»Das Eis der Traditionalisten begann zu schmelzen, wir konnten betroffenen Jungen Gesicht und Stimme geben.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Harry Friebel, Hamburg

junger Mann stützt den Kopf in die Hände

Interview und Redaktion: Alexander Bentheim
Fotos: cottonbro, pexels.com | privat

 
Über die Rezeption der Frauenforschung bin ich Mitte der 1980er Jahre zum Jungen- und Männerforscher geworden. Studierende regten mich im Sommersemester 1986 an, mit ihnen eine informelle Arbeitsgemeinschaft zum Thema »Geschlecht und Gesellschaft« an der Universität Hamburg zu generieren. Es war für mich ein Perspektivwechsel, von der empirisch-statistischen Erfassung der Geschlechtermerkmale hin zur Analyse individueller Biographien im Kontext des Strukturgebers Geschlecht.

Es folgten viele Lehrveranstaltungen an verschiedenen Hochschulen und Universitäten zum Themenbereich. Sehr interessierte mich der sozial-strukturelle Herstellungsprozess von dominanter Männlichkeit und unterworfener Weiblichkeit in der patriarchal organisierten Gesellschaft. Dieser Herstellungsprozess war – als ich ihn begriff – Stein des Anstoßes verstärkter Zuwendungen zum männlichen Lebenszusammenhang als Risiko (wurde und wird verschiedentlich mit dem Begriff »toxisch« bezeichnet). Zwei Bücher schrieb ich dazu in dieser anregungsreichen Lebens-, Forschens- und Unterrichtsphase: 1991 »Die Gewalt, die Männer macht« (Rowohlt) und 1995 »Der Mann, der Bettler« (Leske und Budrich). In den Klappentext des Buches von 1991 notierte ich: »Ich habe dieses Lese- und Handbuch zur Geschlechterfrage geschrieben, weil ich das Geschlechterverhältnis zwischen Mann und Frau permanent sehe, weil ich mich an dieser Normalität stoße, weil ich viel von gleichen Lebenschancen für Frau und Mann halte, weil ich mir Geschlechteremanzipation – als Befreiung von Mann und Frau aus diesem Gewaltverhältnis – vorstellen kann …«. Und angemerkt hatte ich in der Einleitung zum Buch von 1995: »Erziehung zur Männlichkeit soll hier einmal von ihrem Risiko her – nicht von ihren chancenreichen Möglichkeiten – gesehen werden … Männlichkeit hat in der Moderne nicht nur durch die feministische Kritik einen Prestigeverlust erfahren, sie hat sich in ihrer Sachzwangerstarrung und Verdinglichung zum Risiko Nr. 1 in der modernen Menschheitsgeschichte gemacht«. In beiden Büchern habe ich mich bemüht, die »Gewalt« (1991) der »gefallenen« (1995) Männer vorzustellen. Weil diese Kritik auch nicht folgenlos für mich war, habe ich mich ganz alltäglich einer Männergruppe – als Resonanzgruppe – angeschlossen. Ein drittes Buch in diesem Kontext mit Erwartungen an das Konstrukt des »neuen« Mannes wollte ich immer noch schreiben. Aber meine doch wachsende Skepsis über die Realitäten des »neuen« Mannes hinderte mich.

Anfang der Nuller Jahre dieses Jahrhunderts kam es dann für mich anders und noch aufregender: Ich nahm an einem Workshop der Initiativgruppe »Forum Männer in Theorie und Praxis der Geschlechterverhältnisse« in Berlin teil. Wow, das war eine engagierte Männergruppe, dieses Forum; wow, der Arbeits- und Lernzusammenhang in diesem Forum war elektrisierend und erleuchtend; wow, ich blieb für mehr als 10 Jahre Akteur in diesem sozial-räumlichen »Nest« der Selbstreflexion und Gesellschaftskritik. Ich lernte viel; gemeinsam gestalteten und veranstalteten wir Workshops über aktuelle Männer- und Männlichkeits-Themen.

Dabei berührte mich das Jungenthema zunehmend. Mehr zufällig hatte ich in einschlägigen Fachzeitschriften gelesen, dass Jungs – in vermeintlich typischer Weise – als aggressive Täter unverändert häufig in allerlei Gewaltexzesse involviert seien; dass Mädchen – in ebenso vermeintlich typischer Weise – hingegen unverändert häufig bestehende Aggressionen gegen sich selbst richteten. Ich hielt diese »Beton«-These geschlechtsspezifischer Reproduktion für eine missbräuchliche Anleihe an traditionalistischen Zirkeln. Daraus resultierten für mich allerlei Fragen. Parallel zum und inmitten der Gruppe des »Forum Männer« suchte ich nach Relevanzkriterien der Jungensozialisation und ihres selbstverletzenden Verhaltens. Ich fragte nach Sinn, nach Kontexten, nach biographischen Risikolagen der Männlichkeitssozialisation. Ich demontierte dabei in Zusammenarbeit mit Lehrer*innen, Psychotherapeuten*innen, Mediziner*innen und Psychiater*innen die Suggestionskraft traditioneller Geschlechterbilder: hier die junge Frau, zart und verletzlich, dort der junge Mann, kraftvoll und verletzend. Der – wirklichkeitswidrige – herrschende Diskurs zum geschlechtsspezifischen Selbstverletzen reproduzierte, wie in Stein gemeißelt, die Botschaft, dass Mädchen etwa zehnmal häufiger davon betroffen seien als Jungen. Der alarmierende Befund war jedoch: Immer mehr Jungs und junge Männer verletzen sich selbst. Ich schrieb ab Ende der Nuller Jahre mehr und mehr gegen den traditionalistischen Zeitgeist in relevanten Fachzeitschriften und Jugendberatungsstellen an. Dabei kam ich auf meine Erkenntnis der 1980er und 1990er Jahre über die »Gewalt« der »gefallenen« Männer zurück. In der traditionellen Lesart der Geschlechtersozialisation durfte oder sollte der Junge ja aggressiver Täter sein, keinesfalls aber autoaggressives Opfer seiner selbst. Nur: Jungs erfahren – wie Mädchen – Leid und Verletzung, und sie spüren zugleich die Erwartung, dass sie »coole« Jungs sein müssen, um »harte« Männer zu werden. Diese Erwartung ängstigt viele und sie bräuchten sozial entgegenkommende Bewältigungskonzepte – jenseits einer individualisierenden Selbstverletzung. Die Jugendarbeit müsste also sensibilisiert werden für das selbstverletzende Verhalten auch von Jungs! Dafür wäre mehr interdisziplinäre Forschung notwendig.

