Zeit und Vertrauen tief fühlen

(…)

Mann mit offenen Armen vor Sonnenaufgang

Text: Martin Verlinden
Foto: Peggy Anke, pexels.com
Schwerpunkt »Endlichkeiten«


Rucksack der Pflichten ablegen, einfach dran vorbeigehen.

Mich den Momenten hingeben, befreit von »unabdingbaren Wünschen und Hoffnungen«.

Momente öffnen in Freiheit. Verweilen, wo ich willkommen bin und jederzeit gehen kann!

Zeitlos wachsen und spüren, wie tief am Nichts alles möglich –
ohne Zerren um eigene und anderer Wünsche.

So knüpf‘ ich Ketten von »JA‘s« in die eigene Seele und entspanne. So lieb ich mit starkem »JA«, das sich mein Gegenüber nicht erst verdienen muss.

Ein unbedingtes »JA«: mutig, entledigt der Ansprüche, selbstbewusst und klar, unabhängig vom Auf und Ab steifer Lebensumstände.
Vertrauend auf alles, was ich bewirken und spüren kann.

Ein so umfassendes, tägliches »JA«, wortlos gegeben,
enthält auch Zeiten erfüllenden Alleinseins –
wissend, dass alles möglich bleibt und enden darf.

Momente in Leichtfüßigkeit

Das Leben kann uns oft an unsere Grenzen führen und unsere Endlichkeit demonstrieren. Wenn wir dem Anspruch auf ewig Beständiges und dem Wunsch nach vertrauter Gleichförmigkeit widerstehen, schreckt uns die Endlichkeit von Momenten, Etappen oder Lebensphasen weniger.

Text: Martin Verlinden
Foto: Alexander Bentheim
Schwerpunkt »Endlichkeiten«


Hunger verzerrt deinen sichernden Geschmack.
Fassade weckt statt Verstehen nur kurzen Appetit.
Suchen überlagert genügsames Glück.

Nicht-Müssen gebärt moralische Freiheit. Den zarten Moment des flüchtigen Zufalls gewähren lassen, lockt zum Glücklichsein mit leichtem Nichts.

Begriffe verschleiern dein klares Erleben.
Anziehung geht Worten voraus – tief in uns und leis.
Abscheu bannt kein wohlgeformter Satz.

Worte verführen schnell den, der wankt.

Verstehen kann nur, wer Stille in sich wachsen lässt.
Sätze sind Schatten, verfliegen wie Nebel vor der Sonne in uns.

Momente des flüchtigen Zufalls gewähren lassen, lockt zum Glücklichsein mit leichtem Nichts und mit ihrem Enden.

Endlichkeit, 5

(…)

leeres Zimmer mit Bett und Stuhl

Text: Ralf Ruhl
Foto: Wendelin Jacober, pexels.com
Schwerpunkt »Endlichkeiten«


Eine Schicht Zeit
Noch unverklärt
Auf den Regalen und
Dem Ohrensessel

Die Zimmer nur Zimmer
Unnötig, auf Befehle
Und Erwartungen zu horchen

Der Rasenmäher arbeitet
Mulch auf, freiwillig,
legt zwischen Frühlingsblumen
eine Schicht Zeit

Endlichkeit, 4

(…)

gebundene Briefe und ein Foto

Text: Ralf Ruhl
Foto: Suzy Hazelwood, pexels.com
Schwerpunkt »Endlichkeiten«


Sterbeurkunde Vater
Sterbeurkunde Mutter
Heiratsurkunde Eltern
Geburtsurkunde Tochter
Geburtsurkunde Sohn
Scheidungsurkunde
Testament
Eröffnungsprotokoll des Nachlassgerichts
Vollmacht Vermögenssorge
Erbschaftssteuer
Grundbuchauszug
Erbschein
Rechnung

Endlichkeit, 3

(…)

alter Mann in Sonne und Schatten sitzt sich auf

Text: Ralf Ruhl
Foto: gregor, photocase.de
Schwerpunkt »Endlichkeiten«


Nur noch Ruhe
Lauschen auf das Zittern
Der rissig kühlen Hand
Die Welle, stockend
Und wässrig durch die Lunge

Ein Blick ohne zu sehen
Ein Blick ohne Hadern

Und der lange Ton
Der silbergrauen Maschine

Endlichkeit, 2

(…)

ein Mensch an einem See im Nebel in Regenjacke

Text: Ralf Ruhl
Foto: Gagaz Adam, pexels.com
Schwerpunkt »Endlichkeiten«


Im frühen Tau verschwindet
Der Morgengesang der Vögel

Wie kühlendes Tuch verhüllt
Der Tag meine letzte Gestalt

Die Mauer, einst mächtig und kalt,
Versandet in durchscheinender Seide

Nur noch ein Schritt

»Love me gender«

Eine persönliche Momentaufnahme

junger Mann mit Gitarre

Text: Marc Melcher
Foto: Pavel Danilyuk, pexels.com
Schwerpunkt »Endlichkeiten«


Diesen Song habe ich während meiner Weiterbildung zum Genderpädagogen beim Bayrischen Jugendring in Gauting 2007 geschrieben. Zwischen intensiven Gesprächen, Perspektivwechseln und kollektiven Aha-Momenten entstand der Text – wie ein Echo auf das, was da zwischen uns in der Gruppe passierte. Ich habe mich erinnert: an das Ringen um Begriffe, an das Loslassen alter Muster, an das Wachsen in Vielfalt.
Damals lief viel Blumfeld in meinen Kopfhörern – die »Hamburger Schule« hat meinen Blick auf‘s Schreiben und Fühlen geprägt. Diese Mischung aus poetischer Klarheit und emotionaler Wucht hat mich inspiriert, mich selbst in Sprache aufzulösen.
Jetzt, Jahre später, fühlt es sich richtig an, diesen Text zu teilen. Vielleicht, weil das Thema aktueller ist denn je. Vielleicht, weil ich heute klarer sehe, was damals schon angelegt war: ein Song zwischen Denken und Fühlen, zwischen Konstruktion und Sehnsucht. – Hier ist er:

[#1]
Teil eines Ganzen
dazu verdammt, dich zu lösen
von Ideologien & Verstand
von Mustern & Rollen
von der Realität ins Niemandsland

[Refrain]
Love me gender, hier und jetzt
immer wieder
ins Unendliche vernetzt

[#2]
den Sinn der Vielfalt zu verstehen
das Ganze zu begreifen
ohne Ende zu sehen

[Refrain]
Love me gender, hier und jetzt
immer wieder
ins Unendliche vernetzt

[Bridge]
die Komplexität des Wahnsinns trifft mich wie ein Pfeil
am Ende zieht gar nichts – nur jemand schreit
die Geschlechter vereint und trotzdem verloren
wie es scheint

[Refrain / Outro]
Love me gender, hier und jetzt
immer wieder
ins Unendliche vernetzt
Love me gender…
immer wieder…
ins Unendliche vernetzt…

Vegan pupsender Bonus-Bruder mit Bartagame

Graphic Novel über ein Mädchen in Nöten, das sich dann auch noch mit einem neuen Bruder arrangieren muss.

Junger Mann mit Hut und gesenktem Kopf

Text: Ralf Ruhl
Foto: sto.E, photocase.de

 
Neue Schule. Angst vor Mobbing. Verlust der besten Freundin. Die eigene Herkunft kennen. Und dann noch eine Patchworkfamilie mit Bonus-Bruder. Ganz schön viel für ein zehnjähriges Mädchen. Und für die Graphic Novel »Der süßeste Bruder der Welt… und andere Irrtümer« von Elin Lindell. Die dabei gar nicht schwierig oder düster daherkommt. Sondern witzig, voller Situationskomik und mit viel Herz für alle ihre Figuren.

Zur Rezension

Schatten, Ausschnitte, Doppelseiten

Eine Erinnerung an den Bilderschaffer und Fotografen Andreas Herzau, der vor einem Jahr gestorben ist.

zweigeteiltes Bild mit Landschaft und Männern von Herzau

Text: Frank Keil
Fotos/Collage: Andreas Herzau, Helvetica, NIMBUS. Kunst und Bücher, Wädenswil 2017

 
(…) Er hatte noch etwas anderes auf dem Herzen, und das wollte er mir persönlich sagen; nicht, dass ich es irgendwie über Umwege und also zufällig erfahre: Er habe Krebs. Es sei schon ernst, aber keine Sorge: eine Spezialklinik sei bereits gefunden, in Köln. Dorthin würde er in Kürze gehen, sich behandeln lassen, er sei dort in guten Händen, in den besten. Wenn Heilung, dann dort. »Also ich sterbe jetzt nicht oder so«, sagte er am Telefon, und er klang in meinen Ohren null bedrückt. Er würde nur länger und noch etwas länger abtauchen und sich nirgendwo melden, und es würde mit Sicherheit kein Spaziergang werden, aber keine Sorge. Es werde schon. (…)

Zur gesamten Erinnerung

Rätselhafte Wesen schauen dich an. Und dann du sie.

Die Berliner Ausstellung »Still Moving« mit Porträts der niederländischen Fotografin Rineke Dijkstra nimmt uns mit in die nicht nur visuelle Welt des Werdens unserer Körper, Gesten und Erscheinungen.

Jugendliche im Park

Text: Frank Keil
Foto: Rineke Dijkstra

 
»Still Moving« mit Arbeiten der niederländischen Fotografin Rineke Dijkstra, die von 1992 bis ins eben noch präsente 2024 reichen, ist eine bemerkenswert intensive Ausstellung. Das liegt zum einen auch daran, dass die Berlinische Galerie per se ein wunderbar helles und luftiges Ausstellungshaus ist; und zum anderen hat man in diesem Dijkstras beeindruckendes Werke sehr klug gehängt. So sind diese thematisch gebündelt, es werden aber auch immer wieder sehr galant sanfte Übergänge zwischen den Themengruppen gesetzt, und so schreitet man ganz unmerklich entspannt durch die ineinander gehenden Räume. Und irgendwann – das sei versprochen – schaut man so nach links und rechts auf die anderen Besucher und Besucherinnen und dann auf sich selbst und fragt sich mehr oder weniger direkt: Und wie sehe ich aus? Wie würde ich mich geben? Wie würde ich mich zeigen und was ist dann in den Blicken der anderen von mir zu sehen? Was ist überhaupt mit mir und was ist mit uns in all den vergangenen Jahren oder mittlerweile Jahrzehnten passiert und was wird noch passieren und wie blicken wir dann in die Welt, dass sie uns sieht und anschaut?

Zum gesamten Ausstellungsbesuch