern und Vätern selbst. Ich mag es, wenn Männer nicht einfach »männer-identifiziert« sind, sondern Verantwortung für ihre soziale Rolle und Positionierung übernehmen, auch öffentlich. Dabei sollten wir aber auch empathisch sein und verstehen wollen, was andere antreibt. Verstehen heißt ja nicht, es unkritisch hinzunehmen.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis vom Umgang mit Jungen-, Männer- und Väterthemen?
Leider ignorieren viele noch immer, dass Männlichkeits-Stereotype und soziale Ungleichheit ein guter Nährboden für Sexismus, Aggression und Gewalt sind. Die Wut, die Feminismus und das Wort »Gender« in manchen (insbesondere Männern) auslösen, könnte sich in Krisenzeiten verstärken, in denen altes Denken den Schein von Sicherheit und Heimeligkeit verbreitet. Es gibt auch in einflussreichen Eliten manche, die würden gerne die Zeit zurückdrehen, als Frauen, Schwule, Nicht-Weiße und Trans* nichts zu sagen hatten. Widerstand dagegen und überzeugende Konzepte werden noch wichtiger, denn das Problem bleibt stereotype, traditionelle, patriarchale und konkurrenzbasierte Männlichkeit.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest?
Wir sind gerade beim Bundesforum Männer dabei, im Angesicht der Klimakrise unsere Konzepte zu erweitern, in Richtung »Männlichkeit(en) nachhaltig gestalten« – also »caring masculinities« auch unter den Gesichtspunkten von ökologischer Verantwortung, sozialer und wirtschaftlicher Resilienz zu erweitern. Ich würde auch gerne weiterhin noch in Wirtschaft und Betrieben das Thema »Männer und Gleichstellung« pushen. Hier können manche von Start-ups etwas lernen, auch weil eine neue Männergeneration da oft schon progressiver denkt und fühlt als meine eigene. Das wird leider oft übersehen, und ich fände toll, wenn wir es schaffen, dass die Generationen Y und Z sich noch stärker im Bundesforum einbringen.
 
 

 
 
 
 
 
 
:: Marc Gärtner, Jahrgang 1970, ist Referent für internationale Gleichstellungspolitik beim Bundesforum Männer. Er studierte Geschichte, Kulturwissenschaft und Soziologie. 2012 promovierte er an der FU Berlin mit einer Arbeit über Männer und die betrieblichen Bedingungen ihrer Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Seit den 1990er Jahren beschäftigt er sich aktiv – politisch, wissenschaftlich und gesellschaftlich – mit Fragen von Mannsein und Männlichkeit(en). Seit 2001 forscht, lehrt und berät er schwerpunktmäßig zu den Themen Arbeit, Organisation und Geschlecht. Zunächst führte er beim Institut Dissens erste Studien zu Männern und Gleichstellung im Betrieb durch (Work Changes Gender, 2005, und Fostering Caring Masculinities, 2006). 2012 war er an der ersten umfassenden, europaweiten Vergleichsstudie zur Rolle von Männern in Gleichstellungsprozessen beteiligt. 2012-16 führte er in Kooperation mit der EAF Berlin betriebliche Projekte zu Führung, Vereinbarkeit. Diversität und Gleichstellung durch, u.a. Karriere mit Kindern und FleXship. 2017-22 forschte er beim Grazer Institut für Männer- und Geschlechterforschung. Er ist Vorstandsmitglied der EAF Berlin und kooperiert mit Organisationen aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und NGOs in Deutschland, Österreich und der EU. Regelmäßig publiziert er zu Themen wie Diversity Management, Work/Life-Fragen und Organisationen. Außerdem ist er (Co)Autor diverser Publikationen zum Thema Antifeminismus, u.a. im Bereich der Wissenschaftskritik. – Kontakt: gaertner@bundesforum-maenner.de.

