Und dann wird alles anders

Plätschert es nicht einfach so dahin, das Leben? Mit Höhen, Tiefen, Verlusten, Gewinnen? Es sei denn, man schaut sich selbst einmal genauer beim Leben erleben zu.

Mann sitzt schreibend in einem lost place

Text: Frank Keil
Foto: JoeEsco, photocase.de

Männerbuch der Woche, 6te KW. – Peter Stamm lässt in seinem neuen Roman »In einer dunkelblauen Stunde« virtuos eine glücklose Filmemacherin nach einem Mann, dem Leben und der Liebe suchen.

Zur Rezension

Landjugend im Jugendland

Die wunderbare YouTube-Serie »Jugendland« bringt uns Sarahs, Timos und Renés Welten aus Dörfern wie Eicklingen und Uetze näher.

Junger Mann arbeitet auf dem Land an einer Maschine

Text: Frank Keil
Szenenbild: NDR | heyfilm | Jannis Keil

… aber auch Gelegenheit mal zu klären, was man vom anderen will und was das ist: Liebe. Was das ist: Vertrauen. Oder: Zukunft. Sarah sieht ihren Freund an, der sich windet, der sich vor einer klaren Aussage drückt, und dann sagt Sarah den wunderbar-klugen Satz: »Du hast sowas wie einen Mund im Gesicht, damit kann man so Töne von sich geben, das nennt man Sprechen oder Kommunizieren.« Johannes aber will genau das nicht und also sagt er – und findet das wahrscheinlich sehr lässig: »Oh, du kennst solche Fachwörter?« Und er zieht dabei die Stimme hoch. Sarah nickt bejahend: »Ob du es mir glaubst, oder …« – »Fällt mir schwer, aber …«, versucht es Johannes. »Mir fällt auch so einiges schwer«, sagt Sarah. Dann lässt sie ihn stehen…
Davon mehr in Folge 1, von wo es nicht weit ist zu den anderen Folgen, aber es gibt auch einen Trailer.

Zur Filmwürdigung.

»Da war noch was«

Filmpremieren über sexualisierte Gewalt gegen Jungen – in Wuppertal am 30. September

Mann hält sich die Hand vors Gesicht

Text: Alexander Bentheim (Redaktion)
Foto: altanaka, photocase.de

Detlev kommt mit drei Jahren ins Kinderheim der Evangelischen Brüdergemeinde Korntal. In den folgenden 10 Jahren wird er – wie mehrere hundert andere Kinder in diesem Heim – immer wieder beleidigt, geschlagen, vergewaltigt und beschädigt von mehreren Täterinnen und Tätern. Erst viele Jahrzehnte später ist er so weit, die Gewalt, die ihm angetan wurde, therapeutisch aufzuarbeiten und zusammen mit anderen Opfern Schuldeingeständnisse und Entschädigungen einzufordern. Aus einem Opfer, dem die Würde genommen wurde, wird ein aktiver Überlebender, der für die Rechte der Betroffenen kämpft.
Michael wird als Kind erstmals während einer Geburtstagsfeier von einem Familienfreund missbraucht. Der zweite Täter ist ein katholischer Priester des Don Bosco-Jugendzentrums, der vorgibt, den »schwierigen« Jungen zu therapieren, und ihn dabei immer wieder sexuell missbraucht und vergewaltigt. Als Teenager ist ein Hausfreund der dritte Täter. Michael fühlt sich selbst schuldig am Missbrauch und isst sich eine Schutzschicht an. Die Therapien haben ihn gerettet, sagt der schwule Mann heute.
Ingo wächst Ende der 60er Jahre in Berlin-Kreuzberg auf. Der Fotograf von nebenan, dem er sein Vertrauen schenkt, missbraucht ihn und setzt ihn mit sexuellen Fotos unter Druck. Von einem zweiten Täter wird er dann auf den Kinderstrich am Bahnhof-Zoo geschickt. Mit Selbstverletzungen, Drogen und Alkohol versucht er sich abzuschirmen und zu überleben. Erst viele Jahre später kann er darüber reden und hilft nun anderen Betroffenen in der Selbsthilfe.
Hermann wird in seiner Kindheit zuhause von seinem Vater jahrelang missbraucht. Über langjährige Therapien versucht er, den schwierigen Weg aus der Einsamkeit zurück ins Leben und in Liebesbeziehungen zu finden.
Uwe wird über viele Jahre im Kinder- und Jugendheim in Weißwasser in der DDR-Zeit durch ältere jugendliche Heimbewohner drangsaliert und sexuell missbraucht. Viele Jahre später gründet er eine eigene Selbsthilfegruppe.

