Vor der stehengebliebenen Zeit

In den Dingen, die uns umgeben, die wir zuvor gesammelt haben, ist vieles Erlebte enthalten. Um ihren ganz eigenen Zauber zu entschlüsseln, muss man später recht genau hinschauen.

Bild von Orhan Pamuk

Text: Frank Keil
Foto: Orhan Pamuk / Hanser Verlag

 
Ein besonderes Männerbuch der Woche, 43te KW, in Ausstellungsform: Die Dresdner Gemäldegalerie Alte Meister zeigt Orhan Pamuks visuell so eindringliches wie kluges Werk »Der Trost der Dinge«. Und dann wartete noch (s)ein Buch mit dem schönen Titel »Der Koffer meines Vaters«.

Zum Ausstellungsbesuch und mehr als nur einen Blick in Orhan Pamuks Werk.

Das bin noch ich

Wer sind wir, wenn wir nicht mehr das tun können, von dem wir denken, dass es uns ausmacht? Und wie finden wir das heraus?

Ein Mann spielt Geige in einem Zimmer

Text: Frank Keil
Foto: Bengelsdorf, photocase.de

 
Männerbuch der Woche, 41te KW. – Stefan Moster lässt in seinem Roman »Bin das noch ich« auf einer finnische Schäreninsel einen verzweifelten Musiker allmählich wieder zu sich kommen. Es hilft: die Natur, auch die Sonate für Violine Solo von Belá Bartók.

Zur Rezension

»Hinter den Geschichten der anderen«

Impressionen, Einfälle und Gedanken zum Jahrestag des Endes der DDR.

Text: Frank Keil
Foto: willma, photocase.de

 
Männerbücher der Woche, 40te KW. – Neben Erinnerungen an eine Kindergärtnerin mit DDR-Hintergrund wirft die Schriftstellerin Anne Rabe in ihrem wunderbaren Roman »Die Möglichkeit von Glück« einen Blick auf ein immer auch gewalttätiges Land und der nahezu prophetische Band »Wie erst jetzt die DDR entsteht«, herausgegeben von Michael Rutschky 1996, wird noch einmal aus dem Regal genommen.

 
I.
Eines Tages kam unser Sohn in einem evangelischen Kindergarten unter, bei uns um die Ecke, in fußläufiger Nähe. Für ihn waren ab nun tagsüber zwei Erzieherinnen zuständig: Steffi und Frau Hörschelmann. Steffi war eine junge Frau, geduldig und freundlich, nachgiebig und sanft. Steffi eben. Frau Hörschelmann (wir haben nie ihren Vornamen erfahren, so wie wir nie den Nachnamen von Steffi erfahren haben und wenn, haben wir ihn absichtsvoll bald vergessen) hätte vom Alter her gut Steffis Mutter sein können, und sie war vom Temperament her das ganze Gegenteil: streng und konsequent, dabei leicht bestimmerisch (wobei sie im Umgang mit den Kindern nie ungerecht und unfair war, das soll nicht unterschlagen werden).
Steffi stammte aus Hamburg, also aus dem Westen. Frau Hörschelmann hatte zuvor lange in Ostberlin/Hauptstadt-der-DDR einen Kindergarten geleitet, also im Osten und war später über irgendwelche Wege nach Hamburg gekommen (wenn ich es richtig erinnere, hatte ihr Mann nach der Wende hier einen neuen Job gefunden und sie war mitgegangen). Frau Hörschelmann und Steffi waren ein gutes Team, einerseits; und andererseits hätten (deshalb?) die Unterschiede zwischen den beiden nicht größer sein können, was insgesamt ein schönes Rätsel ergab.
Tobten etwa die Kinder unbändig über den Hof, so beim nachmittäglichen Abholen, wo Kita-Kinder nun mal am Rad drehen, nahm Steffi sich die drei, vier der Lautesten, beugte sich zu ihnen herunter, legte die Arme um sie und sprach leise und beruhigend auf sie ein, während Frau Hörschelmann auszurufen pflegte: »Benehmt euch! Wir sind doch hier nicht bei den Hottentotten!«
Meine Hinweise, die so genannten »Hottentotten«, ein Schimpfwort, seien tatsächlich eine Ethnie in Südafrika gewesen, die von den deutschen Kolonialtruppen noch vor dem Ersten Weltkrieg rücksichtslos ausgerottet worden seien, quittierte sie stets mit einem kaum sichtbaren Hochziehen ihrer Augenbrauen, dann drehte sie sich weg und scheuchte die Kinder in die Arme ihrer wartenden Eltern.
Steffi und Frau Hörschelmann – das war für uns ein unergründliches Spannungsfeld zwischen Laissez-faire und Disziplin, zwischen Strenge und Lockerheit, in das wir tagtäglich unser Kind schickten; das wir von außen nach Elternart kritisch zu beobachten versuchten (natürlich!), um gegebenenfalls einzuschreiten, was nicht nötig wurde. Denn unser Kind schien mit dem Wechselbad aus Weichheit und Härte gut zurecht zu kommen; es nahm sich offenbar, was es brauchte, ließ liegen, was es störte, und es war nun mal, wie es war, so wie wir Steffi bis zum letzten Tag mit »Steffi« anredeten und daher duzten, während es bei Frau Hörschelmann bei »Frau Hörschelmann« blieb und beim »Sie«.