Alles ist zu viel

Ein Brief von Herrn H., die Nachwirkungen von Corona und warum wir alle so dünnhäutig sind.

viele Keulen, Ringe, Pömpel und eine Puppe aus der Sesamstraße werden in den Himmel geworfen

Text: Frank Keil
Foto: pylonautin, photocase.de

 
Herr H. hat mir geschrieben, er schreibt mir einmal im Jahr, stets zwischen Ende Juli und Anfang August. Seinem Brief liegt dann die von ihm abgezeichnete rote Zählerkarte und die Abrechnung bei, wie viel für Strom ich ihm diesmal überweisen muss, die Beträge schwanken zwischen 15 und maximal 30 Euro. So viel an Strom habe ich dann in dem betreffenden Jahr verbraucht, für den elektrischen Rasenmäher, für die elektrische Heckenschere, für ein wenig Licht am Abend, wenn es Herbst wird oder noch nicht Sommer ist, für meinen Laptop, denn in meinem zugewucherten Kleingarten im Norden der Stadt fahre ich gerne und am liebsten zum Schreiben. Es gibt dort kein Wlan, der Handy-Empfang ist schlecht, ich habe meine Ruhe und kann an meinen Sätzen feilen oder auf der Suche nach Eingebung kreativ in den Himmel starren.

Am 1. Juli eines jeden Jahres ist der Termin zum Ablesen des Stromzählers. Man schaut sich die Ziffern auf dem Stromzähler an, trägt sie in die Karte ein, dann geht man zu Herrn H.‘s akkurat bepflanzter Parzelle, wo an der Eingangspforte ein kleiner, blecherner Briefkasten hängt, und man wirft die ausgefüllte Zählerkarte dort hinein. Und Herr H. rechnet dann aus, was man diesmal zu bezahlen hat, so ist der Ablauf. Es ist eigentlich ganz einfach und nicht weiter kompliziert. Nur – ist man nicht unbedingt am 1. Juli in seiner Parzelle. Und wenn, hat man vielleicht seine Karte zuhause gelassen (bei mir liegt sie in der Schublade meines Schreibtisches, ich brauche für die wichtigen Dinge einen festen Ort). Oder man vergisst es einfach, Alltagsmensch der man ist. Denkt sich: ‚Ach, das mache ich am Wochenende‘. Und dann war Wochenende und irgendwie ist man nicht dazugekommen, man hat sich um irgendetwas anderes gekümmert, während Herr H. auf die Karte wartet. Herr H. ist für die Parzellen der Nummern 82 bis 132 zuständig, er wartet also auf die Zählerkarten von 50 Kleingärtnern und Kleingärtnerinnen.

Herr H. schreibt: »In diesem Abrechnungsjahr fehlten mir am 17.7.2023 noch 21 Zählerkarten, das sind 42%, ein trauriger Rekord!« Überhaupt schwappt einem aus dem kurzen Brief, der diesmal der zurückgesandten Zählerkarte beiliegt, sehr viel mühsam unterdrückter Ärger entgegen. »Vielleicht klappt es ja beim nächsten Termin besser«, schließt er leicht resigniert.

Zufällig (wenn es Zufälle gibt, eine Frage für sich) trudelt Herrn H.‘s Brief ein, da lese ich gerade einen Essay von Klaus Hurrelmann in der »Süddeutschen Zeitung«. Ich habe einiges von ihm während meines Studiums gelesen, was immer klug und bedenkenswert war. Hurrelmann ist salopp gesagt der Erfinder der »Shell-Jugend-Studie«, die man getrost als wegweisend bezeichnen darf. Mittlerweile ist er 79 Jahre alt und noch immer forschend tätig, etwa mit der Nachfolge-Studie »Jugend in Deutschland«. In seinem Essay schlägt er einen weiten Bogen vom aktuellen Umfrage-Erfolg der AfD über die Siegeszüge der Rechtspopulisten in diversen Ländern und Regionen hin zum schwachen Bild der Ampel-Koalition und weiter geht es zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie. Er konstatiert eine weitverbreitete pessimistische Stimmung in der Bevölkerung; Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit hätten sich festgesetzt und würden nicht weichen. Und eine Krise jage die andere. Vielen ist vieles zu viel. Er schreibt: »Viele Menschen aller Altersgruppen sind erschöpft, am Rande ihrer psychischen Kräfte. Sie bräuchten dringend Ruhe und Schonung, um sich zu regenerieren und ihre ‚Freudlosigkeit‘ zu überwinden. Genau das aber ist ihnen nicht möglich.« Und so würden sich politisch wie im Privaten immer mehr die Kräfte durchsetzen, die auf komplizierte Fragen behaupten einfache Antworten zu wissen, denen man nur folgen müsse und dann sei endlich Ruhe und Schutz vor allem.