Jungen und Männer sind in großer Zahl von sexualisierter Gewalt in verschiedenster Weise betroffen. Viele Betroffene schweigen aus Scham lange über das, was ihnen angetan wurde. In der Dokumentarfilmreihe »Da war noch was« erzählen Männer im Alter zwischen 19 und 57 Jahren von ihren Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch, Übergriffen und Vergewaltigungen in ihrer Kindheit und Jugend durch Familienangehörige, im Heim, in der Jugendarbeit, von katholischen Priestern oder evangelischen Mitarbeitern – Menschen, die das Vertrauen der Jungen für ihren Missbrauch böse ausnutzten und sie damit nachhaltig verletzten.

»Ich bin nicht schuld – ich konnte mich nicht wehren!« Die Betroffenen beschreiben, welche physischen und psychischen Folgen die Taten für sie hatten und wer oder was ihnen geholfen hat, mit ihren Verletzungen wieder zurück ins Leben zu finden und ihre Ohnmachtsituation als Opfer zu überwinden. Weitere Themen sind, wie die Täter das Vertrauen der Betroffenen erschlichen und sie manipulierten, wie die Polizei, Gerichte und Täterorganisationen mit ihnen als Opfer umgingen, die erschwerte Entwicklung ihrer Identität als Mann sowie der Umgang in der Familie, unter Freunden und in Liebesbeziehungen.

Die Filmreihe wurde zu Aufklärungszwecken für die Präventionsarbeit produziert, um den Betroffenen eine Stimme zu geben, zur Unterstützung von Jungen und Männern mit ähnlichen Erfahrungen und zur Sensibilisierung gegenüber Jungen und Männern. »Das Wichtigste ist: Reden!«, sagt ein Betroffener am Ende des Films.

Premiere: 30.09.2019, 19 Uhr | Ort: Rex Filmtheater Wuppertal (Kipdorf 29) | Eintritt: frei für junge Menschen bis 27 Jahre und Personen, die Leistungen nach dem SGB II / SGB XII erhalten oder einen Wuppertalpass besitzen. Alle anderen zahlen 4 Euro | Publikumsdiskussion im Anschluss an die Filmaufführung | Kartenreservierung: Medienprojekt Wuppertal. Dort ist auch eine DVD-Bestellung (Kauf oder Ausleihe; 62 Min. plus Bonus 157 Min., freigegeben ab 12 Jahren) möglich | Zum Trailer | Mehr Infos

Von Soldaten, Torten und immer wieder Vätern

Das 25ste Filmfest Hamburg

Drei Männer im Auto - Szene aus dem Film Arrhythmia

Text: Frank Keil
Foto: Filmfest Hamburg, Szene aus »Arrhythmia« von Boris Khlebnikov

Ein Paradies für Cineasten: Zum 25sten Mal findet in Hamburg das Filmfest statt – und die MännerWege bieten eine spezielle Auswahl von Filmen, in denen eine bestimme Spezie eine Rolle spielt: Männer. Übrigens ein Filmfestival, das aus irgendeinem Grund nicht den Ruf hat, den es haben sollte, weil es einfach schlicht fabelhaft ist. Weil es gut zehn Tage lang (vom 5.-14. Oktober) Filmproduktionen aus Regionen und Ländern vorstellt, die man sonst kaum zu sehen bekommt. Und weil es interessante Filme denen vorzieht, die vielleicht kommerziell erfolgreicher sein könnten.