II.
Eine ganze – so scheint es – Flut an Büchern ist in den letzten Monaten erschienen, die vom Leben in der einstigen DDR zu berichten versuchen. Die sich aufmachen, zu ergründen, was das für ein (seltsames?) Land gewesen sein mag, ob es noch immer (und in welcher Weise?) seine einstigen BewohnerInnen und auch deren Nachkommen, die das DDR-Leben pikanterweise nie erlebt haben, prägt und vielleicht nicht loslässt und woher (deshalb?) der tiefe Graben zwischen Ost- und Westdeutschland kommt, nicht nur, was die (möglichen?) Wahlerfolge der AfD im kommenden Jahr in Sachsen und Thüringen und überhaupt perspektivisch in den nun ehemaligen Neuen Bundesländern angeht. Plus sich schnell zuspitzender Debatten, mit zuweilen leicht absurden Fragen: Wer erinnert sich richtig? Und warum? Darf jemand mit einer Westbiografie über die DDR schreiben? Falls ja, was ist zu beachten? Oder ist das Schreiben über die DDR nur Ostlern vorbehalten? Konnte man zu DDR-Zeiten in der Elbe baden und wer tat das? Und sei es nicht an der Zeit, die Lebensleistungen der DDR-BürgerInnen einfach mal zu würdigen (Mauer und Stasi und Stacheldraht hin oder her), gewissermaßen vorbehaltlos? Und wer zieht überhaupt am Ende die richtigen Schlüsse aus dem Durchdachten, Wiedergegebenem, am Ende also weiter-Erzählten?
»Manchmal drohe ich zu verschwinden« schreibt Anne Rabe zwischendurch in ihrem Roman »Die Möglichkeit von Glück«. Das Buch steht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis, der auf der kommenden Frankfurter Buchmesse verliehen wird – und das sehr zu Recht, und ist nicht allein der Titel genial?
Also: »Manchmal drohe ich zu verschwinden. Hinter den Geschichten der anderen, hinter den Dokumenten, hinter den Büchern, die sich wie eine Mauer auftürmen.« Und weiter: »In den Jahren habe ich mir ein Fundament an Wissen zugelegt und trotzdem immer das Gefühl, dass es noch nicht reicht, dass ich mir kein Urteil bilden darf.«
Es ist dieses Nicht-reichen, dem sie folgt, dem sie misstraut, dass sie zugleich antreibt und das sie Seite um Seite weiterschreiben lässt. Und es ist »dass ich mir kein Urteil bilden darf«, das gleichfalls wie Treibstoff wirkt, wie Kraftnahrung.
Anne Rabe ist 1986 in Wismar geboren und dort aufgewachsen. Sie kam zum Theater, zum Schreiben, zum Fernsehen, so war sie als Drehbuchautorin an der RBB-Serie »Warten auf‘n Bus« beteiligt. Und sie ist als Essayistin und Vortragende unterwegs, dabei ist ihr Schwerpunkt die Vergangenheitsbewältigung der DDR, der Blick zurück, der für die Einschätzung der Gegenwart Folgen haben kann und allermeistens hat. Nun hat sie eben, die Mauer der Bücher beiseiteschiebend, einen Roman verfasst: Stine heißt ihre Protagonistin, aufgewachsen in Wismar, ohne dass im Text einmal der Stadtname fällt, so wie Stine dasselbe Geburtsjahr hat wie ihre Erschafferin und dennoch bleiben es zwei unterschiedliche Personen. Rabe gestaltet ihre Erfahrungen, ihre Recherchen, ihre Schlussfolgerungen literarisch, es kommt etwas Neues zum bisher Angesammelten hinzu: die Kraft und der Eigensinn der Fiktion.