Und er entdeckt Anzeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung, der Einzelnen wie der bundesdeutschen Gesellschaft generell. Natürlich ist ihm bewusst, dass es nicht unheikel ist, eine am Ende psychiatrische Diagnose auf die Gesellschaft und ihre einzelnen Felder per se anzuwenden. »Man muss mit der Metapher der posttraumatischen Belastungsstörung vorsichtig sein, das sehe ich auch. Aber meine Idee ist ja nicht, diese Menschen zu pathologisieren, sondern zu zeigen, dass Politik mit dieser nachvollziehbaren Verunsicherung und Orientierungslosigkeit der Menschen umgehen muss. Und das nicht nur rational«, sagt er in einem nachfolgenden Interview zu seinen Überlegungen in der »taz«. Er sagt weiter: »Alle Erfahrungen aus der Psychiatrie sagen, dass eine posttraumatische Belastungsstörung heilbar ist. Das braucht Zeit, der wichtigste Schritt ist, wieder die Kontrolle über das eigene Leben zu gewinnen.« Und: »Dazu muss ich das Trauma, das mich umgeworfen hat, verstehen. Ich muss anerkennen, dass es jetzt Bestandteil meines Lebens ist und ich damit leben muss.«

Ich kann damit viel anfangen. Treffe ich mich mit Freunden, Freundinnen, Bekannten oder Kolleg*innen, sprechen wir bald über Corona, obwohl das doch eigentlich so lange her ist, aber wann war Corona noch mal genau und wie waren die einzelnen Phasen? Wir erzählen uns, wie schnell uns etwas aus der Fassung bringt, wie dünnhäutig wir geworden sind und auch, dass wir uns regelrecht zwingen müssen, wieder mehr unter Leute zu gehen, auf Partys und Feste. Und dass irgendwie kein Ende in Sicht ist (da sind wir dann meistens bei Donald Trump angekommen und sagen gleichzeitig Sätze wie »Ist doch schlimm, dass dieser Arsch uns so beschäftigt, das ist doch nicht okay, oder?«). Und wir listen auf, was uns fassungslos und wütend macht, was nichts anderes ist als eine Umschreibung dafür, wie hilflos und ausgeliefert wir uns fühlen: dem nicht endenden Krieg in der Mitte Europas gegenüber, die längst gekippte Stimmung in weiten Teilen Ostdeutschlands, die immer härter werdende Politik gegenüber Geflüchteten (heute morgen wurde im Radio der tunesische Innenminister zitiert, dass es stimme, dass man in seinem Land afrikanische Geflüchtete zurückschicke und in der Wüste aussetze, aber es seien nur wenige, also nicht viele, und die Toten, die man entdeckt habe, seien nicht auf tunesischem Staatsgebiet aufgefunden worden) und vielleicht ist ja auch dieser Text wenigstens zum Teil von einer KI geschrieben worden, die nächste, noch gar nicht einzuschätzende Bedrohung nicht nur für Menschen meiner Zunft. Und schaue ich ganz für mich in die wirklich gute Pflegeeinrichtung meiner bald 90-jährigen Mutter und wie man dort mit dem Personalmangel und den monatlich steigenden Kosten kämpft und denke ich dann an mein Älterwerden, oh je …

Oder vor zwei Tagen auf einer Redaktionskonferenz; wir kennen uns dort alle gut und sind uns recht vertraut: Ein Kollege erzählte, er schaue abends keine Nachrichten mehr. Nicht die »Tagesthemen«, nicht das »Heute-Journal«. Nicht aus Prinzip oder so; nicht aus Misstrauen gegenüber den Medien, was man manchmal zu hören bekommt. Sondern sozusagen aus dem Gegenteil heraus: Die ja fundierte und ausführliche Berichterstattung über den Krieg gegen die Ukraine, die derzeit und bis auf weiteres kaum absehbaren Folgen der Klimakrise, die lokalen Kriege und politischen Krisen in allen Teilen der Welt, die gesellschaftliche Spaltung bei uns, dazu das Zögern der Politik, er wolle gerade das nicht mehr sehen. Er könne nicht mehr. Er komme selbst nicht mehr aus dem Krisen-Modus heraus, es mache ihn nur hilflos und wem sei damit geholfen. Hurrelmann sagt dazu: »Wichtig ist dabei, dass ich nicht ständig an das Ohnmachtsgefühl erinnert werde.« Und so gesehen macht es der Kollege für sich genau richtig.