Als dann erstmals 2016 ein führender Jugendpsychiater im Kontext zu empirischen Befunden bei Jugendlichen mit einer Borderline-Störung schrieb: »… vergleicht man Mädchen und Jungen mit einer ähnlichen Belastung durch depressive Symptome, dann gibt es keinen Geschlechterunterschied«, da wackelte die Front der Traditionalisten kräftig; dieser Text stand in einer medizinisch-klinischen Leitlinie für Ärzte. Im Juli 2020 schrieb ich dann im aerzteblatt.de, »dass eine ins Absurde gesteigerte traditionelle Überlegenheitsmeinung der Jungen von sich selbst zwangsläufig durch die vorgefundene gesellschaftliche Wirklichkeit enttäuscht wird. Dies kann eine gravierende Irritation in Bezug auf Männlichkeit auslösen und damit eine (Selbst)Verletzungsoffenheit generieren. Eine mögliche Reaktion der Jungen auf diesen Verlust von (Männlichkeits)Gewissheiten ist das Selbstverletzende Verhalten – als letzte Kontrolle über den eigenen Körper«. Das Eis der Traditionalisten begann zu schmelzen, wir konnten den betroffenen Jungen Gesicht und Stimme geben. In vielen aktuellen Arbeiten zur Selbstverletzungsproblematik ist nur noch von einer statistischen Relation von 2:1 (Mädchen / Jungen) zu lesen.
Jungs versagen sich häufig »weiblich« etikettierte Symptome und Verhaltensweisen wie Niedergeschlagenheit, Kummer und Traurigkeit. Die Jungen »maskieren« dabei ihre Depressionen durch Risikoverhalten und Selbstverletzung; und die medizinischen wie therapeutischen Professionen sind primär geschult für »typisch weibliche« Depressionssignale. Es ist daher überhaupt nicht abwegig, anzunehmen, dass im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess ein zunehmend enger werdender Zusammenhang zwischen der Männlichkeitssozialisation einerseits und »sozialer Desorganisation« bzw. »Identitätsdiffusion« andererseits besteht. Die soziokulturelle Integration des Jungen in der Moderne scheint immer fragiler zu werden, wenn nicht …. und hier überlasse ich die Satzvollendung den Leser*innen.

Mittlerweile bin ich in einem anderen für mich wichtigen Arbeitsfeld angekommen. Einerseits wollte ich schon seit einigen Jahren ein Buch über meinen verstorbenen väterlichen Freund Franz von Hammerstein schreiben (er hatte sein ganzes Leben nach 1945 für NS-Erinnerungsarbeit und Versöhnung gearbeitet, und er hat mich als Arbeiterkind mit Hauptschulabschluss in den schulischen und hochschulischen Bildungsprozess gleichsam transformiert). Andererseits signalisierte mir seine Familie, dass es schon genug Schriften über ihn gäbe – sie also mein Buchprojekt nicht wollten. Das akzeptierte ich und führte mich zu dem Entschluss, ihn auch damit würdigen zu wollen, wenn ich verstärkt selbst in der NS-Erinnerungskultur arbeite. Das habe ich dann in meiner typisch selbstaktivierenden Art strategisch vollzogen: erst zum Thema viel zu lesen, dann viel zu diskutieren und danach viel zu schreiben. Jetzt gestalte ich mit Kollegen*innen in Hamburg, Bielefeld, Berlin und Oldenburg einen Forschungsverbund zu rassistischen und eugenischen Krankenmorden in der NS-Diktatur. Das wird meinem Franz im Himmel auf Wolke 7 sicher freuen und viele Verbrechen der Nationalsozialisten entdecken helfen. Wir folgen mit unserer Forschungsarbeit der Überzeugung: Das Vergessen der NS-Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst. Wir arbeiten gegen das Vergessen. Auch für diese antifaschistische Arbeit sind meine männlichkeitstheoretischen Einsichten von großem Belang.

 

 
 
 
 
 
:: Harry Friebel, Jg. 1943, Dr. phil., Professor an der Hochschule für Wirtschaft und Politik 1995-2005 und Professor für Soziologie an der Universität Hamburg 2006-2009. Forschungsschwerpunkte: Bildungs- und Sozialisationstheorie, Weiterbildung, Biographieforschung, Geschlechterverhältnisse, Gender- und Männerforschung und empirische Methoden. Kontakt: friebelh-projekte@mailbox.org

Schmerzgewinn

Was hat ein Junge davon, wenn es weh tut?