Es ist ein Familienroman, es ist ein Ermächtigungsroman, es ist ein Deutschlandroman, es ist ein Roman auch, der von der Kontinuität des (Ver)Schweigens innerhalb der deutschen Familien erzählt und den Verheerungen, den dieses anrichtet. Weshalb sich Stine aufmacht, etwa das Leben ihres Großvaters zu erkunden, ein Soldat der Wehrmacht, der anschließend auf den sich gründenden Arbeiter-und-Bauern-Staat nichts kommen lässt, der eine gewisse DDR-Karriere absolviert, der seinem Staat lebenslang mit (wenn man so will) deutscher Treue zur Seite steht: Wer aus der DDR über die Grenze zu flüchten versuche, der wusste doch, dass auf ihn geschossen werden würde und durfte sich heute wie damals darüber nicht beschweren, was sollte und soll also die Empörung, das etwa ist ein Argumentationsstrang, dem er anhängt, dem er folgt, weil er gilt und den er der heranwachsenden Stine anbietet. Nur – was hat er selbst gemacht, während des Krieges, mit den Partisanen etwa? Und was hat er gewusst von den behördlichen Übergriffen, die nach dem Mauerfall zur Sprache kommen, warum auch endete seine Karriere so abrupt, was ist da im Detail vorgefallen? Er selbst hat darüber nicht oder nur in vagen, eher verschleiernden Andeutungen gesprochen, doch Stine lässt nicht locker. Sie nimmt den inneren Auftrag, wissen zu wollen und wissen zu müssen, an.
Sie schaut auch in ihre Herkunftsfamilie, wo Schläge und Demütigungen zum Erziehungsstil ihrer ebenfalls regimetreuen Eltern gehörten, und Anne Rabe lässt ihre Heldin auch erleben, wie schwer es ist, sich auch als Erwachsene mit bald eigenen Kindern, der (um es mit Christa Wolf zu sagen) Kindheitsmuster bewusst zu werden und dann sich ihrer zu entledigen, so wie auch davon erzählt wird, wie heilsam ein Kontaktabbruch mit der eigenen Herkunftsfamilie sein kann.
»Die allermeisten Menschen standen hinter den Gardinen«, hat Anne Rabe neulich in einem Interview kurz zu den Montagsdemonstrationen des Herbstes 1989 angemerkt, das dürfe man nicht vergessen, wenn man sich heute (vor allem im Westen) wundere, dass vom so freudig wirkenden Aufbruch der Mauerfall-Tage so wenig übrig geblieben sei und man schon immer und nicht erst heute der (westlichen) Demokratie skeptisch bis ablehnend gegenüberstehe, statt diese als Freiheitsgewinn zu verstehen und dann zu nutzen. Überhaupt ist ihr Roman auch eine grundlegende Auseinandersetzung mit den vielen DDR-Mythen, die sich durchaus im gesamtdeutschen DDR-Verständnis festgesetzt haben und gelegentlich auch von liberalen Geistern unüberprüft weitererzählt werden: Jeder hatte Arbeit, die Mieten waren billig, jeder erhielt seine Chance, der Antifaschismus war Staatsraison, die Frauen waren emanzipiert, in den Familien hatte der Staat nichts zu melden, niemand wurde bevorzugt; wer nicht mit dem Gesetz in Konflikt kam, hatte nichts auszustehen und konnte sich eines angenehmen Lebens erfreuen, und bekam einer Ärger mit Behörden und Polizei, dann wird das schon seinen Grund gehabt haben – etwa, wenn man als junger Mensch in einem der berüchtigten Jugendwerkhöfe landete. Und so stellt ihr Roman eines grundlegend in Frage: die Vorstellung, man könne in einer Diktatur unbehelligt und unbeschädigt und auch schuldfrei seinen Alltag leben, um dann auch noch hinterher zu behaupten, so schlimm sei das alles nicht gewesen, das habe man ja selbst erlebt. Und wie sie das macht, mit Rückgriffen auf die Stärken von kurzen nüchternen und eingestreuten Sachtexten und getragen von einer emphatischen, generationen-überspannenden Familien-Erzählung, das ist ganz großartig, gleichzeitig schmerzhaft und erhellend, aufrüttelnd und verstörend, aber auch tröstend am Ende. Lesen also, bitte lesen.