Herr H. hat seine Art gefunden, seinem Ärger auf die Welt, seinem Frust und wohl auch seiner Enttäuschung Luft zu verschaffen. Er berechnet uns Kleingärtner*nnen diesmal je eine »erhöhte Aufwandpauschale« für den »erheblichen Mehraufwand« in Höhe von vier Euro. Das geht in Ordnung, ich habe ihm gleich heute morgen als allererstes das Geld überwiesen. Jede und jeder braucht derzeit unbedingt sein Ventil.

Voll ungelogen

Männer, das sind … tja, was? Und warum sind sie so seltsam und so schwierig und was man so hört: auch so verschlossen? Und los geht die Suche.

ein Mann kämpft gegen fliegende Zeitungen an

Text: Frank Keil
Foto: kallejipp, photocase.de

 
Männerbuch der Woche, 31te KW. – Die literarisch grundierte Anthologie »Oh Boy« versammelt sehr intensiv so kluge wie offene Entwürfe von – hoppla! – Männlichkeit*en.

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Ständiges Auf und Ab

Der Historiker Benno Gammerl erzählt die wechselhafte Geschichte von Homo- und Transsexuellen in Deutschland.

Wand mit Farbverläufen

Text: Thomas Gesterkamp
Foto: Godjes, photocase.de

 
Im Januar 2023 standen bei der jährlichen Holocaust-Gedenkveranstaltung des Deutschen Bundestages zum ersten Mal jene Opfer im Mittelpunkt, die von den Nationalsozialisten wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgt wurden. Dieser erinnerungspolitische Erfolg verdankt sich dem beharrlichen Insistieren queerer Bewegungen. Er musste gegen teils heftige Widerstände vor allem konservativer Abgeordneter durchgesetzt werden – und bedeutete einen weiteren Schritt, der zur gesellschaftlichen Akzeptanz von geschlechtlicher Vielfalt und gender-nonkonformer Lebensweisen beigetragen hat …

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»Verlässlichkeit und der gemeinsame Einsatz gegen soziale Ungerechtigkeiten«

Der MännerWegeFragebogen – beantwortet von Dirk Bange

Baum im Nebel
Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: tequila sunrise, photocase.de | privat

 
Dirk, was war oder ist dein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen-, Männer- und Väterthemen? Was dein politischer und fachlicher Zugang?
Ich bin über die sexualisierte Gewalt an Kindern, insbesondere an Jungen, zur Jungen- und Männerarbeit gekommen. Ende der 1980er Jahre hat sich, ausgehend von Zartbitter Köln, mehrere Jahre lang eine Gruppe von Fachmännern zum so genannten »Männerwochenende« in Wuppertal getroffen. Wir haben dort von der Jungensozialisation über die Sexualität von Männern sehr vieles sehr offen und persönlich diskutiert. Unser Ziel war es, ausgehend von unseren eigenen biographischen Erfahrungen, den gesellschaftlichen Blick auf die Jungen zu verändern und auf ihre »schwachen Seiten« aufmerksam zu machen. Zu der Gruppe, die sich neben dem Wochenende in Wuppertal regelmäßig bei Zartbitter in Köln getroffen hat, gehörten auch Rainer Neutzling und Dieter Schnack. Die beiden veröffentlichten im Jahr 1990 das bis heute für mich wichtige Buch »Kleine Helden in Not: Jungen auf der Suche nach Männlichkeit«. Wir alle haben damals gehofft, dass sich eine Männerbewegung bildet, die gesellschaftliche Veränderungen erkämpfen würde. Leider ist es dazu nur in Ansätzen gekommen.

Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen, Männern und Vätern?
Der Einsatz gegen sexualisierte Gewalt an Kindern – insbesondere Jungen – ist mir bis heute ein großes Anliegen. Gemeinsam mit vielen Kollegen haben wir hier sicher einiges zum Besseren bewegt. Daneben war mir die Veränderung der Väterrolle stets wichtig. Das ergibt sich schon aus meinen Aufgaben als Abteilungsleiter für Familie und Kindertagesbetreuung in der Hamburger Sozialbehörde, aber natürlich auch als Vater zweier Töchter.

Wie hat sich dein Engagement für Jungen, Männer und Väter entwickelt, ggf. verändert?
Mir liegen die Themen weiterhin am Herzen und ich versuche, so viel Zeit wie möglich dafür aufzuwenden. Wenn ich dann sehe, dass sich etwas zum Positiven verändert, motiviert mich das, weiterzumachen.

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche/historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Die Aufdeckung der Missbrauchsskandale Anfang der 2010er-Jahre war sehr wichtig. Sie hat dazu geführt, dass insbesondere die sexualisierte Gewalt an Jungen mehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit und der Politik gerückt ist. Im Kontext der stärkeren partnerschaftlichen Aufteilung der Familien- und Erwerbsarbeit war die Einführung des Elterngeld Plus mit dem Partnerschaftsbonus am 01. Januar 2015 ein Meilenstein.

Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deinen privaten oder beruflichen Beziehungen?
Absolut wichtig war es für mich, dass ich immer wieder Mitstreiter/innen getroffen habe, die sich unermüdlich gegen die sexualisierte Gewalt und für eine veränderte Mädchen- und Jungensozialisation eingesetzt haben. Ich kann nicht alle aufzählen, möchte aber exemplarisch ein paar Namen nennen, da wir einen langen Weg gemeinsam gegangen sind: Ursula Enders, Jörg Fegert, Barbara Kavemann und Thomas Schlingmann waren für mich wichtige Wegbegleiter/innen.

Drei Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und Beziehungen zu anderen ausmachen?
Verlässlichkeit, Beharrungsvermögen, an Fakten orientiert argumentieren und nicht zuletzt bin ich auch für den einen oder anderen Spaß zu haben.

Was ist für dich »Erfolg« in deiner Auseinandersetzung mit Jungen-, Männer- oder Väterthemen? Hast du Beispiele?
Ein Erfolg war sicher, dass viele Väter ihre Rolle heute anders leben als in vergangenen Zeiten. Dabei möchte ich aber nicht verschweigen, dass hier – wie z.B. bei den Partnerschaftsmonaten – noch reichlich Luft nach oben ist. Für mich sehr, sehr wichtig ist, dass Jungen, denen sexualisierte Gewalt widerfahren ist, sich heute öffnen und dann auch Hilfe bekommen können.

Was gibt dir persönlich Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen?
Wenn ich den Eindruck habe, dass sich durch meine Arbeit die Situation für Kinder verbessert. Ich habe in Berlin sehr intensiv daran mitgewirkt, dass es ab 2026 für die 1. Klasse und dann Jahr für Jahr aufwachsend bis zur 4. Klasse einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule gibt. Dies könnte zu mehr Bildungsgerechtigkeit führen, und wenn dann auch noch die Themen Mädchen- und Jungensozialisation an den Schulen mehr Gewicht bekommen, wäre das doch fein.

Was ist dir (mit) gelungen, worauf bist du (zusammen mit anderen) vielleicht auch stolz?
Ich habe ja schon ein paar Beispiele genannt. Deshalb möchte ich ergänzend nur auf den Fachartikel »Sexuelle Erregung als Faktor der Verunsicherung sexuell missbrauchter Jungen« von Thomas Schlingmann und mir verweisen. Durch ihn ist es uns gelungen, ein für viele sexuell missbrauchte Jungen belastendes Thema bekannter zu machen. Ich bin von Betroffenen mehrfach darauf angesprochen worden, dass ihnen das sehr geholfen hat.