Das gesamte Programm und alle Infos sind auf der Seite www.filmfesthamburg.de nachzulesen. Und hier geht es zu unserer Auswahl.

Lob des Schweißes

»Miesten vuoro« – ein mehr als sehenswerter Film über finnische Saunen, schwitzende Männer, Erzählungen aus dem Leben und den Trost, den es manchmal braucht.

Eine Hütte vor weitem Horizont

Text: Frank Keil
Foto: temperclayfilm

Finnland ist nicht nur das Land des Tangos, damit der Melancholie und der schweigsamen Männer: Finnland ist auch das Land der Sauna. Der Dokumentarfilm »Miesten vuoro« (dt. »Was Männer sonst nicht zeigen«) erzählt von finnischen Saunen und finnischen Männern und was passiert, wenn sich finnische Männer in finnische Saunen setzen und dort schnörkellos aus ihrem Leben erzählen. Ein Film, der nicht zuletzt auch ein Statement gegen das hektisch-aufdringliche Durcheinanderreden ist, ob bei Facebook, Twitter oder Whatsapp. Denn hier wird noch gesprochen. Persönlich. Wort für Wort. Von Mann zu Mann, sozusagen.

Zur Filmbetrachung nebst Publikumsgespräch mit Regisseur Mika Hotakainen

Wolken ziehen vorüber

Eine Radio-Nacht über das filmische Werk des finnischen Meisterregisseurs Aki Kaurismäki – von Josef Schnelle und Rita Höhne am 30. April im DLF

Zwei Sessel im Schnee

Text: Alexander Bentheim (Redaktion)
Foto: PLINK, photocase.de

Treffen sich zwei Finnen in einer Bar. »Prost« sagt der eine. Darauf der andere: »Ich bin nicht hergekommen, um zu quatschen.« So wortkarg und sarkastisch ist auch der finnische Filmemacher Aki Kaurismäki. Seit 1980 hat er rund 20 Filme gedreht und es sind die schönsten Autorenfilme der letzten Jahre darunter. In »Le Havre« überraschte er mit einem Bekenntnis zur Weltoffenheit der wohl hässlichsten Hafenstadt der Welt. Oder er porträtiert die chronischen Loser: Arbeitslose, Müllmänner, Verzweifelte, schlechte Musiker, Mörder – und schafft es, mit solchen Hauptfiguren grandiose Melodramen zu drehen, die an Stummfilmklassiker früherer Filmepochen anknüpfen. So weiß sich »Das Mädchen aus der Streichholzfabrik« nicht anders zu helfen als mit Rattengift. Im Künstlerelend von »Das Leben der Bohème« dagegen zählt nur der neueste Fisch, auch wenn er überraschenderweise zwei Köpfe hat.
Aki Kaurismäki ist Realist und Visionär zugleich. Mit finnischen Tangos und Punkmusik seiner Hausband »Leningrad Cowboys« mit ihren charakteristischen Haartollen hat Kaurismäki ein Kino zwischen Kult und poetischem Realismus erfunden, dem eine lange Radio-Nacht gewidmet ist.

Sendung: Samstag, 30.4.16, 23:05h, Deutschlandfunk, Reihe »Lange Nacht« (180 Min.)

Vaterschaft als Zeitenwende

Zweiteilige Doku von Tanja Reinhard und Jörg Laaks über »Väter – die neuen Helden« am 11.1. und 18.1. im WDR-Fernsehen.