III.
Schnitt. Ein harter Schnitt. Und auch nicht. Und dazu geht es zurück ins Jahr 1996, da ist die DDR seit sechs Jahren auch amtlich Geschichte. Ich gehörte damals zu den Autoren, die regelmäßig das Magazin »DER ALLTAG« mit literarisch-journalistischen Beiträgen belieferten. Das Magazin zierte den schönen Untertitel »Die Sensationen des Gewöhnlichen«. Und das war Programm (sozusagen): sich nicht in den Sphären des hochdosierten Politischen zu verlieren, sondern im Gegenteil auf das Kleine im Leben dafür um so genauer zu schauen, auf das vordergründig Normale, auf das angeblich Nebensächliche, auf den Alltag eben.
Wie man sich denken kann, gab es das Magazin (das viel Lob erhielt, viel auch kollegiale Anerkennung) nicht allzu lange; zu wenig marktschreierisch, zu wenig dominanz-heischend war es im Auftreten. Und doch entstanden in kurzer Zeit wegweisende Ausgaben in einer ganz eigenen Mischung aus Essays, Interviews und Reportagen sowie Fotostrecken, etwa der Band »Wie erst jetzt die DDR entsteht«. Wie gesagt: geschrieben, produziert und verlegt im Jahr 1996. Geduldig stand der Band die letzten Jahre in meinem Bücherregal und wartete. Bis nun, bis jetzt.
Die Idee von Herausgeber Michael Rutschky zu diesem DDR-Alltags-Band war ganz einfach: Wo die DDR als Staats- und als Wirtschaftssystem im Betriebs- wie Volkswirtschaftlichen sich aufgelöst hatte, würde der Kultur die Aufgabe zufallen, das, was sich in den 41 Jahren ihres Bestehens an Lebensgeschichten der dort (damals) Lebenden nun mal angesammelt hätte, zu bewahren, zu pflegen und auch immer wieder neu zu deuten, um es so am Leben zu erhalten. Im Grunde wäre es wie in der Physik: Endet etwas, ist es deswegen nun nicht weg und nicht mehr da. Keine Materie löst sich auf, so laut es auch geknallt haben mag. Keine Energie verschwindet spurlos im Nichts und ist nie dagewesen. Sie taucht stattdessen nur an anderer Stelle wieder auf, in einem anderen Daseinszustand, das ja. Aber sie ist da. Wobei eben die Sphäre des Kulturellen getragen wird von der Sphäre des Geschichtlichen und den in ihr angelegten, auch tradierten Grundlagen von Gut und Böse, richtig und falsch – und schon steckt man mitten im Schlamassel. In seinem Editorial schreibt Rutschky daher zusammenfassend: »Diese DDR entsteht als Kultur, als eine Erfahrungs- und Erzählgemeinschaft, worin der bespitzelte Bürger dem Stasi-Informanten stets näher bleibt als dem demokratisch empörten, auf Aufdeckung erpichten Journalisten aus dem Westen.« Und das skizziert damals (1996!).
Es folgt ein Interview mit dem in Zwickau geborenen Kulturwissenschaftler Horst Groschopp, der zeitweise als ABM-Kraft an der Berliner Humboldt-Universität tätig war, der auch Umschulungskurse für Ost- und WestberlinerInnen durchgeführt hatte, wovon er erzählt; dann ein Porträt des Dramatikers Heiner Müller, eine besondere, immer wieder rätselhafte und vor allem ambivalente Ost-West-Figur mit Zigarre; dazu Reportagen über die Hausbesetzer-Szene auf dem damaligen noch nicht gentrifizierten Prenzlauer Berg (vielleicht sind sich Ost und West nie näher gekommen, denn in den schartigen und gekonnt verwilderten Hinterhofhäusern jener ersten Jahre) und manches mehr.