Mit welchen Institutionen und Personen warst du gerne beruflich oder privat verbunden oder bist es noch?
Ich bin bis heute mit Zartbitter Köln bzw. Ursula Enders eng verbunden. Wichtig war auch meine Zeit im Fachbeirat beim UBSKM und die gemeinsamen Treffen mit dem Betroffenenrat. Mit der neuen UBSKM Kerstin Claus arbeite ich sehr vertrauensvoll zusammen. Nicht zuletzt möchte ich aber auch meine Kollegen und Kolleginnen aus der Sozialbehörde nennen. Mit vielen von ihnen verbindet mich ein enges und von Vertrauen getragenes Verhältnis.

Was hat die Männer/* ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast?
Verlässlichkeit und der gemeinsame Einsatz gegen soziale Ungerechtigkeiten. Entscheidend dabei war und ist immer das gegenseitige Vertrauen. Und aus heutiger Sicht muss ich sagen, dass ich da fast niemals enttäuscht worden bin.

Hast du eine Lebensphilosophie, ggf. ein Lebensmotto?
Immer weitermachen, nicht aufgegeben und das Glas ist immer fast voll.

Wo siehst du Brüche in deinen beruflichen oder freundschaftlichen Beziehungen? Wodurch wurden diese verursacht?
Mein beruflicher Wechsel von Zartbitter Köln in die Hamburger Sozialbehörde war sicher ein Bruch. Ich kam aus der Praxis in die Verwaltung und das macht schon einen Unterschied aus. Ich habe aber immer den Kontakt zur Basis gehalten und versucht, ihre Perspektive in die Kinder- und Jugendpolitik einzubringen. Gleichzeitig habe ich stets wissenschaftlich gearbeitet und dadurch eine dritte Perspektive gehabt, die für meine Arbeit sehr bereichernd war und ist.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis vom Umgang mit Jungen-, Männer- und Väterthemen?
Die gesellschaftlichen Widerstände gegen ein anderes Jungen- und Männerbild sind immer noch enorm. Das deutet daraufhin, dass ihre Veränderung an den Kern unserer Gesellschaft rührt und die bestehenden Gesellschaftsstrukturen zumindest teilweise in Frage stellt.

Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deiner Arbeit an?
Es werden immer noch Kinder sexuell missbraucht und sie haben sehr häufig lange unter den Folgen zu leiden. Gleiches gilt für die Jungensozialisation, die weiterhin viel Unglück produziert. Hier etwas zu verändern, ist und bleibt eine starke Antriebsfeder für mich.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest? Und was möchtest du gegen Ende deines Lebens erreicht haben?
Da gibt es viele. Ich verzichte deshalb darauf ein einzelnes zu benennen.

Eine Anmerkung, die du gerne noch machen möchtest?
Die Zusammenarbeit mit Dir, Alexander, war immer klasse. Als ich die Antworten auf Deine Fragen entwickelt habe, habe ich mir ein altes Heft von »Switchboard – Zeitschrift für Jungen- und Männerarbeit« herausgesucht und angeschaut. Da wurde mir klar, dass Du einer von den Männern bist, mit dem ich einen langen gemeinsamen Weg beschritten habe. Ich möchte Dir an dieser Stelle dafür und für Deinen Einsatz für Jungen und Männer stellvertretend danken.
 
 

 
 
 
 
 
 
:: Dirk Bange, Jahrgang 1964, lebt mit seiner Frau am Rande von Hamburg und ist Vater zweier Töchter. Er ist promovierter Erziehungswissenschaftler und arbeitet bei der Hamburger Sozialbehörde als kommissarischer Leiter des Amtes für Familie. Seit mehr als 30 Jahren setzt er sich gegen sexualisierte Gewalt an Kindern und für ein verändertes Jungenbild ein. Er veröffentlichte sechs Bücher und schrieb mehr als 100 Fachaufsätze insbesondere zum Kinderschutz und zu anderen Themen der Kinder- und Jugendhilfe.