Narbe auf einer Hand

Text: Ralf Ruhl
Foto: Alexander Bentheim

 
»Die schönste Wunde« von Emma Adbåge ist ein großartiges Bilderbuch, das zeigt, wie ein Junge – und eine ganze Schulklasse – lernen kann, mit Schmerz und Verletzung umzugehen. Denn es gibt Trost, Aufmerksamkeit, und eine bleibende Erinnerung!

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»Ich kenn‘ Sie doch von Lanz!«

3. Oktober, Wiedervereinigung. Und danach 9. November, Mauerfall. Was ist das für ein Land, das damals entstanden ist und bis heute entsteht?

Eine Frau an einem Grill im Park

Text: Frank Keil
Foto: sir_hiss, photocase.de

 
Männerbuch der Woche, 40te KW. – Hasnain Kazim bietet mit »Deutschlandtour – Auf der Suche nach dem, was unser Land zusammenhält«, das politische Buch der Stunde.

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Jeder Papa ist anders

Wozu ist so ein Vater überhaupt da?

Text: Ralf Ruhl
Foto: Antonio Recena, photocase.de

 
Jeder Vater ist anders und jeder ist toll, auf seine Weise. Das ist die Botschaft von Peter Horn und Jessica Meserve in ihrem Bilderbuch »Wozu ist ein Papa da?«. Es geht um Entdeckungsreisen, emotionale Bindungen und ganz allgemein: unterschiedliche, aber zuverlässige Lebensbeziehungen.

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Löwenjunge sucht Elefantenmama

Janis soll in eine Pflegefamilie. Er will nicht, denn es tut zu weh. Auch, wenn er weiß, dass es die beste Lösung ist …

Text: Ralf Ruhl
Foto: vanda lay, photocase.de (Symbolbild)

 
Aber wie kann ihm dieser Übergang erleichtert werden? Anna Kampschroer, Kinder- und Jugendlichenpsychologin mit über 20 Jahren Erfahrung in der Arbeit mit Pflegefamilien, erzählt in »Willkommen im neuen Zuhause« eine Geschichte voller Lebensmut.

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»… weil männliche Verletzbarkeit immer noch nicht als gleichwertig anerkannt wird.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Hans-Joachim Lenz, Ebringen bei Freiburg/Breisgau

Ein Junge läuft durch eine Park

Interview und Redaktion: Alexander Bentheim
Fotos: nektarstock, photocase.de | privat