Ein Koch bei der Arbeit

Text: Alexander Bentheim (Redaktion nach Sophie Schulenburg, WDR)
Foto: Dieter Jacobi, WDR

Still, aber spürbar lösen die neuen Väter eine Revolution in unserer Gesellschaft aus. Über allem steht eine große Sehnsucht der Väter nach Zeit mit dem Kind. Sie wollen für sich etwas anderes als ihre Väter. Für sie ist die Vaterschaft eine Zeitenwende. Sie würden gerne weniger arbeiten und sind bereit, weniger zu verdienen oder sogar vorübergehend auf die Karriere zu verzichten.

Patrick Krings ist 26 und wird in wenigen Wochen Vater. Seine volle Stelle wird er aufgeben. Er und seine Frau wollen beide genug Zeit für ihr Kind haben. Marcel Schiefer (oben im Bild) ist einer der jüngsten Sterneköche in Deutschland und seit zwei Jahren Vater. Der Düsseldorfer sieht seinen Sohn so gut wie gar nicht, so anspruchsvoll ist es, das Sterne-Restaurant in Düsseldorf zu führen. Muss das alles wirklich sein? Er wird seinen Michelin-Stern abgeben, um mehr Zeit mit seinem Sohn verbringen zu können. Thomas Martha ist Vater einer anderthalbjährigen Tochter und zuständig für Frühstück und zur-Kita-bringen. Seine Tochter ist in der Kita auf dem unternehmenseigenen Campus untergebracht. Und sein Arbeitgeber schafft gerade die Präsenzkultur ab. Wenn er wollte, könnte Thomas Martha die Hälfte der Woche von zuhause arbeiten – ein Idealzustand für den jungen Familienvater.

Neue Aufgaben, neue Herausforderungen, und damit auch neue Rollen: Für heutige Väter ist vieles im Umbruch. Arbeit, Familie und Freizeit sinnvoll miteinander zu verbinden ist ein Balanceakt, es braucht Unterstützung vom Arbeitgeber, von der Politik und im privaten Umfeld. Was ist noch eine klassische Mutteraufgabe? Und was macht Vaterschaft eigentlich mit dem Männerbild? Auch auf dem Arbeitsmarkt bahnt sich eine Zeitenwende an: Einige Unternehmen haben bereits verstanden, dass sie die besten Mitarbeiter nur halten können, wenn sie ihnen auch Angebote für ein familienfreundliches Arbeiten machen. Unternehmen wie Vodafone oder Ergo holen sich Unterstützung durch den Hamburger Unternehmensberater Volker Baisch: Er zeigt Unternehmen, wie sie familienfreundlicher werden können – denn der Wettbewerb um die Väter hat längst begonnen.

Sendungen: Montag, 11.01.16 und 18.01.16, jeweils 22.10h, WDR-Fernsehen, Reihe »Hier und Heute« (30 Min.). Wiederholung jeweils am folgenden Dienstag um 9.45h.

In der Mediathek abrufbar bis Januar 2017: Teil 1 und Teil 2.

»Keiner von euch Spacken wird an mir rumoperieren!«

Viviane Andereggen‘s Kinofilm »Simon sagt auf Wiedersehen zu seiner Vorhaut« spielt mit dem Schauer des Akts der Beschneidung.

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Text: Frank Keil
Foto: element e filmproduktion gmbh

Es gibt Themen, die ploppen plötzlich auf und entfachen aus dem Stand eine wuchtige Debatte – und Jahre später reibt man sich verwundert die Augen, ob der Heftigkeit, an die man sich noch vage erinnert. So war das mit dem Thema »Beschneidung«, das im Jahr 2012 plötzlich die Zeitungsseiten füllte und für turbulente Talkshow-Einlagen sorgte.
Und so ist »Simon sagt auf Wiedersehen zu seiner Vorhaut« denn auch zunächst ein durchaus humorvoller Beitrag auf der Folie der Beschneidungsdebatte (und ein Spielfilm ist kein Dokumentarfilm, sondern wird getragen von ausgedachten Charakteren und konstruierten Begegnungen, die aus verständlichen Gründen nicht unserer Alltagslogik folgen müssen), allerdings stellt sich auf die Dauer der Strecke eine gewisse Abnutzung ein und man schaut immer unbeteiligter den inszenierten Irrungen und Wirrungen zu, in denen sich die Protagonisten verheddern.

