Der wenig erforschte Diskurs

Mit Männlichkeiten haben sich die Gender Studies bislang nur am Rande beschäftigt. Sylka Scholz, Soziologin an der Uni Jena, hat jetzt ein Grundlagenwerk zu dem weithin unterbelichteten Thema vorgelegt.

Mann hält seine Hand ans Ohr

Text: Thomas Gesterkamp
Foto: Andrea Piacquado, pexels.com

 
Bücher über Männer und männliche Emanzipation sind im Vergleich zur viel umfangreicheren feministischen Literatur nach wie vor eine subkulturelle Angelegenheit. In Buchhandlungen oder Bibliotheken werden sie nur am Rande präsentiert, und wenn, dann meist nur in geringem Umfang. (…) Seminare und Vorlesungen zu Themen wie Rollenstereotype oder sexuelle Orientierung an den Hochschulen sind sehr beliebt – und häufig überfüllt. Diese Erfahrung hat auch Sylka Scholz gemacht. Die Soziologin an der Universität Jena, die wie andere Dozentinnen oft nur »nebenbei« Veranstaltungen zu Gender-Themen anbieten kann, hat gerade ein materialreiches Grundlagenwerk zur Männlichkeitsforschung vorgelegt. Es richtet sich, als Lehrbuch konzipiert, vorrangig an Studierende, liefert aber zudem anregende Details zur Geschichte eines bisher weitgehend unterbelichteten Fachgebiets. Scholz benennt und analysiert Schlüsselbegriffe wie hegemoniale Männlichkeit, männlicher Habitus und männliche Sozialisation. Sie liefert einen Überblick über die wichtigsten Bereiche der Konstruktion von Männlichkeiten wie Erwerbsarbeit, Vaterschaft, Paarbeziehung, Migration und Rechtspopulismus; auch neuere alternative Ansätze wie Queer- und Transtheorien hat sie eingearbeitet. (…)

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»Love me gender«

Eine persönliche Momentaufnahme

junger Mann mit Gitarre

Text: Marc Melcher
Foto: Pavel Danilyuk, pexels.com
Schwerpunkt »Endlichkeiten«


Diesen Song habe ich während meiner Weiterbildung zum Genderpädagogen beim Bayrischen Jugendring in Gauting 2007 geschrieben. Zwischen intensiven Gesprächen, Perspektivwechseln und kollektiven Aha-Momenten entstand der Text – wie ein Echo auf das, was da zwischen uns in der Gruppe passierte. Ich habe mich erinnert: an das Ringen um Begriffe, an das Loslassen alter Muster, an das Wachsen in Vielfalt.
Damals lief viel Blumfeld in meinen Kopfhörern – die »Hamburger Schule« hat meinen Blick auf‘s Schreiben und Fühlen geprägt. Diese Mischung aus poetischer Klarheit und emotionaler Wucht hat mich inspiriert, mich selbst in Sprache aufzulösen.
Jetzt, Jahre später, fühlt es sich richtig an, diesen Text zu teilen. Vielleicht, weil das Thema aktueller ist denn je. Vielleicht, weil ich heute klarer sehe, was damals schon angelegt war: ein Song zwischen Denken und Fühlen, zwischen Konstruktion und Sehnsucht. – Hier ist er:

[#1]
Teil eines Ganzen
dazu verdammt, dich zu lösen
von Ideologien & Verstand
von Mustern & Rollen
von der Realität ins Niemandsland

[Refrain]
Love me gender, hier und jetzt
immer wieder
ins Unendliche vernetzt

[#2]
den Sinn der Vielfalt zu verstehen
das Ganze zu begreifen
ohne Ende zu sehen

[Refrain]
Love me gender, hier und jetzt
immer wieder
ins Unendliche vernetzt

[Bridge]
die Komplexität des Wahnsinns trifft mich wie ein Pfeil
am Ende zieht gar nichts – nur jemand schreit
die Geschlechter vereint und trotzdem verloren
wie es scheint

[Refrain / Outro]
Love me gender, hier und jetzt
immer wieder
ins Unendliche vernetzt
Love me gender…
immer wieder…
ins Unendliche vernetzt…

Blutgruppe Null

Männer und Frauen – schwierig, weil oft von Machtausübung und Machtmissbrauch geprägt. Das ist schon lange so und scheint sich hartnäckig zu halten. Oder ließe sich doch etwas ändern?

junger Mann und junge Frau

Text: Frank Keil
Foto: _gennadi, photocase.de

 
Männerbuch der Woche, 19te KW. – Die Schriftstellerin Mareike Fallwickl schreibt der Theatermacherin Jorinde Dröse einen so emotionalen wie wütenden Brief. Entstanden ist daraus die Flugschrift »Liebe Jorinde oder Warum wir einen neuen Feminismus des Miteinanders brauchen«.

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»Vorfahrten, die es längst nicht mehr geben dürfte«

In einer aktuellen Veröffentlichung wird analysiert, wie männerdominierte Netzwerke in Autokonzernen, Wissenschaft, Politik und Lobbyverbänden eine »zukunftsfähige Mobilität« verhindern.

Person mit buntem Regenschirm wird nassgespritzt von vorbeifahrendem Auto

Text/Interview: Thomas Gesterkamp
Foto: Fotoline, photocase.de

 
In einem früheren Buch hat Boris von Heesen untersucht, welchen gesellschaftlichen Preis das Patriarchat verursacht, »Was Männer kosten« lautete der plakative Titel. In seinem jüngsten Werk nimmt sich der Darmstädter Ökonom nun den »Mann am Steuer« vor: jenen (nicht unbedingt die Mehrheit bildenden) Teil des männlichen Geschlechts, der mit überdimensionierten Fahrzeugen, aggressivem Verhalten und unangemessener Lautstärke die deutschen Straßen beherrscht. – Ein Gespräch mit dem Autor.

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Rätselhafte Wesen schauen dich an. Und dann du sie.