 
Hans-Joachim, was war dein persönlicher, biografischer Zugang zu Jungen-, Männer- und Väterthemen?
Bereits früh in meinem Leben wurde »das Männliche« zum vorbewussten Thema, das meinem Leben zugrunde lag und das sowohl eine Sehnsucht danach und eine Angst davor weckte. Zweieinhalb Jahre nach Ende des Krieges wurde ich in die Nachkriegszeit »geworfen«. Damals war eine nicht-verheiratete Frau (ein »Fräulein«), die ein Kind gebar, dem üblichen moralinsauren »Ehr-Makel« ausgesetzt, der insbesondere von kirchlichen Kreisen vehement verfolgt und gepflegt wurde. Mithin galt ich als »illegitim geborenes Kind«. Erst sehr viel später wurde mir bewusst, dass sich aus dieser Konstellation des »Unnormalen« heraus Scham und Unsicherheit im Kontakt mit Menschen auf mich übertragen und mich in meinem Umgang mit anderen Menschen beeinträchtigt haben.
Von Lebensbeginn an musste ich meinen Vater entbehren, da er sich nie für mich entschieden hat und sich nicht um mich kümmerte. Er behandelte mich »wie Luft«. Nur unter starkem Druck kam er unregelmäßig seinen monatlichen Zahlungsverpflichtungen nach. Die Hoffnung meiner Mutter, dass er sie doch noch heiraten würde, löste sich bald auf, als bekannt wurde, dass er parallel zu ihr eine andere Frau geschwängert hatte und diese dann heiratete. Trotzdem gab es zwei Großväter, da meine Großmutter ein zweites Mal geheiratet hatte. Beide waren mir wohlgesonnen, freuten sich, mich zu sehen und beeindruckten mich, jeder auf seine Art. Dies waren meine ersten nachhaltigen Erfahrungen mit Männern.
Der »kleine« Großvater (etwa 165 cm groß) wurde als 19-Jähriger zum Kriegsdienst in den Ersten Weltkrieg eingezogen und bereits kurze Zeit später in der Schlacht von Ypern schwer verwundet. Die Folge war ein versteifter linker Arm. Als kleiner Junge erlebte ich ihn in den Ferien mir zugewandt und gutmütig, aber – selbst bei Nachfragen – nie über die Verwundung redend. Mit zunehmendem Alter brach das Kriegszittern bei ihm aus, ein Anzeichen des damals millionenfach auftretenden Kriegstraumas. Der Großvater verlor nach und nach die Kontrolle über seinen Körper und konnte sich nicht mehr alleine bewegen. Parallel dazu ging seine geistige Orientierung verloren. In den letzten Lebensjahren war er auf ständige Hilfe angewiesen. Nachts jammerte er vor Schmerzen und schrie immer wieder nach seiner Mutter. Das jahrelang sich hinziehende, leidvolle Sterben eines einfühlsamen Mannes, der, fast noch ein Kind, im Krieg »verheizt« worden war, hatte auf mich eine tiefgreifende Wirkung. Außer dem Bedauern über den Verlust eines mir wohlgesonnenen Menschen fokussierte sich in seinem Tod sehr stark die Ausweglosigkeit seiner Situation, in der Jugendzeit zum Militärdienst gezwungen worden zu sein und durch seine Verwundung dann »doppelt« bezahlen zu müssen.
Der »zweite« Großvater war das »Gegenprogramm« zu seinem Vorgänger. Meine Großmutter hatte mit 22 Jahren ihren – kriegsversehrten – Mann nach fünf Ehejahren zugunsten von dieser neuen und beeindruckenden Erscheinung verlassen. Sie hatte ihn geheiratet und mit ihm eine (neue) Familie gegründet. Er war ein ca. 1,90 Meter großer, ehemaliger Angehöriger der Kaiserlichen Garde, dessen Bataillon um 1900 unter großer Eile nach Tsingtau/China geschickt worden war. Die Aufgabe dort bestand in der Niederschlagung des Boxeraufstands. In meinen jungen Jahren erlebte ich diesen Großvater immer prahlend, mit seiner ehemaligen Zugehörigkeit zur kaiserlichen Garde, mit seinem Wissen, seinen Fähigkeiten und seiner Kraft. Mit lauter Kasernenhofstimme trat er selbst im privatesten Kreis beim Kaffeetrinken übertrieben selbstbewusst (heute wurde man sagen: machohaft) auf. Obwohl er mich mochte, war er für mich kein Vorbild – im Gegenteil, seine Art stieß mich ab. Der »kleine Opa« in seinem Leid war mir näher.
Trotz vieler Widrigkeiten und finanzieller Engpässe ermöglichte mir meine Mutter eine Schulausbildung und ein Studium, wozu sie selbst nicht die Gelegenheit bekommen hatte. Sie war in dieser Hinsicht Ermöglicherin für mich, aber auch eine übergriffige Verhinderin meines Selbstständig-Werdens. In den ersten zwei Lebensjahrzehnten war ich ihren vielfältigen, subtil-intimen und offenen Gewaltübergriffen und Grenzverletzungen ausgesetzt. Auf dem Hintergrund ihrer Lebensgeschichte (Jahrgang 1921) hatte sie – als ehemaliges BDM-Mitglied – sehr autoritäre Erziehungsvorstellungen (»Solange Du Deine Füße unter meinen Tisch hast …«), die sie von Fall zu Fall durch Prügel mit dem Kochlöffel durchsetzte. Eine andere Seite zeigte sie regelmäßig nach dem leckeren sonntäglichen Mittagessen im sich anschließenden Mittagsschlaf, wenn sie eng mit mir kuschelnd auf dem Sofa lag. Ihre körperliche Nähe stürzte mich bereits mit der Vorpubertät beginnend in Gefühlsambivalenzen, zwischen Peinlichkeit und Attraktion. Meine Abwehr ignorierte sie. Schließlich sollte ich ihr phantasierter Ersatzmann sein, den sie nicht nur zur Begleitung beim Kauf ihrer BHs (Marke »Triumpf«, in großer Sondergröße) über Jahre hinweg missbrauchte. Ihre Übergriffe hielten bis zum Abitur an. Dann zog ich von zu Hause aus, dem Wehrdienst sei Dank. Zuvor fühlte ich mich ohnmächtig, hilflos und ihr völlig ausgeliefert. Ich lebte angepasst und verstummte, da mein Empfinden zwischen überaus beschämendem Abgestoßen-Sein und Sich-Angezogen-Fühlen schwankte. Die von mir absolut empfundene Peinlichkeit der Situation verhinderte, dass darüber weder mit ihr noch mit anderen Menschen geredet werden konnte. Ich konnte nicht anders damit umgehen, als zu versuchen, sozialen Situationen aus dem Weg zu gehen, indem ich mich versteckte, weil ich in meinem Sosein nicht gesehen werden wollte, weil ich einfach nicht dazu in der Lage war. Dies reichte lange bis in spätere intime Beziehungen, vor denen ich flüchtete. Nur wenn es nicht anders ging, »trat ich in Erscheinung« und funktionierte eben insbesondere in beruflichen Kontexten.
Das so angehäufte Megathema war die Befreiung aus der Unselbständigkeit, mich zu lösen aus dem Mich-benutzen-Lassen, dem Ausgeliefertsein, der Ohnmacht, dem Mich-Unterordnen … Auf diesen verschlungenen Wegen begegnete ich immer wieder Menschen beiderlei Geschlechts, jedoch deutlich mehr Frauen, die mich dabei freimütig unterstützten, meinen eigenen Weg zu finden. Sie waren durch das Hinterfragen gesellschaftlich-politischer Verhältnisse in eine Lage versetzt, die teilweise zu Um- und Aufbrüchen auch im privaten Raum führten (Emanzipationsbewegung). Völlig fehlte damals – Ende der 1970er Jahre – jedoch eine Idee von Männeremanzipation. In Gesprächen mit »bewegten« Frauen bemerkte ich, dass deren Notwendigkeit von diesen eher nachvollzogen werden konnte als von Männern.
Im späteren Leben war ich zudem mit einer anderen übergriffigen und gewalttätigen Seite konfrontiert: durch zwei Pfarrer, die mich in meinen 40er- bis 50er Jahren mittels sexualisierter Gewaltübergriffe überrumpelten. Die Degradierung zum Objekt der Begierde vor dem Hintergrund einer fehlenden Beziehung und fehlender Empathie bedeutet (heute) für mich Gewalt. Damals war ich nicht einmal in der Lage, für das Widerfahrene Worte zu finden, geschweige denn mich anderen Menschen mitzuteilen.

