Wenn Schuhe in verschiedene Richtungen laufen

Wie erklärt man einem Kind die Trennung der Eltern? Und wer erklärt da eigentlich was und wie?

Mutter mit Kind auf einem Sofa

Text: Ralf Ruhl
Foto: Ketut Subiyanto, pexels.com (Symbolbild)

 
Im Bilderbuch »Ruckediguh – von Kopf bis Schuh« von Kristin Schulz und Dayeon Auh versucht die Mutter, ihrer Tochter die Trennung zu erklären, indem sie Motive aus dem Märchen »Aschenputtel« aufgreift. Der Ex-Partner hat dabei offensichtlich nichts zu sagen. Ob das gut gehen kann?

Zur Rezension

Der Großvater an der Bar, hemdsärmelig

Es gibt diesen einen Sommer, wo sich so vieles ändert. Und wo man lernt, dass gerade die Erwachsenen durch ganz eigene Untiefen waten.

zwei lachende Kinder in einem Auto

Text: Frank Keil
Foto: Nestor Ovilla, pexels.com

 
Männerbuch der Woche, 48te KW. – Mischa Kopmann schickt in seinem wunderbaren Roman »32. August« seinen heranwachsenden Protagonisten mit offenen Augen in eine nur auf den ersten Blick idyllische Welt.

Zur Rezension

»Der Beitrag der LSBTIQ+Bewegung zur Kritik und Transformation von Männlichkeitsnormen wird immer noch unterbewertet.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Andreas Heilmann, Berlin

Mann riecht an einem Schaffell

Interview und Redaktion: Alexander Bentheim
Fotos: vortritt, photocase.de | privat

 
Andreas, was war oder ist dein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen-, Männer- und Väterthemen? Was dein politisch-thematischer Zugang?
Mein schwules Coming-out habe ich als biografischen Einschlag von individueller Freiheit und persönlicher Authentizität erlebt, inmitten eines vor- und nachlaufenden Prozesses der schmerzhaften Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Männlichkeitsnormen. Drängend war für mich in dieser Zeit eine Frage, die unmittelbar auf mein Selbstbild zielte: Bin ich als Schwuler kein Mann (mehr) oder ein Mann mit mehr Möglichkeiten? – Dieser biografische Moment führte mich politisch-thematisch über die Sozialwissenschaften zur kritischen Männlichkeitsforschung im Anschluss an Pierre Bourdieu und Raewyn Connell, die Männlichkeiten im Plural und im Kontext von gesellschaftlichen Machtverhältnissen reflektierten. Interessiert haben mich dabei immer auch die Mikroperspektiven auf Subjektivierung und alltägliche Lebenspraxen, irritiert und inspiriert von queeren, binaritätskritischen Perspektiven auf Geschlecht. Lust und Leben fanden damals eine neue Heimat im Hafen der Schwulenbewegung und ihrer assoziierten sozialen Infrastrukturen. Väterthemen wurden dann auch unmittelbar zu meinen Themen, als mein Lebensmensch und ich Co-Väter in einer Regenbogenfamilie wurden. Aus ihr sind zwei prächtige junge Menschen erwachsen.

Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen, Männern und Vätern?
Um es auf ein paar Stichworte zu bringen (aber da ist sicher noch mehr drin – the best is yet to come): Coming-out-Forschung und Heteronormativitätskritik, Regenbogenfamilien, neue Arbeitswelten und Geschlecht, Männlichkeit und Rechtsextremismus, Vereinbarkeit und Care, Krisen der Männlichkeit, Männlichkeit und Für/Sorge (Caring Masculinities), Männlichkeit und Nachhaltigkeit …