»Der Anspruch sollte sein, etwas zu tun, was einem Jungen in seiner Situation hilft.«

Der MännerWegeFragebogen – beantwortet von Josef Riederle

drei junge Männer vor dramatischem Himmel

Leitfragen: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: e.kat, photocase.de | privat

 
Nach einem Verwaltungsstudium habe ich mit 29 Jahren noch Sozialpädagogik studiert. Dann begann im April 1991 der Aufbau des »Männerzentrum Kiel e.V.«, in welchem ich über 4 Jahre lang leitend aktiv war. Und 1992 absolvierte ich die Jungenarbeiter-Weiterbildung (antisexistische Jungenarbeit) an der Heimvolkshochschule Alte Molkerei Frille, um dann 1995 KRAFTPROTZ Bildungsinstitut für Jungen und Männer zu gründen, das ich 2020 an meinen Nachfolger übergeben habe. Zusammen: ein 30 Jahre langer Weg, der davon geprägt war, dass es für die Belange von Jungen und Männern kaum Verständnis gab. Die notwendige Frauenemanzipationsbewegung hat eine Sichtweise auf Jungen und Männer als störende, zerstörende, sexistische Wesen, die von der patriarchalen Dividende profitieren, entwickelt. Eine defizitorientierte Wahrnehmung, die nur einen Teil der männlichen Wirklichkeit abbildete und nicht erkannte, dass Jungen zu Männern gemacht werden. So wurden z.B. die Angebote der Jugendzentren von Jungs wahrgenommen. Aber niemand fragte danach, ob diese Angebote die Entwicklung von Jungs hin zu verantwortlicher Männlichkeit fördern oder ein tradiertes Männlichkeitsstereotyp bedienen.

1990 habe ich eine Veranstaltung zu Angsträumen in Kiel besucht und dort gab es eine Arbeitsgruppe nur für Männer. Die Inhalte der AG weiß ich nicht mehr, aber ich erinnere mich gut, wie beschämend ich es fand, dass die veranstaltende Frauenorganisation für uns Männer ein Forum schaffen musste, damit wir überhaupt mal zusammenkamen. Das war der entscheidende Funke, um zusammen mit anderen Männern das »Männerzentrum Kiel e.V.« zu gründen. Der Leitsatz für Jungenarbeiter: »Du selbst bist Dein wichtigstes Werkzeug!« macht deutlich, dass jeder, der mit Jungs arbeiten will, auch seine eigene Biografie, seine Werte und sein Mann-Sein in einer patriarchalen Gesellschaft reflektieren sollte. Denn der »heimliche Lehrplan« prägt das eigene Wirken mit.

Ich habe die Haltung, die ein Mensch berücksichtigen sollte, der mit Menschen arbeitet, in vier Sätzen ausgedrückt, die als Botschaft beim Gegenüber ankommen sollten:
1. Ich sehe Dich: Ich bin da. Ich interessiere mich für Dich. Ich bin bereit, hinter Deine Fassade zu schauen und Dich bei Deinem Blick hinter Deine Fassade zu begleiten.
2. Du bist okay: Die persönliche Wertschätzung als Mensch, den persönlichen Respekt hat jeder verdient. Aber nicht alles, was jemand macht, ist okay. Das konkrete Verhalten darf und soll kritisch reflektiert werden, doch die Person wird respektvoll behandelt.
3. Du gehörst dazu: Du bist ein Junge und daher gehörst Du dazu. Du bist ein Mann und daher gehörst Du dazu. Du musst nichts dafür tun, musst nicht gigantisch sein, Dich nicht besser oder größer darstellen als Du bist. So wie Du bist, gehörst Du dazu und genügst.
4. Ich bleibe: Ich halte Dich aus. Ich breche nicht zusammen, wenn Du deine Wut und Deinen Frust zeigst. Ich bin der Scheuerpfahl, an dem Du Dich reiben kannst. Ich konfrontiere Dich mit mir und mit meinen Werten und Bedürfnissen.