Was ist dein politisch-thematischer Zugang?
Die 1968er Jahre waren die Zeit des Aufbruchs. Die durch (studentische) Minderheiten verbreitete neue Haltung war das Infragestellen des scheinbar »Selbstverständlichen« und »Normalen«: Es ging um »Kritik an den herrschenden Verhältnissen und deren Umwälzung, in denen der Mensch ein geknechtetes Wesen« ist. So titelte eines der frühen Paperback-Bücher dieser Zeit, »Kommune 2. Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums«. Der Umbruch gesellschaftlicher Verhältnisse sollte nicht ohne Veränderung der Subjektivität, also der inneren Normen, der Denkweisen, der Haltung aller Menschen vonstattengehen.
Eine Veröffentlichung von Dieter Duhm, »Angst im Kapitalismus«, der (neben einigen Anderen) eine Subjektivitätsdebatte (als ergänzenden Gegenpol zur Veränderung der »objektiven polit-ökonomischen Verhältnisse«) in Gang gesetzt hatte, beinhaltete den Ausspruch: »Revolution ohne Emanzipation ist Konterrevolution«. Ich war fasziniert davon. Folglich rückten Sexualität und ihre Unterdrückung in meinen Fokus und persönlich konnte ich daran anknüpfen.
Eine Zeitlang arbeitete ich in einem der ersten Nürnberger Kinderläden regelmäßig in der Kinderbetreuung mit, nahm an den kontroversen Elternabenden teil. »Antiautoritäre Erziehung«, »Sexualität der Kinder«, »Wieviel Grenzen braucht unser Kind?«, aber auch die »Sexualität der Eltern untereinander«, waren Dauerbrenner. Ich »berauschte« mich an der Vorstellung, über Kindererziehung die Gesellschaft verändern zu können. Daraus ergaben sich für mich erste Reflexionen über Sozialisation und Geschlecht: Was ist der Natur, was der Umwelt geschuldet? Was brauchen Mädchen und was Jungen? Was ist befreite Sexualität?
Erst Jahre später wurde ich gewahr, dass die Beschäftigung mit kindlicher Sexualität auch eine höchst problematische Seite hatte, und noch immer hat: Im Dunstkreis der Diskussion über kindliche Sexualität kamen massenhaft sexualisierte Grenzüberschreitungen von Erwachsenen an Kindern ans Licht, teilweise legitimiert und moralisch aufgeladen durch »die gute Sache der Befreiung« (Pädosex). Kentler war mir – damals bereits – als »führender Sexualwissenschaftler« bekannt, und ich erlebte bei verschiedenen Gelegenheiten, dass seine »Experimente« mit sozial auffälligen Jungen durchschienen. Allerdings verstand ich nicht, was da geschah. Ich wunderte mich nur und war abgestoßen. In der Folge wandte ich mich von diesem Kontext bald wieder ab.
Die vorherrschende, auf Männer als Repräsentanten der Gesellschaft reduzierte Sichtweise des Normalen aufzudecken und das völlig verdrehte Männerbild zu überwinden, wurde für mich zur persönlichen Herausforderung. Die beginnende Neue Frauenbewegung, die an der alten, im 19. Jahrhunderte entstandenen Frauenbewegung anknüpfte, wurde dafür sehr wichtig. Als eine globale soziale Bewegung, welche die Gleichheit und Anerkennung von Frauen fordert, fokussierte sie im Geschlechterverhältnis auf das Sichtbarwerden des Verdeckten und machte die Missstände öffentlich. U.a. waren dies neben der verborgenen Diskriminierung die verdeckte Gewalt gegen Frauen im öffentlichen Raum, zunehmend aber auch die Gewaltübergriffe, die meistens in der Privatheit verschwanden. Für die Entwicklung meines Engagements für Männer empfinde ich die Frauenbewegung auch heute noch als wichtiges Vorbild – zugleich führen deren Überbleibsel den Gleichstellungsdiskurs inzwischen in die Enge, weil männliche Verletzbarkeit immer noch nicht als gleichwertig anerkannt wird.
In diesem Zusammenhang der Faszination über die bewegten Frauen zog ich Ende der 1980er Jahre für zwei Jahre als einziger Mann in eine Lesben-WG ein. Deren späterer Auszug »aufs Land« machte die große Altbauwohnung dann für mehrjährige Erfahrungen in verschiedensten Wohnkonstellationen möglich.

Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen, Männern und Vätern? Und wie hat sich dein Engagement zu diesen entwickelt, ggf. verändert?
In den 1970er Jahren lag Emanzipation – diese Spur von »Befreiung jetzt – und zwar sofort!« – in der Luft, nicht nur für immer mehr werdende Frauen, sondern auch für einige wenige Männer. Mein wachsendes Bewusstwerden darüber, was Männlichkeit sein kann und wie ich mich diesbezüglich den Erfordernissen des Wandels im Kontext von Erwachsenenbildung stellen müsste, führte zur Idee, Männerbildung als Aufklärungsprojekt zu betrachten. So begann ich am Städtischen Bildungszentrum – der Nürnberger Volkshochschule – im Jahre 1976 einen Gesprächskreis zur »Emanzipation des Mannes« anzubieten. Inhaltlich wurde ein damals frisch erschienener Text von Peter Schneider aus dem neue erschienenen Kursbuch »Die Sache mit der Männlichkeit« gelesen und besprochen. Auftauchende Fragen waren u.a.: Wann ist ein Mann ein Mann? Wie wird man zum Mann? Was sind die Schwierigkeiten von Männern? Welche die Zwänge?
Die Idee von Männeremanzipation im Rahmen von Männerbildung (»Nicht mehr gelebt werden, sondern selbstbewusst als Mann leben«) war in die Welt gesetzt (der Ursprung liegt in den USA) und ist bis heute (m)ein verbindender Gedanke für alle Projekte zur Unterstützung des männlichen Wandels und der Gleichstellung der Geschlechter.
Über zwölf Jahre versuchte ich in den 1980er und 1990er Jahren, an der Nürnberger Volkshochschule mit Angeboten zur Männerbildung (Vortragsveranstaltungen, Selbsterfahrungsgruppen, thematische Gesprächskreise in Abend- und Wochenendkursen) zu experimentieren. Das breite Themenangebot von »Männergesundheit« über »Psychosexuelle Gewalt gegen Jungen« bis »Militarisierte Männlichkeit«, »Gewalt in der Männergesellschaft« und »Dialog der Geschlechter« kann nachträglich hier eingesehen werden.
Zwei absolute Renner fanden in der ersten Hälfte der 1990er Jahre statt. Der eine war ein Vortrag des Bremer Geschlechterforschers Gerhard Amendt über seine zuvor erschienene Studie »Wie Mütter ihre Söhne sehen«. Beim zweiten handelte es sich um den Vortrag des Düsseldorfer Psychoanalytikers Bernd Nitzschke über »Die Ohnmacht der Männer, die Allmacht der Mütter und die Übermacht des männlichen Prinzips«. Beide Veranstaltungen sprengten mit jeweils ca. 130 Zuhörenden die Kapazitäten des Veranstaltungsraums, sehr zum Leidwesen der Direktion der Volkshochschule.
Irgendwann wurde mir klar, dass in dieser Einrichtung die Möglichkeiten für solche anspruchsvollen Themen nur sehr beschränkte waren. Insbesondere auch, weil der männliche Direktor (ein von seiner Universität beurlaubter Professor für Erwachsenenbildung) der für die Männerangebote institutionell verantwortlichen Abteilungsleiterin für Frauenbildung (ca. 1.200 Unterrichtsstunden pro Semester) unterstellte, dass sie ihn mit einem »Männerprogramm« (ca. 85 Unterrichtsstunden pro Semester) provozieren wolle. Die Folge war seine umfassende Blockade. Aus der Not wurde die Idee eines Männertreffs außerhalb der VHS geboren. Sie führte zum inzwischen über dreißig Jahre bestehenden Projekt »Männerforum Nürnberg (mfn)«, einem selbstorganisierten, monatlichen Treffen von Männern in einem Stadtteilkulturzentrum (hin und wieder und je nach Thema sind auch Frauen eingeladen).
In den Selbsterfahrungsgruppen und Gesprächskreisen tauchte bereits in den 1980er Jahren das Thema der Männern widerfahrenden Gewalt auf. Als Gruppenleiter hatte ich aufgrund meiner Biografie mehr als eine Ahnung davon und konnte so die anwesenden Männer auf dem Weg der Vertiefung in das Thema mitnehmen. Meine eigene Geschichte war aber nie ein Thema, diese blieb gut verkapselt, in meinem alltäglichen Funktionieren verschlossen. Ende der 1980er Jahre begann ich, Gewaltbetroffene und psychosoziale Fachleute zu interviewen. Ein Fundus an Geschichten und Fallvignetten sollte aufgebaut werden, aus dem dann später der Text für eine der ersten deutschsprachigen Veröffentlichungen zur Gewalt gegen Jungen und Männer entstand. Anfang der 1990er Jahre war das Manuskript fertiggestellt. Wegen juristischer Auseinandersetzungen nach der Wiedervereinigung meines ehemaligen DDR-Verlags Morgenbuch mit dem westlichen Literaturgiganten Bertelsmann um die Rechte von Stefan Heym (Morgenbuch hatte die Ostrechte, Bertelsmann die Westrechte) lag mein Text über drei Jahre lang auf Halde. Schließlich erschien er 1996. Da mein Verlag als Verlierer aus dem kostenaufwändigen Verfahren hervorging, musste er (mit meinem noch nicht veröffentlichten Manuskript) Konkurs anmelden. Nach weiteren zeitaufwändigen Verhandlungen konnte das Buch dann doch erscheinen, ohne dass der Verlag jedoch an den Urheber ein Honorar bezahlen konnte bzw. wollte. Eine erneute Ohnmachtserfahrung aufgrund patriarchal-kapitalistischer Denk- und Handlungsweisen, die für mich strukturelle Gewalt bedeute(te)n. Diese Publikation war die erste einer ganzen Reihe weiterer Veröffentlichungen zum männlichen Opfersein, der Männern widerfahrenen Gewalt und der Missachtung der männlichen Verletzungsoffenheit (hier einzusehen), gefolgt von zahlreichen thematischen Lesungen, Vorträgen, Seminaren und Konferenzen (bei Interesse gibt es hier eine Übersicht).
Ein daraus folgender wichtiger Schritt war, dass aufgrund meiner Vorarbeiten 2002-2004 ein Projekt zur erstmaligen Erforschung der gegen Männer gerichteten Gewalt durch das BMFSFJ auf den Weg gebracht werden konnte: »Gewalt gegen Männer – Personale Gewaltwiderfahrnisse von Männern in Deutschland«. Diese Untersuchung war als Vorstudie (N = 266) für eine Hauptstudie (N = 10.000) angekündigt, »um einen belastbaren Vergleich mit den Ergebnissen der Frauengewaltstudie anstellen zu können“«, so die damalige Formulierung, die als politisch-rhetorisches Zugeständnis anscheinend unverbindlich gemeint war. Denn die analoge Hauptstudie bezüglich der Zielgruppe Männer in einer umfassenden Perspektive, die zudem die Gewaltübergriffe gegen Männer im öffentlichen Raum aufgreift, steht auch zwanzig Jahre später noch aus.