Wie hat sich dein Engagement für Jungen, Männer und Väter entwickelt, ggf. verändert?
Ich bin alt genug, um mich noch in der jüngeren, (west)deutschen Schwulenbewegung beheimatet zu fühlen, aus der ich einerseits wichtige Impulse erfahren habe und die mir andererseits immer ein bisschen fremd geblieben ist. Auch wenn ich eben von neuer »Heimat« gesprochen habe – es hat nie ganz »gematcht« zwischen uns. Aktiv engagiert habe ich mich in diesem Rahmen bspw. in der Coming-out-Begleitung und in der HIV-Präventionsarbeit. Während meines Studiums, das ich privilegierterweise vor den Bologna-Reformen absolvieren durfte, hatte ich noch die Zeit und Muße für hochschulpolitisches Engagement, zum Beispiel für ein autonom organisiertes Seminar der Queer Studies. Im Jahr nach meinem Studienabschluss sammelte ich Erfahrungen als Bildungsreferent für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt bei dem Berliner Bildungsprojekt »KomBi«, aus dem später die heutige Fachstelle Queerformat hervorgehen sollte. Inspirierend war die Mitarbeit im »Forum Männer in Theorie und Praxis der Geschlechterverhältnisse« bei der Heinrich-Böll-Stiftung. Über die Böll-Stiftung wurde ich auch für den Pilotausbildungsgang Gender-Training gewonnen und leistete Gleichstellungsarbeit zunächst im freiberuflichen Netzwerk Genderforum Berlin und dann auch als Gender-Mainstreaming-Berater im GenderKompetenzzentrum der Humboldt-Universität zu Berlin. Gemeinsam mit meinen Kolleg*innen im Genderforum Berlin befeuerten wir die junge Disziplin des Gender Trainings mit unserem breit diskutierten Debattenbeitrag »Gender-Manifest« (veröffentlicht erstmals 2006 im »Switchboard«, Heft 177). Es folgten Hochschullehre als wissenschaftlicher Mitarbeiter in den Studiengängen der Sozialwissenschaften, der Gender Studies und der Sozialpädagogik, stets eng angebunden an wissenschaftliche Forschung zu den oben genannten Themenschwerpunkten, sowie diverse wissenschaftliche Publikationen und kritische Interventionen, etwa meine empirisch angelegte Dissertation zur medialen Konstruktion homosexueller Männlichkeit in den Spitzen der Politik (es war die Ära von Wowereit, von Beust, Westerwelle und Beck) oder die zusammen mit Sylka Scholz an der Universität Jena initiierte Debatte um Caring Masculinities. In reiferem Alter ist es mir gelungen, mich von der Hochschule abzunabeln, und bin froh, nun völlig freiberuflich und inhaltlich ressourcenorientierter arbeiten zu können. Mit meiner eigenen Beratungspraxis in Berlin-Prenzlauer Berg biete ich Mediation, supervisorische und Coaching-Begleitung an für Gruppen und Teams im Bereich sozialer Arbeit und für Männer* zu Männlichkeitsthemen. Mein Angebot umfasst auch Körperarbeit und Achtsamkeitsübungen auf Yoga-Basis, sowie wissenschaftliche Beratung zu Geschlechter- und Männlichkeitsthemen (bspw. für die Männerarbeit und -seelsorge in der Katholischen und Evangelischen Kirche oder für das Bundesforum Männer).

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche/historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Spontan beantwortet, kommen mir drei Akte individuellen und nachhaltigen zivilen Widerstands in den Sinn – und sei es, dass sie als Erzählungen einem zivilgesellschaftlichen Aufbruch die geeigneten Ankerpunkte geboten haben: Stonewall 1969 (der Beitrag der Schwulen- bzw. LSBTIQ+Bewegung zur Kritik und Transformation von Männlichkeitsnormen wird meines Erachtens immer noch unterbewertet), etwa zeitgleich mit dem berühmten Wurf der Tomate auf dem SDS-Delegiertenkongress 1968 als Fanal der jüngeren (westdeutschen) Frauenbewegung und – 14 Jahre zuvor – die Weigerung von Rosa Parks, den Sitzplatz im Bus für einen Weißen freizugeben. Auch verneige ich mich vor der bewundernswerten Solidarität, mit der HIV-Positive und ihre Alliierten die in der AIDS-Krise der 1980er Jahre steckende Chance zur kollektiven Emanzipation ergriffen haben. Aktuell interessieren mich die vielfältigen, oft ganz unspektakulären Experimente zur Entwicklung einer selbstgenügsamen, suffizienten Lebensweise, die sich in den wenigen noch bestehenden gesellschaftlichen Nischen entfalten.

Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deinen privaten und/oder beruflichen Beziehungen?
Wie ich in Montréal mein Coming-out als innere Befreiung erleben durfte im Foucault‘schen Sinne, »dass diese Entscheidung das ganze Leben durchdringt« und daraus ein »Motor für eine Veränderung der ganzen Existenz« werden kann: wie meine Eltern und meine Freunde mich dennoch – oder gerade deswegen – als Person in meinem So-Sein annahmen und bestärkten; wie ich meinen lieben Lebensmenschen Paul kennengelernt habe und seitdem mit ihm ein gemeinsames Leben führe; wie wir als Teil einer Regenbogenfamilie Väter wurden und unsere Kinder in ihrer Entwicklung begleiten durften; wie wir für Patenkinder und Neffen/Nichten zu wichtigen Ansprechpartnern wurden und daraus nachhaltige Lebensbeziehungen entstanden; wie ich im Gespräch mit lieben Kolleg*innen und Freund*innen immer wieder auf Offenheit stoße und Inspiration gewinne; wie ich im Yoga und im modernen Tanz ein neues, selbstfürsorgliches Körpergefühl als Mann entdeckte; wie ich mich mit Bruder und Schwester über Männlichkeit und Mannsein frei und unbefangen, nicht ohne Kontroversen, austauschen kann.

 

 
 
 
 
 
:: Andreas Heilmann, Dr. phil, arbeitet in eigener Praxis für Coaching und Supervision in Berlin, www.praxis-heilmann.com.

Am Lenkrad des Lebens

Kleine Jungs in großen Autos – eine legendäre Rollenimitation.

Junge in einem Cabrio

Text und Foto: Alexander Bentheim
Reihe »Bilder und ihre Geschichte«


1975, wir sind per Daumen unterwegs durch England. In einer Kleinstadt nahe London kurzer Halt, mein Kumpel holt ein paar Sachen aus dem Lebensmittelladen. Ich warte draußen, gehe rüber zur Straße – und sehe den kleinen Jungen am Lenkrad des Cabrios. Stolz umgreift er das Lenkrad, sein Oberkörper folgt angedeuteten Rechts- und Linkskurven, an- und abschwellende Motorengräusche sind kein Problem für seine Intonation, glücklich kreuzt er durch imaginäre Welten. Dann kommt sein Vater um die Ecke, überrascht, mich und meine Kamera sehend, dann lacht er kurz. Der Kleine rutscht schnell zur anderen Seite, und gleich darauf sind beide auch schon verschwunden in ihrem Triumph.



Mehr aus der Reihe »Bilder und ihre Geschichte« im Archiv.

Ein schönes Fest

Wenn die Familie zum Feiern zusammenkommt – oha! Weil: Das kann richtig gut werden oder so gar nicht oder auch beides zugleich.

2 Frauen am Ufer eines Flusses

Text: Frank Keil
Foto: es.war.einmal.., photocase.de

 
Männerbuch der Woche, 44te KW. – Marie Aubert nimmt uns in einem fulminanten Roman mit auf ein Familienfest in die norwegische Provinz. Schon der Titel fuzzt: »Eigentlich bin ich nicht so«. Wirklich nicht?! Und wie dann?

Zur Rezension

Der Schlamm an ihren Schuhen

Zwei wichtige Foto-Ausstellungen beschäftigen sich mit dem Ende der DDR und damit, wie es mit ihr und ihren Menschen weiterging.

Mann mit Drachen auf Brache in Berlin

Text: Frank Keil
Foto: Sibylle Bergemann, OSTKREUZ

 
Was wird nun passieren? Wer unternimmt was? Wer setzt sich durch, wer bleibt auf der Strecke? Und wie schauen wir von heute aus auf das damals Geschehene? Fotograf*nnen, u.a. von der Agentur OSTKREUZ, haben je in ihre Archive geschaut und nochmals wahre Schätze gehoben – für eine fotografische Zeitreise vom November 1989 an bis ins damals so ferne Jahr 2000. Und wir erblicken noch einmal die Menschen, wie sie zu den Grenzübergängen strömen, wie sie die Mauer erklimmen, wie sie durch die hellerleuchteten Westberliner Straßen strömen; blicken auf die Männer, die sich die Tränen aus den Augenwinkeln wischen und wie sie von sich selbst überrascht wirken.
Die beiden Foto-Ausstellungen »Träum weiter – Berlin, die 90er« und »An den Rändern taumelt das Glück – späte Fotografie in der DDR« sind zu sehen im C/O Berlin (Hardenbergstraße 22-24, 10623 Berlin, tägl. 11 bis 20 Uhr) und in der nGbK (Auerbacher Ring 41, Eingang Kastanienboulevard, 12619 Berlin-Hellersdorf, Donnerstag und Sonnabend 15 bis 19 Uhr). Beide Ausstellungen gehen noch bis hinein in den Januar 2025.