Zur Rezension
Zum Trailer

Der Film wurde am 19.11.15 im Sender N3 ausgestrahlt; er ist in der dortigen Mediathek noch bis zum 27.12.15 zu sehen, aus Jugendschutzgründen von 20 Uhr bis 6 Uhr. Der Kinostart folgt.

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Tagung über das Spiel mit Ambivalenz zwischen Generationen in Fernsehserien am 11./12. Dezember 2015 im Deutschen Hygiene-Museum Dresden

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Text: Alexander Bentheim (Redaktion nach Quelle Stiftung DHMD)
Foto: Mrsnikon, photocase.de

In den letzten Jahren sind Fernsehserien zunehmend Gegenstand der Kultur- und Sozialwissenschaften geworden. Als »gesellschaftliche Agenturen« verhandeln serielle Fernsehformate politische, ethische, soziale und ökonomische Fragen. Die Tagung untersucht, wie das Medium Fernsehserie Familie als Instanz und Symbol von Gesellschaft verhandelt und dabei Vaterschaft (und durchaus auch Mutterschaft) inszeniert und reflektiert.

Beiträge gibt es u.a. von
_ Prof. Dr. Lars Koch (Institut für Germanistik, TU Dresden): »In Touch with Tomorrow. Konsolidierungen von Vaterschaft und symbolischer Ordnung nach 9/11«
_ Prof. Dr. Mark Arenhövel (Institut für Politikwissenschaft, TU Dresden): »Family Values in New Mexico. Patriarchale Eskalation in Serie«
_ Prof. Dr. Brigitte Georgi-Findlay (Institut für Anglistik und Amerikanistik, TU Dresden): »Ben Cartwright und andere Väter«
_ Prof. Dr. Christian Schwarke (Institut für Evangelische Theologie, TU Dresden): »Abraham, Agnew, McNulty und die anderen. Väter-Cops und ihre Opfer«
_ Prof. Dr. Katja Kanzler (Institut für Anglistik und Amerikanistik, TU Dresden): »Komische Väter? Das Lustige, das Lächerliche und Vorstellungen von der guten Familie in Sitcoms«
_ Prof. Dr. Anja Besand (Institut für Politikwissenschaft, TU Dresden): »Von einsamen Müttern und verzweifelten Vätern. Fernsehserien als Erziehungsratgeber«

Koordinaten zur Tagung | Ort Deutsches Hygiene-Museum, Lingnerplatz 1, 01069 Dresden, Marta-Fraenkel-Saal | Zeit Fr 11.12., 10.30h bis Sa, 12.12., 17h | Veranstalter Arbeitsgruppe »weiter sehen. Interdisziplinäre Beiträge der Dresdner Serienforschung« in Zusammenarbeit u.a. mit »weiterdenken. Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen« und Evangelische Akademie Meißen | Kosten 15 EUR für Vollzahler, 10 EUR für Ermäßigungsberechtigte | Weitere Infos, vollständiges Programm und Anmeldung (per Mail bis 5.12.15) im Kalender des DHMD.

Ein Berg von einem Mann

Mit »Virgin Mountain« kommt ein wunderbarer Film aus Island in unsere Kinos, der einen Koloss von Mann ganz zart werden lässt.

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Text: Frank Keil
Fotos: Alamode/FilmAgentinnen

Dicke Männer haben keine Lobby. Man bemitleidet sie, man macht Scherze über sie, man hat wirklich ein Verständnis dafür, dass sie es im Leben nicht leicht haben. Und Fúsi ist dick, sehr dick. Er passt eigentlich kaum in den schmalen Transporter, mit dem er auf dem Flughafen von Reykjavik die Koffer und Taschen aus der Abflughalle zum Flugzeug oder vom Flugzeug zurück in die Ankunftshalle bugsiert.