Die Berliner Ausstellung »Still Moving« mit Porträts der niederländischen Fotografin Rineke Dijkstra nimmt uns mit in die nicht nur visuelle Welt des Werdens unserer Körper, Gesten und Erscheinungen.

Jugendliche im Park

Text: Frank Keil
Foto: Rineke Dijkstra

 
»Still Moving« mit Arbeiten der niederländischen Fotografin Rineke Dijkstra, die von 1992 bis ins eben noch präsente 2024 reichen, ist eine bemerkenswert intensive Ausstellung. Das liegt zum einen auch daran, dass die Berlinische Galerie per se ein wunderbar helles und luftiges Ausstellungshaus ist; und zum anderen hat man in diesem Dijkstras beeindruckendes Werke sehr klug gehängt. So sind diese thematisch gebündelt, es werden aber auch immer wieder sehr galant sanfte Übergänge zwischen den Themengruppen gesetzt, und so schreitet man ganz unmerklich entspannt durch die ineinander gehenden Räume. Und irgendwann – das sei versprochen – schaut man so nach links und rechts auf die anderen Besucher und Besucherinnen und dann auf sich selbst und fragt sich mehr oder weniger direkt: Und wie sehe ich aus? Wie würde ich mich geben? Wie würde ich mich zeigen und was ist dann in den Blicken der anderen von mir zu sehen? Was ist überhaupt mit mir und was ist mit uns in all den vergangenen Jahren oder mittlerweile Jahrzehnten passiert und was wird noch passieren und wie blicken wir dann in die Welt, dass sie uns sieht und anschaut?

Zum gesamten Ausstellungsbesuch

»Besser spät als nie und lieber erst einmal wenig als gar nichts.«

Hamburger Initiative für eine Schutzunterkunft für Männer und nicht-binäre Menschen, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind

Mann an einer Wand von hinten fotografiert

Text: Alexander Bentheim (Redaktion)
Foto: froodmat, photocase.de


Wichtiger Impuls: die Hamburger GRÜNEN haben es geschafft, Gelder für eine Schutzwohnung für Männer und nicht-binäre Menschen im Haushalt 2025/26 bereitzustellen. Für die Umsetzung eines geplant zweijährigen Modellprojektes mit drei Schutzplätzen wird die Sozialbehörde zuständig sein, voraussichtlich wird es eine Ausschreibung geben, auf die sich Träger bewerben können. Wie Adrian Hector, Abgeordneter der Hamburger Bürgerschaft und Sprecher für geschlechtliche Vielfalt bei den GRÜNEN, in seinem Instagram-Kanal mitteilt, wird zugleich das Beratungsangebot für Jungen und Männer gestärkt, die Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind. »Mehr als jedes vierte Opfer häuslicher Gewalt ist männlich: In absoluten Zahlen waren dies laut BKA-Bundeslagebild zur häuslichen Gewalt 28,9 Prozent im Jahr 2022. Insgesamt zeigten 69.471 Männer im Jahr 2022 eine erlebte Gewalttat im Bereich Partnerschaftsgewalt oder innerfamiliäre Gewalt an«, so Hector, und ergänzt: »Auch von Menschenhandel betroffene Männer und nicht-binäre Personen bedürfen des Schutzes«. Insgesamt gibt es nur wenige Schutzeinrichtungen für von Häuslicher Gewalt betroffene männliche Personen im Bundesgebiet (eine stets aktuelle Gesamtübersicht gibt es von der Bundesfach- und Koordinierungsstelle Männergewaltschutz) und in Hamburg fehlt bislang eine solche Schutzeinrichtung, sodass sich Schutzsuchende an Einrichtungen in anderen Bundesländern wenden müssen. Dem GRÜNEN-Vorhaben ist also maximaler Erfolg zu wünschen!

Vom Hashtag zum globalen Massenprotest

Recherchen über sexualisierte Gewalt, Machtmissbrauch in der Arbeitswelt und die notwendige Wahrnehmung der Erfahrungen anderer, um selbst erlebten Missbrauch erkennen zu können.

Frau hält sich ihre Hände vor das Gesicht

Text: Thomas Gesterkamp, zum Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen
Foto: PCK-Photography, photocase.de

 
Was ist ein harmloser Flirt, was schon belästigend oder gar sexuell übergriffig? Wie kann ein Mann einer Frau signalisieren, dass sie ihm gefällt, ohne dass sein Verhalten gleich als »toxisch« angesehen wird? Die enorme Resonanz auf den Hashtag #MeToo hat viele Männer verunsichert, doch hinter dieser von Feministinnen ausgehenden Initiative steckt ein berechtigtes geschlechterpolitisches Anliegen. Denn viel zu lange wurden sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch bagatellisiert und verschwiegen. Juliane Löffler beschreibt in »Missbrauch, Macht und Gewalt«, was #MeToo in Deutschland verändert hat.

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»Der Beitrag der LSBTIQ+Bewegung zur Kritik und Transformation von Männlichkeitsnormen wird immer noch unterbewertet.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Andreas Heilmann, Berlin

Mann riecht an einem Schaffell

Interview und Redaktion: Alexander Bentheim
Fotos: vortritt, photocase.de | privat

 
Andreas, was war oder ist dein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen-, Männer- und Väterthemen? Was dein politisch-thematischer Zugang?
Mein schwules Coming-out habe ich als biografischen Einschlag von individueller Freiheit und persönlicher Authentizität erlebt, inmitten eines vor- und nachlaufenden Prozesses der schmerzhaften Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Männlichkeitsnormen. Drängend war für mich in dieser Zeit eine Frage, die unmittelbar auf mein Selbstbild zielte: Bin ich als Schwuler kein Mann (mehr) oder ein Mann mit mehr Möglichkeiten? – Dieser biografische Moment führte mich politisch-thematisch über die Sozialwissenschaften zur kritischen Männlichkeitsforschung im Anschluss an Pierre Bourdieu und Raewyn Connell, die Männlichkeiten im Plural und im Kontext von gesellschaftlichen Machtverhältnissen reflektierten. Interessiert haben mich dabei immer auch die Mikroperspektiven auf Subjektivierung und alltägliche Lebenspraxen, irritiert und inspiriert von queeren, binaritätskritischen Perspektiven auf Geschlecht. Lust und Leben fanden damals eine neue Heimat im Hafen der Schwulenbewegung und ihrer assoziierten sozialen Infrastrukturen. Väterthemen wurden dann auch unmittelbar zu meinen Themen, als mein Lebensmensch und ich Co-Väter in einer Regenbogenfamilie wurden. Aus ihr sind zwei prächtige junge Menschen erwachsen.

Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen, Männern und Vätern?
Um es auf ein paar Stichworte zu bringen (aber da ist sicher noch mehr drin – the best is yet to come): Coming-out-Forschung und Heteronormativitätskritik, Regenbogenfamilien, neue Arbeitswelten und Geschlecht, Männlichkeit und Rechtsextremismus, Vereinbarkeit und Care, Krisen der Männlichkeit, Männlichkeit und Für/Sorge (Caring Masculinities), Männlichkeit und Nachhaltigkeit …

Wie hat sich dein Engagement für Jungen, Männer und Väter entwickelt, ggf. verändert?
Ich bin alt genug, um mich noch in der jüngeren, (west)deutschen Schwulenbewegung beheimatet zu fühlen, aus der ich einerseits wichtige Impulse erfahren habe und die mir andererseits immer ein bisschen fremd geblieben ist. Auch wenn ich eben von neuer »Heimat« gesprochen habe – es hat nie ganz »gematcht« zwischen uns. Aktiv engagiert habe ich mich in diesem Rahmen bspw. in der Coming-out-Begleitung und in der HIV-Präventionsarbeit. Während meines Studiums, das ich privilegierterweise vor den Bologna-Reformen absolvieren durfte, hatte ich noch die Zeit und Muße für hochschulpolitisches Engagement, zum Beispiel für ein autonom organisiertes Seminar der Queer Studies. Im Jahr nach meinem Studienabschluss sammelte ich Erfahrungen als Bildungsreferent für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt bei dem Berliner Bildungsprojekt »KomBi«, aus dem später die heutige Fachstelle Queerformat hervorgehen sollte. Inspirierend war die Mitarbeit im »Forum Männer in Theorie und Praxis der Geschlechterverhältnisse« bei der Heinrich-Böll-Stiftung. Über die Böll-Stiftung wurde ich auch für den Pilotausbildungsgang Gender-Training gewonnen und leistete Gleichstellungsarbeit zunächst im freiberuflichen Netzwerk Genderforum Berlin und dann auch als Gender-Mainstreaming-Berater im GenderKompetenzzentrum der Humboldt-Universität zu Berlin. Gemeinsam mit meinen Kolleg*innen im Genderforum Berlin befeuerten wir die junge Disziplin des Gender Trainings mit unserem breit diskutierten Debattenbeitrag »Gender-Manifest« (veröffentlicht erstmals 2006 im »Switchboard«, Heft 177). Es folgten Hochschullehre als wissenschaftlicher Mitarbeiter in den Studiengängen der Sozialwissenschaften, der Gender Studies und der Sozialpädagogik, stets eng angebunden an wissenschaftliche Forschung zu den oben genannten Themenschwerpunkten, sowie diverse wissenschaftliche Publikationen und kritische Interventionen, etwa meine empirisch angelegte Dissertation zur medialen Konstruktion homosexueller Männlichkeit in den Spitzen der Politik (es war die Ära von Wowereit, von Beust, Westerwelle und Beck) oder die zusammen mit Sylka Scholz an der Universität Jena initiierte Debatte um Caring Masculinities. In reiferem Alter ist es mir gelungen, mich von der Hochschule abzunabeln, und bin froh, nun völlig freiberuflich und inhaltlich ressourcenorientierter arbeiten zu können. Mit meiner eigenen Beratungspraxis in Berlin-Prenzlauer Berg biete ich Mediation, supervisorische und Coaching-Begleitung an für Gruppen und Teams im Bereich sozialer Arbeit und für Männer* zu Männlichkeitsthemen. Mein Angebot umfasst auch Körperarbeit und Achtsamkeitsübungen auf Yoga-Basis, sowie wissenschaftliche Beratung zu Geschlechter- und Männlichkeitsthemen (bspw. für die Männerarbeit und -seelsorge in der Katholischen und Evangelischen Kirche oder für das Bundesforum Männer).

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche/historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Spontan beantwortet, kommen mir drei Akte individuellen und nachhaltigen zivilen Widerstands in den Sinn – und sei es, dass sie als Erzählungen einem zivilgesellschaftlichen Aufbruch die geeigneten Ankerpunkte geboten haben: Stonewall 1969 (der Beitrag der Schwulen- bzw. LSBTIQ+Bewegung zur Kritik und Transformation von Männlichkeitsnormen wird meines Erachtens immer noch unterbewertet), etwa zeitgleich mit dem berühmten Wurf der Tomate auf dem SDS-Delegiertenkongress 1968 als Fanal der jüngeren (westdeutschen) Frauenbewegung und – 14 Jahre zuvor – die Weigerung von Rosa Parks, den Sitzplatz im Bus für einen Weißen freizugeben. Auch verneige ich mich vor der bewundernswerten Solidarität, mit der HIV-Positive und ihre Alliierten die in der AIDS-Krise der 1980er Jahre steckende Chance zur kollektiven Emanzipation ergriffen haben. Aktuell interessieren mich die vielfältigen, oft ganz unspektakulären Experimente zur Entwicklung einer selbstgenügsamen, suffizienten Lebensweise, die sich in den wenigen noch bestehenden gesellschaftlichen Nischen entfalten.

Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deinen privaten und/oder beruflichen Beziehungen?
Wie ich in Montréal mein Coming-out als innere Befreiung erleben durfte im Foucault‘schen Sinne, »dass diese Entscheidung das ganze Leben durchdringt« und daraus ein »Motor für eine Veränderung der ganzen Existenz« werden kann: wie meine Eltern und meine Freunde mich dennoch – oder gerade deswegen – als Person in meinem So-Sein annahmen und bestärkten; wie ich meinen lieben Lebensmenschen Paul kennengelernt habe und seitdem mit ihm ein gemeinsames Leben führe; wie wir als Teil einer Regenbogenfamilie Väter wurden und unsere Kinder in ihrer Entwicklung begleiten durften; wie wir für Patenkinder und Neffen/Nichten zu wichtigen Ansprechpartnern wurden und daraus nachhaltige Lebensbeziehungen entstanden; wie ich im Gespräch mit lieben Kolleg*innen und Freund*innen immer wieder auf Offenheit stoße und Inspiration gewinne; wie ich im Yoga und im modernen Tanz ein neues, selbstfürsorgliches Körpergefühl als Mann entdeckte; wie ich mich mit Bruder und Schwester über Männlichkeit und Mannsein frei und unbefangen, nicht ohne Kontroversen, austauschen kann.

 

 
 
 
 
 
:: Andreas Heilmann, Dr. phil, arbeitet in eigener Praxis für Coaching und Supervision in Berlin, www.praxis-heilmann.com.

»… weil männliche Verletzbarkeit immer noch nicht als gleichwertig anerkannt wird.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Hans-Joachim Lenz, Ebringen bei Freiburg/Breisgau

Ein Junge läuft durch eine Park

Interview und Redaktion: Alexander Bentheim
Fotos: nektarstock, photocase.de | privat