Hier geht’s zum Rundgang durch die Ausstellungen – von denen unser Autor so begeistert war, dass er einen Besuch dringend empfiehlt!

Nicht »für militärische Zwecke missbraucht werden«

Die Bundeswehr will mehr Soldat*innen rekrutieren. Sie drängt an die Schulen, wirbt unter Jugendlichen um Nachwuchs. Die Bildungsgewerkschaft GEW hält davon nichts.

Junge mit Spielzeugpistole

Text: Thomas Gesterkamp
Foto: plastikman1912, photocase.de

 
Im ostwestfälischen Bad Salzuflen findet die Berufsmesse »MyJobOWL« statt. Den mit Abstand größten Stand aller Arbeitgeber hat die Bundeswehr, zwei Dutzend Soldaten sind im Einsatz. Ein riesig wirkender Tornado-Kampfjet thront in der Mitte der Halle, er bildet den größten Anziehungspunkt für die zumeist jungen Besucher*innen. Am Rande der stationären Flugschau führen Jugendoffiziere im kleinen Kreis Gespräche, Uniformierte berichten von ihren Auslandseinsätzen und schwärmen von den Karrieremöglichkeiten beim Militär …

Zum Beitrag

»Das Eis der Traditionalisten begann zu schmelzen, wir konnten betroffenen Jungen Gesicht und Stimme geben.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Harry Friebel, Hamburg

junger Mann stützt den Kopf in die Hände

Interview und Redaktion: Alexander Bentheim
Fotos: cottonbro, pexels.com | privat

 
Über die Rezeption der Frauenforschung bin ich Mitte der 1980er Jahre zum Jungen- und Männerforscher geworden. Studierende regten mich im Sommersemester 1986 an, mit ihnen eine informelle Arbeitsgemeinschaft zum Thema »Geschlecht und Gesellschaft« an der Universität Hamburg zu generieren. Es war für mich ein Perspektivwechsel, von der empirisch-statistischen Erfassung der Geschlechtermerkmale hin zur Analyse individueller Biographien im Kontext des Strukturgebers Geschlecht.

Es folgten viele Lehrveranstaltungen an verschiedenen Hochschulen und Universitäten zum Themenbereich. Sehr interessierte mich der sozial-strukturelle Herstellungsprozess von dominanter Männlichkeit und unterworfener Weiblichkeit in der patriarchal organisierten Gesellschaft. Dieser Herstellungsprozess war – als ich ihn begriff – Stein des Anstoßes verstärkter Zuwendungen zum männlichen Lebenszusammenhang als Risiko (wurde und wird verschiedentlich mit dem Begriff »toxisch« bezeichnet). Zwei Bücher schrieb ich dazu in dieser anregungsreichen Lebens-, Forschens- und Unterrichtsphase: 1991 »Die Gewalt, die Männer macht« (Rowohlt) und 1995 »Der Mann, der Bettler« (Leske und Budrich). In den Klappentext des Buches von 1991 notierte ich: »Ich habe dieses Lese- und Handbuch zur Geschlechterfrage geschrieben, weil ich das Geschlechterverhältnis zwischen Mann und Frau permanent sehe, weil ich mich an dieser Normalität stoße, weil ich viel von gleichen Lebenschancen für Frau und Mann halte, weil ich mir Geschlechteremanzipation – als Befreiung von Mann und Frau aus diesem Gewaltverhältnis – vorstellen kann …«. Und angemerkt hatte ich in der Einleitung zum Buch von 1995: »Erziehung zur Männlichkeit soll hier einmal von ihrem Risiko her – nicht von ihren chancenreichen Möglichkeiten – gesehen werden … Männlichkeit hat in der Moderne nicht nur durch die feministische Kritik einen Prestigeverlust erfahren, sie hat sich in ihrer Sachzwangerstarrung und Verdinglichung zum Risiko Nr. 1 in der modernen Menschheitsgeschichte gemacht«. In beiden Büchern habe ich mich bemüht, die »Gewalt« (1991) der »gefallenen« (1995) Männer vorzustellen. Weil diese Kritik auch nicht folgenlos für mich war, habe ich mich ganz alltäglich einer Männergruppe – als Resonanzgruppe – angeschlossen. Ein drittes Buch in diesem Kontext mit Erwartungen an das Konstrukt des »neuen« Mannes wollte ich immer noch schreiben. Aber meine doch wachsende Skepsis über die Realitäten des »neuen« Mannes hinderte mich.