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche/historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Mehrere Ereignisse fallen mir ein, zwei möchte ich herausgreifen. Zum einen ist das die aktuelle Kriegsbegeisterung und Remilitarisierung Deutschlands, und diese beziehen sich auf den Zusammenhang von Krieg, Männlichkeit und Frieden: Während des Grundwehrdienstes (1969-1970, 18 Monate) begann ich mich mit Kriegsdienstverweigerung zu beschäftigen und führte darüber zahlreiche Gespräche mit einem erstaunlich liberal gesinnten Kompaniechef. Zum Abschluss des Wehrdienstes stellte ich den Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer – die erste selbstständige Entscheidung meines Lebens! Nach einer dreistündigen, demütigenden »Gewissensprüfung« erkannte mich der Prüfungsausschuss an. Das Bewahren des Friedens und der Friedfertigkeit war seither ein mich stark beschäftigendes Thema. Daher auch meine Teilnahme an Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg oder das Anfertigen mehrerer sozialwissenschaftlicher Seminararbeiten über »Die Geschichte des Vietnamkriegs und seine Ursachen«, »Der militärisch-industrielle Komplex im Kontext der US-amerikanischen Politik« oder »Soziale Verteidigung als Alternative zu Krieg und militärischen Versuchen der Konfliktlösung«. In den 1970er Jahren wurde diese Perspektive vor dem Hintergrund des Vietnamkrieges bereits theoretisch-historisch erforscht (z.B. Mahatma Gandhi, Martin Luther King). Der langsam sich entwickelnden »Friedensbewegung« fühlte ich mich zunehmend verbunden, etwa als Teilnehmer 1981 an der ersten großen Demonstration der westdeutschen Friedensbewegung im Bonner Hofgarten gegen die »Logik der Abschreckung« und den Ausbau der Atombewaffnung Europas. Weitere Stichworte wären Brandts Entspannungspolitik, Gorbatschows Perestroika und seine Idee eines gemeinsamen europäischen Hauses, der daraus sich ergebende freiwillige Rückzug der Sowjetunion aus Deutschland und die Ermöglichung der deutschen Wiedervereinigung, aber auch die – aus meiner Sicht leider fatale – NATO-Osterweiterung, die das russische Sicherheitsempfinden offenbar so existentiell tangiert, dass seit 2014, mehr noch seit 2022, kriegerische Maßnahmen („Spezialoperationen“) getroffen wurden. Der gegenwärtige Glauben, ohne Verhandlungen, mit Waffen, aus einem – mit einer langen bis nach dem Ersten Weltkrieg zurückreichenden Vorgeschichte und geopolitisch aufgestellten – Stellvertreterkonflikt als Sieger hervorgehen zu können, täuscht sich, insofern es in diesem Konflikt keine Gewinner, sondern nur Verlierer geben wird, mit Ausnahme der Rüstungsindustrie und der Öl- und Gasindustrie. Vom früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt stammt die Aussage: »Leute, die keinen Krieg erlebt haben, wohl aber selbst Krieg führen oder provozieren, wissen nicht, was sie Furchtbares anrichten.«
Zum anderen ist das die – zu einem großen Teil gegen Jungen und Männer gerichtete – sexualisierte Gewalt in beiden Kirchen. In diesem Feld üben zahlreiche überwiegend männliche Experten um den Mythos der Verletzungsgeschichte eines als besonders beschriebenen Mannes ihren Beruf aus. Zentral sind hierbei die institutionell gebotenen Ermöglichungsräume für Gewalt, Machtmissbrauch und Instrumentalisierung. Die seit etlichen Jahren punktuell sichtbar werdende, weltweite Missbrauchspandemie im Feld der christlichen Kirchen steht erst am Anfang ihrer Aufdeckung, in der erste (nicht belastbare) Zahlen deren grundlegende Relevanz belegen. Eine eigentliche Aufarbeitung wird noch lange auf sich warten lassen, da es hierbei insbesondere um die kritische Auseinandersetzung mit Gewaltübergriffen und Grenzverletzungen des reglementierten Christentums und den diese begünstigenden Hierarchien in ihren formellen und informellen Strukturen geht. Auf diesem Hintergrund ist es für zahlreiche gewaltbetroffene Männer jedoch irritierend, vielleicht sogar problematisch, dass kirchlich eingebundene Männerprojekte aus einem Feld kommen, das als toxisch kontaminiert empfunden wird. Da nicht alle Männer potentielle Vergewaltiger sind, nur weil sie Männer sind, so sind auch nicht alle Kirchenleute potentielle Kinderschänder, nur weil sie Kirchenleute sind. Trotzdem wünschte ich mir im Anschluss an die ritualisiert verbale Entschuldigungskultur katholischer und evangelischer Gemeinschaften eine ernsthafte und tiefgründige, hegemoniekritische und systemadressierte Auseinandersetzung, gerade auch nach den in den letzten Jahren so vielen bekannt gewordenen sexualisierten Übergriffen, Vertuschungsversuchen und damit erneuten Beschämungen. Gerne ohne, strategisch geschickt, die hegemoniale Oberhand im Feld weiterhin behalten zu wollen – und die Betroffenen und ihre sozialen Problemlagen erneut zu benutzen. Ansonsten unterliegt deren Wirken dem Schein, in einer dubiosen Zwielichtigkeit zu agieren. Projekte im »Interesse von Männern« sollten sich dem nicht aussetzen, um umfänglich glaubhaft werden und bleiben zu können.
Es ließen sich noch weitere für mich nachhaltige Ereignisse anführen, etwa das Beschneidungsgesetz aus dem Jahre 2012 mit der geschlechtsspezifischen Diskriminierung hinsichtlich der Schutzbedürfnisse männlicher Kinder oder die Machtverteilung zwischen den Geschlechtern mit der Frage, wie die subtile Diskriminierung von Männern funktioniert. Doch ich belasse es – für den Moment – bei den obigen Ausführungen.