 
Hans-Joachim, was war dein persönlicher, biografischer Zugang zu Jungen-, Männer- und Väterthemen?
Bereits früh in meinem Leben wurde »das Männliche« zum vorbewussten Thema, das meinem Leben zugrunde lag und das sowohl eine Sehnsucht danach und eine Angst davor weckte. Zweieinhalb Jahre nach Ende des Krieges wurde ich in die Nachkriegszeit »geworfen«. Damals war eine nicht-verheiratete Frau (ein »Fräulein«), die ein Kind gebar, dem üblichen moralinsauren »Ehr-Makel« ausgesetzt, der insbesondere von kirchlichen Kreisen vehement verfolgt und gepflegt wurde. Mithin galt ich als »illegitim geborenes Kind«. Erst sehr viel später wurde mir bewusst, dass sich aus dieser Konstellation des »Unnormalen« heraus Scham und Unsicherheit im Kontakt mit Menschen auf mich übertragen und mich in meinem Umgang mit anderen Menschen beeinträchtigt haben.
Von Lebensbeginn an musste ich meinen Vater entbehren, da er sich nie für mich entschieden hat und sich nicht um mich kümmerte. Er behandelte mich »wie Luft«. Nur unter starkem Druck kam er unregelmäßig seinen monatlichen Zahlungsverpflichtungen nach. Die Hoffnung meiner Mutter, dass er sie doch noch heiraten würde, löste sich bald auf, als bekannt wurde, dass er parallel zu ihr eine andere Frau geschwängert hatte und diese dann heiratete. Trotzdem gab es zwei Großväter, da meine Großmutter ein zweites Mal geheiratet hatte. Beide waren mir wohlgesonnen, freuten sich, mich zu sehen und beeindruckten mich, jeder auf seine Art. Dies waren meine ersten nachhaltigen Erfahrungen mit Männern.
Der »kleine« Großvater (etwa 165 cm groß) wurde als 19-Jähriger zum Kriegsdienst in den Ersten Weltkrieg eingezogen und bereits kurze Zeit später in der Schlacht von Ypern schwer verwundet. Die Folge war ein versteifter linker Arm. Als kleiner Junge erlebte ich ihn in den Ferien mir zugewandt und gutmütig, aber – selbst bei Nachfragen – nie über die Verwundung redend. Mit zunehmendem Alter brach das Kriegszittern bei ihm aus, ein Anzeichen des damals millionenfach auftretenden Kriegstraumas. Der Großvater verlor nach und nach die Kontrolle über seinen Körper und konnte sich nicht mehr alleine bewegen. Parallel dazu ging seine geistige Orientierung verloren. In den letzten Lebensjahren war er auf ständige Hilfe angewiesen. Nachts jammerte er vor Schmerzen und schrie immer wieder nach seiner Mutter. Das jahrelang sich hinziehende, leidvolle Sterben eines einfühlsamen Mannes, der, fast noch ein Kind, im Krieg »verheizt« worden war, hatte auf mich eine tiefgreifende Wirkung. Außer dem Bedauern über den Verlust eines mir wohlgesonnenen Menschen fokussierte sich in seinem Tod sehr stark die Ausweglosigkeit seiner Situation, in der Jugendzeit zum Militärdienst gezwungen worden zu sein und durch seine Verwundung dann »doppelt« bezahlen zu müssen.
Der »zweite« Großvater war das »Gegenprogramm« zu seinem Vorgänger. Meine Großmutter hatte mit 22 Jahren ihren – kriegsversehrten – Mann nach fünf Ehejahren zugunsten von dieser neuen und beeindruckenden Erscheinung verlassen. Sie hatte ihn geheiratet und mit ihm eine (neue) Familie gegründet. Er war ein ca. 1,90 Meter großer, ehemaliger Angehöriger der Kaiserlichen Garde, dessen Bataillon um 1900 unter großer Eile nach Tsingtau/China geschickt worden war. Die Aufgabe dort bestand in der Niederschlagung des Boxeraufstands. In meinen jungen Jahren erlebte ich diesen Großvater immer prahlend, mit seiner ehemaligen Zugehörigkeit zur kaiserlichen Garde, mit seinem Wissen, seinen Fähigkeiten und seiner Kraft. Mit lauter Kasernenhofstimme trat er selbst im privatesten Kreis beim Kaffeetrinken übertrieben selbstbewusst (heute wurde man sagen: machohaft) auf. Obwohl er mich mochte, war er für mich kein Vorbild – im Gegenteil, seine Art stieß mich ab. Der »kleine Opa« in seinem Leid war mir näher.
Trotz vieler Widrigkeiten und finanzieller Engpässe ermöglichte mir meine Mutter eine Schulausbildung und ein Studium, wozu sie selbst nicht die Gelegenheit bekommen hatte. Sie war in dieser Hinsicht Ermöglicherin für mich, aber auch eine übergriffige Verhinderin meines Selbstständig-Werdens. In den ersten zwei Lebensjahrzehnten war ich ihren vielfältigen, subtil-intimen und offenen Gewaltübergriffen und Grenzverletzungen ausgesetzt. Auf dem Hintergrund ihrer Lebensgeschichte (Jahrgang 1921) hatte sie – als ehemaliges BDM-Mitglied – sehr autoritäre Erziehungsvorstellungen (»Solange Du Deine Füße unter meinen Tisch hast …«), die sie von Fall zu Fall durch Prügel mit dem Kochlöffel durchsetzte. Eine andere Seite zeigte sie regelmäßig nach dem leckeren sonntäglichen Mittagessen im sich anschließenden Mittagsschlaf, wenn sie eng mit mir kuschelnd auf dem Sofa lag. Ihre körperliche Nähe stürzte mich bereits mit der Vorpubertät beginnend in Gefühlsambivalenzen, zwischen Peinlichkeit und Attraktion. Meine Abwehr ignorierte sie. Schließlich sollte ich ihr phantasierter Ersatzmann sein, den sie nicht nur zur Begleitung beim Kauf ihrer BHs (Marke »Triumpf«, in großer Sondergröße) über Jahre hinweg missbrauchte. Ihre Übergriffe hielten bis zum Abitur an. Dann zog ich von zu Hause aus, dem Wehrdienst sei Dank. Zuvor fühlte ich mich ohnmächtig, hilflos und ihr völlig ausgeliefert. Ich lebte angepasst und verstummte, da mein Empfinden zwischen überaus beschämendem Abgestoßen-Sein und Sich-Angezogen-Fühlen schwankte. Die von mir absolut empfundene Peinlichkeit der Situation verhinderte, dass darüber weder mit ihr noch mit anderen Menschen geredet werden konnte. Ich konnte nicht anders damit umgehen, als zu versuchen, sozialen Situationen aus dem Weg zu gehen, indem ich mich versteckte, weil ich in meinem Sosein nicht gesehen werden wollte, weil ich einfach nicht dazu in der Lage war. Dies reichte lange bis in spätere intime Beziehungen, vor denen ich flüchtete. Nur wenn es nicht anders ging, »trat ich in Erscheinung« und funktionierte eben insbesondere in beruflichen Kontexten.
Das so angehäufte Megathema war die Befreiung aus der Unselbständigkeit, mich zu lösen aus dem Mich-benutzen-Lassen, dem Ausgeliefertsein, der Ohnmacht, dem Mich-Unterordnen … Auf diesen verschlungenen Wegen begegnete ich immer wieder Menschen beiderlei Geschlechts, jedoch deutlich mehr Frauen, die mich dabei freimütig unterstützten, meinen eigenen Weg zu finden. Sie waren durch das Hinterfragen gesellschaftlich-politischer Verhältnisse in eine Lage versetzt, die teilweise zu Um- und Aufbrüchen auch im privaten Raum führten (Emanzipationsbewegung). Völlig fehlte damals – Ende der 1970er Jahre – jedoch eine Idee von Männeremanzipation. In Gesprächen mit »bewegten« Frauen bemerkte ich, dass deren Notwendigkeit von diesen eher nachvollzogen werden konnte als von Männern.
Im späteren Leben war ich zudem mit einer anderen übergriffigen und gewalttätigen Seite konfrontiert: durch zwei Pfarrer, die mich in meinen 40er- bis 50er Jahren mittels sexualisierter Gewaltübergriffe überrumpelten. Die Degradierung zum Objekt der Begierde vor dem Hintergrund einer fehlenden Beziehung und fehlender Empathie bedeutet (heute) für mich Gewalt. Damals war ich nicht einmal in der Lage, für das Widerfahrene Worte zu finden, geschweige denn mich anderen Menschen mitzuteilen.