Anfang der Nuller Jahre dieses Jahrhunderts kam es dann für mich anders und noch aufregender: Ich nahm an einem Workshop der Initiativgruppe »Forum Männer in Theorie und Praxis der Geschlechterverhältnisse« in Berlin teil. Wow, das war eine engagierte Männergruppe, dieses Forum; wow, der Arbeits- und Lernzusammenhang in diesem Forum war elektrisierend und erleuchtend; wow, ich blieb für mehr als 10 Jahre Akteur in diesem sozial-räumlichen »Nest« der Selbstreflexion und Gesellschaftskritik. Ich lernte viel; gemeinsam gestalteten und veranstalteten wir Workshops über aktuelle Männer- und Männlichkeits-Themen.

Dabei berührte mich das Jungenthema zunehmend. Mehr zufällig hatte ich in einschlägigen Fachzeitschriften gelesen, dass Jungs – in vermeintlich typischer Weise – als aggressive Täter unverändert häufig in allerlei Gewaltexzesse involviert seien; dass Mädchen – in ebenso vermeintlich typischer Weise – hingegen unverändert häufig bestehende Aggressionen gegen sich selbst richteten. Ich hielt diese »Beton«-These geschlechtsspezifischer Reproduktion für eine missbräuchliche Anleihe an traditionalistischen Zirkeln. Daraus resultierten für mich allerlei Fragen. Parallel zum und inmitten der Gruppe des »Forum Männer« suchte ich nach Relevanzkriterien der Jungensozialisation und ihres selbstverletzenden Verhaltens. Ich fragte nach Sinn, nach Kontexten, nach biographischen Risikolagen der Männlichkeitssozialisation. Ich demontierte dabei in Zusammenarbeit mit Lehrer*innen, Psychotherapeuten*innen, Mediziner*innen und Psychiater*innen die Suggestionskraft traditioneller Geschlechterbilder: hier die junge Frau, zart und verletzlich, dort der junge Mann, kraftvoll und verletzend. Der – wirklichkeitswidrige – herrschende Diskurs zum geschlechtsspezifischen Selbstverletzen reproduzierte, wie in Stein gemeißelt, die Botschaft, dass Mädchen etwa zehnmal häufiger davon betroffen seien als Jungen. Der alarmierende Befund war jedoch: Immer mehr Jungs und junge Männer verletzen sich selbst. Ich schrieb ab Ende der Nuller Jahre mehr und mehr gegen den traditionalistischen Zeitgeist in relevanten Fachzeitschriften und Jugendberatungsstellen an. Dabei kam ich auf meine Erkenntnis der 1980er und 1990er Jahre über die »Gewalt« der »gefallenen« Männer zurück. In der traditionellen Lesart der Geschlechtersozialisation durfte oder sollte der Junge ja aggressiver Täter sein, keinesfalls aber autoaggressives Opfer seiner selbst. Nur: Jungs erfahren – wie Mädchen – Leid und Verletzung, und sie spüren zugleich die Erwartung, dass sie »coole« Jungs sein müssen, um »harte« Männer zu werden. Diese Erwartung ängstigt viele und sie bräuchten sozial entgegenkommende Bewältigungskonzepte – jenseits einer individualisierenden Selbstverletzung. Die Jugendarbeit müsste also sensibilisiert werden für das selbstverletzende Verhalten auch von Jungs! Dafür wäre mehr interdisziplinäre Forschung notwendig.