 
 

 
 
 
 
 
 
:: Hans-Joachim Lenz, geb. 1947, lebt im Markgräflerland bei Freiburg, Sozialwissenschaftler, als Pionier und Vater des Themas »Gewalt gegen Männer« und »männliche Verletzbarkeit« ist er Autor zahlreicher Veröffentlichungen und als Dozent tätig.

Der Fußball und sein koloniales Erbe

Eine aktuelle Veröffentlichung nutzt die Popularität des Fußballs und den Aufhänger eines großen Turniers, um über die wenig bearbeitete europäische Kolonialgeschichte aufzuklären.

Text: Thomas Gesterkamp | EM-Special »rund & kantig«
Foto: fabsn, photocase.de

 
Bananen flogen auf das Feld, von den Zuschauerrängen ertönten Affenlaute, als die ersten dunkelhäutigen Spieler in den europäischen Ligen auftauchten. Diese Zeiten sind glücklicherweise vorbei. Funktionäre von Spitzenklubs wie auch Ehrenamtliche in Amateurvereinen engagieren sich gegen Rassismus. Kicker wie der schwarze Nationalverteidiger Antonio Rüdiger sind bei den Fans weitgehend akzeptiert, sie werden in der Regel nach ihrer Leistung und nicht nach ihrer Hautfarbe beurteilt. Aber es ist noch nicht so lange her, dass der AfD-Bundestagsabgeordnete Alexander Gauland öffentlich verlauten ließ, einen Jérôme Boateng wolle man lieber nicht zum Nachbarn haben. Dafür erntete er nicht nur von anderen Politikern, sondern immerhin auch in den Stadien heftigen Protest.
Der Sportjournalist Ronny Blaschke hat nun ein Buch – »Spielfeld der Herrenmenschen« – über das koloniale Erbe des Fußballs vorgelegt. Die massenwirksame Verbreitung dieser Sportart wäre, so die Kernthese des Autors, ohne die weltweite Präsenz der europäischen Mächte nicht möglich gewesen.

Zur Rezension

Ich und der Fußball, der Fußball und ich

Beschreibung einer anhaltenden Fremdheit und Sehnsucht

Text: Frank Keil | EM-Special »rund & kantig«
Foto: zach, photocase.de

 
Als Kind war ich nie gut im Fußball. Dabei wäre ich gern gut gewesen. Aber irgendwie – vielleicht war ich nicht robust genug. Nicht hart genug im Nehmen, zu zögerlich, möglicherweise auch zu ängstlich, wenn jemand auf mich zu rannte und mir den Ball abnahm. Jedenfalls wurde ich, wenn überhaupt, als Verteidiger eingesetzt, wenn wir uns unten im Schatten der Blocks zusammenfanden und zwei Mannschaften wählten, wie die Großen, die Teppichklopfstangen dienten als Tor. Riefen wir irgendwelche Namen, wollten wir – je für sich – irgendein berühmter Fußballer sein? Ich kannte ohnehin nur Uwe Seeler. Und Siggi Held …

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»Bedrohung, Angst, Wut, Hoffnung«

Wie es rechte Parteien und Bewegungen schaffen, vor allem verunsicherte Männer über Affekte zu mobilisieren.

Kriegerdenkmal in Berlin

Text: Thomas Gesterkamp
Redaktion: Alexander Bentheim
Foto: derProjektor, photocase.de

 
Eine Untersuchung über »Affektive Strukturen der neuen Rechten« liegt von Birgit Sauer und Otto Penz vor (beide früher Lehrende an der Universität Wien). In ihrer gemeinsamen Forschungsarbeit suchen sie nach Erklärungen für den Erfolg autoritärer Parteien und Bewegungen in Deutschland und Österreich. Eher ungewöhnlich ist der wissenschaftliche Ansatz von Sauer und Penz, ökonomische und psychologische Analyse zusammenzubringen. Und sie untersuchen die »neoliberale Transformation« vor dem Hintergrund »sich verändernder Geschlechter- und Sexualitätsverhältnisse« – was das Buch interessant und lesenswert macht, auch wenn die Lektüre wegen des ausgeprägt akademischen Duktus manchmal mühsam ist.

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Die Angst zum Freund machen

Angst ist richtig übel. Am allerübelsten ist Angst im Dunkeln. Aber wie Orion, der kleine Held der Geschichte, diese Angst zu seinem Freund macht, ist wirklich außergewöhnlich.

Junge im Lichtschatten einer Jalousie

Text: Ralf Ruhl
Foto: Elisabeth Bergdolt, photocase.de

 
Mama hat keine Ahnung, also von den Dingen, vor denen Orion Angst hat. Wie Spinnen, Gewitter, Monster, das Weltall, Mädchen, der Kleiderschrank. »Blühende Fantasie«, sagt Mama. Davor müsse man ja nun wirklich keine Angst haben. Hat Orion aber doch, und da nützt so ein Gerede rein gar nichts … »Orion und das Dunkel« ist ein witziges, wunderbar illustriertes Bilderbuch von Emma Yarlett für Kinder ab 3 Jahre.

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