Was ist dein politisch-thematischer Zugang?
Die 1968er Jahre waren die Zeit des Aufbruchs. Die durch (studentische) Minderheiten verbreitete neue Haltung war das Infragestellen des scheinbar »Selbstverständlichen« und »Normalen«: Es ging um »Kritik an den herrschenden Verhältnissen und deren Umwälzung, in denen der Mensch ein geknechtetes Wesen« ist. So titelte eines der frühen Paperback-Bücher dieser Zeit, »Kommune 2. Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums«. Der Umbruch gesellschaftlicher Verhältnisse sollte nicht ohne Veränderung der Subjektivität, also der inneren Normen, der Denkweisen, der Haltung aller Menschen vonstattengehen.
Eine Veröffentlichung von Dieter Duhm, »Angst im Kapitalismus«, der (neben einigen Anderen) eine Subjektivitätsdebatte (als ergänzenden Gegenpol zur Veränderung der »objektiven polit-ökonomischen Verhältnisse«) in Gang gesetzt hatte, beinhaltete den Ausspruch: »Revolution ohne Emanzipation ist Konterrevolution«. Ich war fasziniert davon. Folglich rückten Sexualität und ihre Unterdrückung in meinen Fokus und persönlich konnte ich daran anknüpfen.
Eine Zeitlang arbeitete ich in einem der ersten Nürnberger Kinderläden regelmäßig in der Kinderbetreuung mit, nahm an den kontroversen Elternabenden teil. »Antiautoritäre Erziehung«, »Sexualität der Kinder«, »Wieviel Grenzen braucht unser Kind?«, aber auch die »Sexualität der Eltern untereinander«, waren Dauerbrenner. Ich »berauschte« mich an der Vorstellung, über Kindererziehung die Gesellschaft verändern zu können. Daraus ergaben sich für mich erste Reflexionen über Sozialisation und Geschlecht: Was ist der Natur, was der Umwelt geschuldet? Was brauchen Mädchen und was Jungen? Was ist befreite Sexualität?
Erst Jahre später wurde ich gewahr, dass die Beschäftigung mit kindlicher Sexualität auch eine höchst problematische Seite hatte, und noch immer hat: Im Dunstkreis der Diskussion über kindliche Sexualität kamen massenhaft sexualisierte Grenzüberschreitungen von Erwachsenen an Kindern ans Licht, teilweise legitimiert und moralisch aufgeladen durch »die gute Sache der Befreiung« (Pädosex). Kentler war mir – damals bereits – als »führender Sexualwissenschaftler« bekannt, und ich erlebte bei verschiedenen Gelegenheiten, dass seine »Experimente« mit sozial auffälligen Jungen durchschienen. Allerdings verstand ich nicht, was da geschah. Ich wunderte mich nur und war abgestoßen. In der Folge wandte ich mich von diesem Kontext bald wieder ab.
Die vorherrschende, auf Männer als Repräsentanten der Gesellschaft reduzierte Sichtweise des Normalen aufzudecken und das völlig verdrehte Männerbild zu überwinden, wurde für mich zur persönlichen Herausforderung. Die beginnende Neue Frauenbewegung, die an der alten, im 19. Jahrhunderte entstandenen Frauenbewegung anknüpfte, wurde dafür sehr wichtig. Als eine globale soziale Bewegung, welche die Gleichheit und Anerkennung von Frauen fordert, fokussierte sie im Geschlechterverhältnis auf das Sichtbarwerden des Verdeckten und machte die Missstände öffentlich. U.a. waren dies neben der verborgenen Diskriminierung die verdeckte Gewalt gegen Frauen im öffentlichen Raum, zunehmend aber auch die Gewaltübergriffe, die meistens in der Privatheit verschwanden. Für die Entwicklung meines Engagements für Männer empfinde ich die Frauenbewegung auch heute noch als wichtiges Vorbild – zugleich führen deren Überbleibsel den Gleichstellungsdiskurs inzwischen in die Enge, weil männliche Verletzbarkeit immer noch nicht als gleichwertig anerkannt wird.
In diesem Zusammenhang der Faszination über die bewegten Frauen zog ich Ende der 1980er Jahre für zwei Jahre als einziger Mann in eine Lesben-WG ein. Deren späterer Auszug »aufs Land« machte die große Altbauwohnung dann für mehrjährige Erfahrungen in verschiedensten Wohnkonstellationen möglich.

Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen, Männern und Vätern? Und wie hat sich dein Engagement zu diesen entwickelt, ggf. verändert?
In den 1970er Jahren lag Emanzipation – diese Spur von »Befreiung jetzt – und zwar sofort!« – in der Luft, nicht nur für immer mehr werdende Frauen, sondern auch für einige wenige Männer. Mein wachsendes Bewusstwerden darüber, was Männlichkeit sein kann und wie ich mich diesbezüglich den Erfordernissen des Wandels im Kontext von Erwachsenenbildung stellen müsste, führte zur Idee, Männerbildung als Aufklärungsprojekt zu betrachten. So begann ich am Städtischen Bildungszentrum – der Nürnberger Volkshochschule – im Jahre 1976 einen Gesprächskreis zur »Emanzipation des Mannes« anzubieten. Inhaltlich wurde ein damals frisch erschienener Text von Peter Schneider aus dem neue erschienenen Kursbuch »Die Sache mit der Männlichkeit« gelesen und besprochen. Auftauchende Fragen waren u.a.: Wann ist ein Mann ein Mann? Wie wird man zum Mann? Was sind die Schwierigkeiten von Männern? Welche die Zwänge?
Die Idee von Männeremanzipation im Rahmen von Männerbildung (»Nicht mehr gelebt werden, sondern selbstbewusst als Mann leben«) war in die Welt gesetzt (der Ursprung liegt in den USA) und ist bis heute (m)ein verbindender Gedanke für alle Projekte zur Unterstützung des männlichen Wandels und der Gleichstellung der Geschlechter.
Über zwölf Jahre versuchte ich in den 1980er und 1990er Jahren, an der Nürnberger Volkshochschule mit Angeboten zur Männerbildung (Vortragsveranstaltungen, Selbsterfahrungsgruppen, thematische Gesprächskreise in Abend- und Wochenendkursen) zu experimentieren. Das breite Themenangebot von »Männergesundheit« über »Psychosexuelle Gewalt gegen Jungen« bis »Militarisierte Männlichkeit«, »Gewalt in der Männergesellschaft« und »Dialog der Geschlechter« kann nachträglich hier eingesehen werden.
Zwei absolute Renner fanden in der ersten Hälfte der 1990er Jahre statt. Der eine war ein Vortrag des Bremer Geschlechterforschers Gerhard Amendt über seine zuvor erschienene Studie »Wie Mütter ihre Söhne sehen«. Beim zweiten handelte es sich um den Vortrag des Düsseldorfer Psychoanalytikers Bernd Nitzschke über »Die Ohnmacht der Männer, die Allmacht der Mütter und die Übermacht des männlichen Prinzips«. Beide Veranstaltungen sprengten mit jeweils ca. 130 Zuhörenden die Kapazitäten des Veranstaltungsraums, sehr zum Leidwesen der Direktion der Volkshochschule.
Irgendwann wurde mir klar, dass in dieser Einrichtung die Möglichkeiten für solche anspruchsvollen Themen nur sehr beschränkte waren. Insbesondere auch, weil der männliche Direktor (ein von seiner Universität beurlaubter Professor für Erwachsenenbildung) der für die Männerangebote institutionell verantwortlichen Abteilungsleiterin für Frauenbildung (ca. 1.200 Unterrichtsstunden pro Semester) unterstellte, dass sie ihn mit einem »Männerprogramm« (ca. 85 Unterrichtsstunden pro Semester) provozieren wolle. Die Folge war seine umfassende Blockade. Aus der Not wurde die Idee eines Männertreffs außerhalb der VHS geboren. Sie führte zum inzwischen über dreißig Jahre bestehenden Projekt »Männerforum Nürnberg (mfn)«, einem selbstorganisierten, monatlichen Treffen von Männern in einem Stadtteilkulturzentrum (hin und wieder und je nach Thema sind auch Frauen eingeladen).
In den Selbsterfahrungsgruppen und Gesprächskreisen tauchte bereits in den 1980er Jahren das Thema der Männern widerfahrenden Gewalt auf. Als Gruppenleiter hatte ich aufgrund meiner Biografie mehr als eine Ahnung davon und konnte so die anwesenden Männer auf dem Weg der Vertiefung in das Thema mitnehmen. Meine eigene Geschichte war aber nie ein Thema, diese blieb gut verkapselt, in meinem alltäglichen Funktionieren verschlossen. Ende der 1980er Jahre begann ich, Gewaltbetroffene und psychosoziale Fachleute zu interviewen. Ein Fundus an Geschichten und Fallvignetten sollte aufgebaut werden, aus dem dann später der Text für eine der ersten deutschsprachigen Veröffentlichungen zur Gewalt gegen Jungen und Männer entstand. Anfang der 1990er Jahre war das Manuskript fertiggestellt. Wegen juristischer Auseinandersetzungen nach der Wiedervereinigung meines ehemaligen DDR-Verlags Morgenbuch mit dem westlichen Literaturgiganten Bertelsmann um die Rechte von Stefan Heym (Morgenbuch hatte die Ostrechte, Bertelsmann die Westrechte) lag mein Text über drei Jahre lang auf Halde. Schließlich erschien er 1996. Da mein Verlag als Verlierer aus dem kostenaufwändigen Verfahren hervorging, musste er (mit meinem noch nicht veröffentlichten Manuskript) Konkurs anmelden. Nach weiteren zeitaufwändigen Verhandlungen konnte das Buch dann doch erscheinen, ohne dass der Verlag jedoch an den Urheber ein Honorar bezahlen konnte bzw. wollte. Eine erneute Ohnmachtserfahrung aufgrund patriarchal-kapitalistischer Denk- und Handlungsweisen, die für mich strukturelle Gewalt bedeute(te)n. Diese Publikation war die erste einer ganzen Reihe weiterer Veröffentlichungen zum männlichen Opfersein, der Männern widerfahrenen Gewalt und der Missachtung der männlichen Verletzungsoffenheit (hier einzusehen), gefolgt von zahlreichen thematischen Lesungen, Vorträgen, Seminaren und Konferenzen (bei Interesse gibt es hier eine Übersicht).
Ein daraus folgender wichtiger Schritt war, dass aufgrund meiner Vorarbeiten 2002-2004 ein Projekt zur erstmaligen Erforschung der gegen Männer gerichteten Gewalt durch das BMFSFJ auf den Weg gebracht werden konnte: »Gewalt gegen Männer – Personale Gewaltwiderfahrnisse von Männern in Deutschland«. Diese Untersuchung war als Vorstudie (N = 266) für eine Hauptstudie (N = 10.000) angekündigt, »um einen belastbaren Vergleich mit den Ergebnissen der Frauengewaltstudie anstellen zu können“«, so die damalige Formulierung, die als politisch-rhetorisches Zugeständnis anscheinend unverbindlich gemeint war. Denn die analoge Hauptstudie bezüglich der Zielgruppe Männer in einer umfassenden Perspektive, die zudem die Gewaltübergriffe gegen Männer im öffentlichen Raum aufgreift, steht auch zwanzig Jahre später noch aus.