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Was muss man noch über ihn wissen? Er ist vierzig Jahre alt, und er wohnt noch bei seiner Mutter. Er ist auf die eigene schüchterne Weise mit einem kleinen Mädchen in seinem Wohnblock befreundet – was die umherwohnenden Erwachsenen sehr seltsam berührt. Er geht jeden Freitag beim Thailänder essen (immer das selbe), noch dazu hat er ein besonderes Hobby: Er stellt Schlachten des Zweiten Weltkrieges mit Hilfe kleiner Figuren und Modellen von Panzern, Haubitzen und Militär-Lkws nach. Aktuell ist er sehr mit der Schlacht bei Al Alamein beschäftigt – als im Spätherbst 1942 die Panzerverbände Rommels auf die Panzerverbände der 8. Britischen Armee stießen und sich die Wende des Zweiten Weltkrieges abzeichnete.

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Und sonst? Sonst geht Fúsi stoisch seiner Arbeit nach, isst in den Pausen die Brote, die ihm seine Mutter morgens geschmiert hat so wie er auch geduldig die Hänseleien seiner Kollegen erträgt, die es einfach nicht fassen können, dass Fúsi noch nie Sex mit einer Frau gehabt haben könnte.

Doch alles ändert sich, als seine Mutter und deren seltsamer Liebhaber ihm zum Geburtstag einen Tanzkurs schenken. Einen Tanzkurs? Da will Fúsi nicht hin. Denn was soll er da? Etwa tanzen? Bis er um der lieben Ruhe Willen doch an einem Abend ins Auto steigt (und Fúsi fährt bei seiner Körpergröße keinen Kleinwagen!) und einmal zum Kurs fährt. Und dort die scheinbar lebenslustige Sjöfn kennenlernt (ja, Sjöfn, in der nordischen Mythologie die Göttin der Liebe). Und Fúsis Leben bekommt einen ganz eigenen Drive – und ein wunderbarer Film über Einsamkeit und Liebe, über Freundschaft und seelische Abgründe entspinnt sich.

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»Fusí« wird grandios gespielt von Gunnar Jónsson. Ihn entdeckte der isländische Regisseur Dagur Kári, als Jónsson vor Jahren einen kurzen Auftritt im isländischen Fernsehen hatte und dabei einen Komiker gab. Jahre später und nach der Realsierung verschiedener Filmprojekte setzte er sich eines Abends hin und schrieb ein Drehbuch – nur und allein für Gunnar Jónsson. Und er legte eines fest: Entweder spielt Jónsson die ihm zugedachte Rolle oder das Drehbuch und damit das Filmprojekt verschwinden für immer in irgendeiner Schublade.
Das Drehbuch erreichte Jónsson dann per eMail, als dieser als Koch auf einem Containerschiff unterwegs war. Er nahm sich einen Tag Zeit, über die ganze Sache nachzudenken. Und gab dann sein »Okay«. Dagur Kári erzählt noch folgendes: »Gunnar sagte kurz vor dem Dreharbeiten zu mir: `Ich weiß ja nicht, wie man schauspielert, als schreie mich an, wenn ich irgendwas falsch mache.´ Ich habe ihn nicht einmal anschreien müssen, und mittlerweile sind wir gute Freunde.«

»Virgin Mountain« – so der internationale Titel der isländischen Originalfassung »Fúsi« – erhielt bei den diesjährigen Nordischen Filmtagen in Lübeck den Publikumspreis. Dieser Tage ist er in unseren Kinos gestartet. Ein Tipp: Wenn möglich, sollte man sich die isländische Fassung mit deutschen Untertiteln schauen. Denn der Sound der isländischen Sprache lässt Fúsis wortkarge Rede noch eindrücklicher erklingen, und viel lesen muss man ohnehin nicht.

Und wer noch nicht überzeugt ist, hier geht es zum Trailer.