Ich habe versucht, Jungs und Männern zu verdeutlichen, dass alles, was sie empfinden, zu einem gesunden Mannsein gehört. Ich mag es nicht, von femininen Anteilen zu sprechen. Es ist alles ein männlicher Anteil eines Mannes. Alle Anteile sind gleich wertvoll, alle sind wichtige Teile eines ganzen Mannes.
Ohnmacht und Hilflosigkeit sind Empfindungen, die wohl keiner gerne spürt. Doch als Jungenarbeiter und als pädagogisch Wirkender gehören sie zum Alltag. Damit meine ich nicht, dass man nichts tun könnte. Doch der Anspruch sollte sein, etwas zu tun, was förderlich ist, was einem Jungen in seiner Situation hilft. Und da war ich oft hilflos, weil ich nicht wusste, was jetzt wirklich hilft und nicht nur einer schwierigen Situation ein vorläufiges Ende bereitet.

Ich habe in all den Jahren viele positive Rückmeldungen bekommen und weiß, dass der Arbeitsansatz der KampfESspiele® viele Frauen und Männer in ihrem beruflichen und privaten Sein gestärkt und geprägt und auch den Blick auf Jungen verändert hat.
Ich fand es immer wichtig, dass Jungen unter Jungen sein dürfen. Geschlechtshomogene Arbeit eröffnet einen Schon- und Gedeihraum zum Wachsen. Und in der Jungenarbeit ist das kein reduziertes Männlichkeitsstereotyp, das angeboten wird, sondern ein vielschichtiges, gefühlvolles, individuelles, kraftvolles, herzliches, lebensbejahendes Bild vom Junge- und Mannsein. Leider wird dies durch »moderne« Sichtweisen und Theorien in Frage gestellt und endlose Diskussionen haben mich ermüdet.

Spannend fand ich in all den Jahren die Zusammenarbeit mit der Mädchenarbeit, und die Berührungsängste der Anfangszeiten haben sich längst in eine achtsame, wertschätzende, auch sich ergänzende Akzeptanz entwickelt. Ich war nie der Netzwerker, der sich in lokalen und nationalen Arbeitskreisen wohl gefühlt hat. Ich glaube, ich habe manch einen Kollegen und manch eine Kollegin enttäuscht, wenn ich nach kurzer Zeit mehr oder weniger lautlos nicht mehr erschienen bin.

Der Kooperationspartner, der mich die letzten 20 Jahre am meisten begleitet und inspiriert hat, ist der Schweizer Verein Respect!. Vor allem Urban Brühwiler ist mir ein so geschätzter und freundschaftlicher Kollege geworden, und ich bin dankbar für jeden Tag, den ich mit ihm zusammenarbeiten durfte.

Ich arbeite seit 16 Jahren ehrenamtlich bei Männerpfade mit. Männerpfade unterstützt Männer dabei, ihr wahres Selbst zu entdecken und dem Diktat des Egos zu entkommen. Dort arbeite ich auch seit zwei Jahren in einer Ältesten-Werkstatt mit. Zunächst einmal sprechen wir von Herzen und hören einander mit offenem Herzen zu. Die Wege und Herangehensweisen an das Altern sind so unterschiedlich. Ziel dieser Werkstatt ist es auch, herauszufinden, was das Älteste-Sein in unserer Gesellschaft ist und wie es wirken kann.
Ein intensives und glückliches Leben im Angesicht des körperlichen und psychischen Abbaus, im Angesicht des sicheren Todes und der eventuell vielen Jahre, die Mann nach dem Ende der Erwerbsphase noch zu leben hat.

Ich habe mal einen Satz aufgeschrieben, der mich weiter begleitet: »Wer mehr sein will, muss lassen können.« Darum geht es mir jetzt auch mehr. Loslassen und Dasein. Und durch das Dasein auch ansprechbar sein.
Ich will mir noch viele Fragen anhören und keine Antworten darauf geben, sondern lediglich kleine Bemerkungen, die dazu führen können, dass sich die Frage weiterentwickelt.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
:: Josef Riederle, Jahrgang 1959, Kiel.

Man geht nicht weg, man bleibt

Es ist nicht selbstverständlich, dass man sein Leben so lebt, wie man wollte. Das sollte man sich zuweilen vor Augen führen.

Text: Frank Keil
Foto: Don Espresso, photocase.de

Männerbuch der Woche, 29te KW. – Kent Haruf erzählt in seinem nun übersetzten Erstling »Das Band, das uns hält« von einer unglückseligen Frau und einem noch unglückseligeren Mann und auch sonst haben es seine Helden entschieden schwer.

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