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche/historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Mehrere Ereignisse fallen mir ein, zwei möchte ich herausgreifen. Zum einen ist das die aktuelle Kriegsbegeisterung und Remilitarisierung Deutschlands, und diese beziehen sich auf den Zusammenhang von Krieg, Männlichkeit und Frieden: Während des Grundwehrdienstes (1969-1970, 18 Monate) begann ich mich mit Kriegsdienstverweigerung zu beschäftigen und führte darüber zahlreiche Gespräche mit einem erstaunlich liberal gesinnten Kompaniechef. Zum Abschluss des Wehrdienstes stellte ich den Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer – die erste selbstständige Entscheidung meines Lebens! Nach einer dreistündigen, demütigenden »Gewissensprüfung« erkannte mich der Prüfungsausschuss an. Das Bewahren des Friedens und der Friedfertigkeit war seither ein mich stark beschäftigendes Thema. Daher auch meine Teilnahme an Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg oder das Anfertigen mehrerer sozialwissenschaftlicher Seminararbeiten über »Die Geschichte des Vietnamkriegs und seine Ursachen«, »Der militärisch-industrielle Komplex im Kontext der US-amerikanischen Politik« oder »Soziale Verteidigung als Alternative zu Krieg und militärischen Versuchen der Konfliktlösung«. In den 1970er Jahren wurde diese Perspektive vor dem Hintergrund des Vietnamkrieges bereits theoretisch-historisch erforscht (z.B. Mahatma Gandhi, Martin Luther King). Der langsam sich entwickelnden »Friedensbewegung« fühlte ich mich zunehmend verbunden, etwa als Teilnehmer 1981 an der ersten großen Demonstration der westdeutschen Friedensbewegung im Bonner Hofgarten gegen die »Logik der Abschreckung« und den Ausbau der Atombewaffnung Europas. Weitere Stichworte wären Brandts Entspannungspolitik, Gorbatschows Perestroika und seine Idee eines gemeinsamen europäischen Hauses, der daraus sich ergebende freiwillige Rückzug der Sowjetunion aus Deutschland und die Ermöglichung der deutschen Wiedervereinigung, aber auch die – aus meiner Sicht leider fatale – NATO-Osterweiterung, die das russische Sicherheitsempfinden offenbar so existentiell tangiert, dass seit 2014, mehr noch seit 2022, kriegerische Maßnahmen („Spezialoperationen“) getroffen wurden. Der gegenwärtige Glauben, ohne Verhandlungen, mit Waffen, aus einem – mit einer langen bis nach dem Ersten Weltkrieg zurückreichenden Vorgeschichte und geopolitisch aufgestellten – Stellvertreterkonflikt als Sieger hervorgehen zu können, täuscht sich, insofern es in diesem Konflikt keine Gewinner, sondern nur Verlierer geben wird, mit Ausnahme der Rüstungsindustrie und der Öl- und Gasindustrie. Vom früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt stammt die Aussage: »Leute, die keinen Krieg erlebt haben, wohl aber selbst Krieg führen oder provozieren, wissen nicht, was sie Furchtbares anrichten.«
Zum anderen ist das die – zu einem großen Teil gegen Jungen und Männer gerichtete – sexualisierte Gewalt in beiden Kirchen. In diesem Feld üben zahlreiche überwiegend männliche Experten um den Mythos der Verletzungsgeschichte eines als besonders beschriebenen Mannes ihren Beruf aus. Zentral sind hierbei die institutionell gebotenen Ermöglichungsräume für Gewalt, Machtmissbrauch und Instrumentalisierung. Die seit etlichen Jahren punktuell sichtbar werdende, weltweite Missbrauchspandemie im Feld der christlichen Kirchen steht erst am Anfang ihrer Aufdeckung, in der erste (nicht belastbare) Zahlen deren grundlegende Relevanz belegen. Eine eigentliche Aufarbeitung wird noch lange auf sich warten lassen, da es hierbei insbesondere um die kritische Auseinandersetzung mit Gewaltübergriffen und Grenzverletzungen des reglementierten Christentums und den diese begünstigenden Hierarchien in ihren formellen und informellen Strukturen geht. Auf diesem Hintergrund ist es für zahlreiche gewaltbetroffene Männer jedoch irritierend, vielleicht sogar problematisch, dass kirchlich eingebundene Männerprojekte aus einem Feld kommen, das als toxisch kontaminiert empfunden wird. Da nicht alle Männer potentielle Vergewaltiger sind, nur weil sie Männer sind, so sind auch nicht alle Kirchenleute potentielle Kinderschänder, nur weil sie Kirchenleute sind. Trotzdem wünschte ich mir im Anschluss an die ritualisiert verbale Entschuldigungskultur katholischer und evangelischer Gemeinschaften eine ernsthafte und tiefgründige, hegemoniekritische und systemadressierte Auseinandersetzung, gerade auch nach den in den letzten Jahren so vielen bekannt gewordenen sexualisierten Übergriffen, Vertuschungsversuchen und damit erneuten Beschämungen. Gerne ohne, strategisch geschickt, die hegemoniale Oberhand im Feld weiterhin behalten zu wollen – und die Betroffenen und ihre sozialen Problemlagen erneut zu benutzen. Ansonsten unterliegt deren Wirken dem Schein, in einer dubiosen Zwielichtigkeit zu agieren. Projekte im »Interesse von Männern« sollten sich dem nicht aussetzen, um umfänglich glaubhaft werden und bleiben zu können.
Es ließen sich noch weitere für mich nachhaltige Ereignisse anführen, etwa das Beschneidungsgesetz aus dem Jahre 2012 mit der geschlechtsspezifischen Diskriminierung hinsichtlich der Schutzbedürfnisse männlicher Kinder oder die Machtverteilung zwischen den Geschlechtern mit der Frage, wie die subtile Diskriminierung von Männern funktioniert. Doch ich belasse es – für den Moment – bei den obigen Ausführungen.

 
 

 
 
 
 
 
 
:: Hans-Joachim Lenz, geb. 1947, lebt im Markgräflerland bei Freiburg, Sozialwissenschaftler, als Pionier und Vater des Themas »Gewalt gegen Männer« und »männliche Verletzbarkeit« ist er Autor zahlreicher Veröffentlichungen und als Dozent tätig.

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»Fußball ist ein milliardenschweres Geschäft, zugleich gibt es eine tiefe Sehnsucht nach weniger Kommerz. Zuletzt zu besichtigen bei den Tennisbällen, die gegen den Einstieg von Finanzinvestoren in die Bundesliga auf die Plätze geworfen wurden …«

»In früheren Jahrzehnten war der Fußball weitaus weniger durch Erwartungen an gesellschaftliche Verantwortung geprägt. Im Rückblick traurig-berühmt wurde das Beispiel, dass die (west)deutsche Nationalmannschaft bei der WM 1978 in der Nähe eines Gefängnisses gastierte, in dem die argentinische Militärjunta Oppositionelle folterte – damals geriet das nicht zum Skandal. Den Protesten der vergangenen Jahre geht es vor allem um Teilhabe und eigene Wirkmächtigkeit, also um grundlegende Erfahrungen in einer funktionierenden Demokratie. Im kommerzialisierten Fußball machen die Fans ständig demütigende Erfahrungen der Nicht-Beteiligung, Sponsoreninteressen werden meist stärker gewichtet. Die Tennisbälle waren ein eskalierender Versuch, ihre Interessen massiv einzufordern. Hier unterscheiden sich die Fanszenen des Fußballs von Fankulturen in anderen gesellschaftlichen Bereichen: viele Ultras wollen die Spiele nicht nur spaßvoll konsumieren, sondern vor allem den eigenen Verein aktiv mitgestalten.«

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