Als dann erstmals 2016 ein führender Jugendpsychiater im Kontext zu empirischen Befunden bei Jugendlichen mit einer Borderline-Störung schrieb: »… vergleicht man Mädchen und Jungen mit einer ähnlichen Belastung durch depressive Symptome, dann gibt es keinen Geschlechterunterschied«, da wackelte die Front der Traditionalisten kräftig; dieser Text stand in einer medizinisch-klinischen Leitlinie für Ärzte. Im Juli 2020 schrieb ich dann im aerzteblatt.de, »dass eine ins Absurde gesteigerte traditionelle Überlegenheitsmeinung der Jungen von sich selbst zwangsläufig durch die vorgefundene gesellschaftliche Wirklichkeit enttäuscht wird. Dies kann eine gravierende Irritation in Bezug auf Männlichkeit auslösen und damit eine (Selbst)Verletzungsoffenheit generieren. Eine mögliche Reaktion der Jungen auf diesen Verlust von (Männlichkeits)Gewissheiten ist das Selbstverletzende Verhalten – als letzte Kontrolle über den eigenen Körper«. Das Eis der Traditionalisten begann zu schmelzen, wir konnten den betroffenen Jungen Gesicht und Stimme geben. In vielen aktuellen Arbeiten zur Selbstverletzungsproblematik ist nur noch von einer statistischen Relation von 2:1 (Mädchen / Jungen) zu lesen.
Jungs versagen sich häufig »weiblich« etikettierte Symptome und Verhaltensweisen wie Niedergeschlagenheit, Kummer und Traurigkeit. Die Jungen »maskieren« dabei ihre Depressionen durch Risikoverhalten und Selbstverletzung; und die medizinischen wie therapeutischen Professionen sind primär geschult für »typisch weibliche« Depressionssignale. Es ist daher überhaupt nicht abwegig, anzunehmen, dass im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess ein zunehmend enger werdender Zusammenhang zwischen der Männlichkeitssozialisation einerseits und »sozialer Desorganisation« bzw. »Identitätsdiffusion« andererseits besteht. Die soziokulturelle Integration des Jungen in der Moderne scheint immer fragiler zu werden, wenn nicht …. und hier überlasse ich die Satzvollendung den Leser*innen.

Mittlerweile bin ich in einem anderen für mich wichtigen Arbeitsfeld angekommen. Einerseits wollte ich schon seit einigen Jahren ein Buch über meinen verstorbenen väterlichen Freund Franz von Hammerstein schreiben (er hatte sein ganzes Leben nach 1945 für NS-Erinnerungsarbeit und Versöhnung gearbeitet, und er hat mich als Arbeiterkind mit Hauptschulabschluss in den schulischen und hochschulischen Bildungsprozess gleichsam transformiert). Andererseits signalisierte mir seine Familie, dass es schon genug Schriften über ihn gäbe – sie also mein Buchprojekt nicht wollten. Das akzeptierte ich und führte mich zu dem Entschluss, ihn auch damit würdigen zu wollen, wenn ich verstärkt selbst in der NS-Erinnerungskultur arbeite. Das habe ich dann in meiner typisch selbstaktivierenden Art strategisch vollzogen: erst zum Thema viel zu lesen, dann viel zu diskutieren und danach viel zu schreiben. Jetzt gestalte ich mit Kollegen*innen in Hamburg, Bielefeld, Berlin und Oldenburg einen Forschungsverbund zu rassistischen und eugenischen Krankenmorden in der NS-Diktatur. Das wird meinem Franz im Himmel auf Wolke 7 sicher freuen und viele Verbrechen der Nationalsozialisten entdecken helfen. Wir folgen mit unserer Forschungsarbeit der Überzeugung: Das Vergessen der NS-Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst. Wir arbeiten gegen das Vergessen. Auch für diese antifaschistische Arbeit sind meine männlichkeitstheoretischen Einsichten von großem Belang.

 

 
 
 
 
 
:: Harry Friebel, Jg. 1943, Dr. phil., Professor an der Hochschule für Wirtschaft und Politik 1995-2005 und Professor für Soziologie an der Universität Hamburg 2006-2009. Forschungsschwerpunkte: Bildungs- und Sozialisationstheorie, Weiterbildung, Biographieforschung, Geschlechterverhältnisse, Gender- und Männerforschung und empirische Methoden. Kontakt: friebelh-projekte@mailbox.org

Schmerzgewinn

Was hat ein Junge davon, wenn es weh tut?

Narbe auf einer Hand

Text: Ralf Ruhl
Foto: Alexander Bentheim

 
»Die schönste Wunde« von Emma Adbåge ist ein großartiges Bilderbuch, das zeigt, wie ein Junge – und eine ganze Schulklasse – lernen kann, mit Schmerz und Verletzung umzugehen. Denn es gibt Trost, Aufmerksamkeit, und eine bleibende Erinnerung!

Zur Rezension

»Ich kenn‘ Sie doch von Lanz!«

3. Oktober, Wiedervereinigung. Und danach 9. November, Mauerfall. Was ist das für ein Land, das damals entstanden ist und bis heute entsteht?

Eine Frau an einem Grill im Park

Text: Frank Keil
Foto: sir_hiss, photocase.de

 
Männerbuch der Woche, 40te KW. – Hasnain Kazim bietet mit »Deutschlandtour – Auf der Suche nach dem, was unser Land zusammenhält«, das politische Buch der Stunde.

Zur Rezension