Ich habe damals einen Beitrag über meine Großmutter väterlicherseits geschrieben. Denn sie war Mitte der 1950er-Jahren aus einer kleinen sächsischen Kleinstadt in den Westen und dort nach Hamburg zunächst illegal übergesiedelt (dahinter steckt eine verwickelte, auch seltsame Familien-Geschichte, die ich gerade für ein Roman-Projekt zu entwirren suche). Jahrzehntelang hatte sie anschließend mit ihrem Entschluss gehadert, hatte sich nach ihrer sächsischen Heimat verzehrt, war nie in Hamburg, wo sie am östlichen Stadtrand wohnte, so richtig heimisch geworden, war im Herzen eine Ostdeutsche geblieben. Um sich dann, nachdem es die DDR nicht mehr gab und sich auch ihre Identität als Rübergemachte Jahr für Jahr mehr auflöste, man auch ob LIDL&ALDI&Co ihre Westpakete nicht mehr brauchte, mit ihrer seinerzeit in der DDR gebliebenen und gleichfalls über 80 Jahre alten Schwester zu überwerfen, getragen von einer tiefen Einsicht: »Von drüben kommt nichts Gescheites.«
Nun erst, kurz vor ihrem Tod, war sie eine Westdeutsche geworden und fand darin die Stabilität der Enttäuschten (und um Enttäuschung scheint es mir beim Aufeinandertreffen von Ost- und Westdeutschen generell zu gehen). Und ich muss bekennen, noch einmal 27 Jahre später, dass jetzt, wo ich dabei bin, die Erzählungen und Anekdoten meiner Großmutter nach und nach zu überprüfen (soweit das möglich ist, aber einiges ist möglich, erstaunlich viel sogar), stoße ich darauf, dass vieles anders gewesen ist, als sie es mir seinerzeit in ihrer kleinen Küche erzählt hat; dass sie mir bis ans Ende ihres Lebens eine damals schlüssige Lebensgeschichte aufgetischt hat, die als Geschichte stimmig und auch schön war, ist und bleibt, die aber nur zu Teilen dem damaligen Geschehen entspricht, wenn überhaupt (auch davon wird zu erzählen sein, selbstverständlich), wozu passt, dass ich diese Geschichte lange gerne geglaubt habe, wovon nun Abschied zu nehmen ist.
Und so bin ich weiterhin (wie man wohl merkt) in diesen Ost-West-Kuddelmuddel verstrickt, komme davon einfach nicht los, freue mich schon darauf, was ich wohl in noch mal 20 Jahren über all das denke, und wer weiß, was noch passieren wird, im Kleinen und im Großen, weshalb zum Schluss noch einmal Michael Rutschky zitiert werden soll, wie er sich damals einer Ahnung hingab: »Wäre das Gelände der ehemaligen DDR nicht in fünf auf ihre Abgrenzung voneinander schon stolze Einzelländer zerteilt, man könnte bald den Zeitpunkt in der Zukunft ins Auge fassen, wo die fünf Länder sich zu einer starken gemeinsamen Ostprovinz zusammenschließen, eine Föderation innerhalb der Föderation, die dem Rest der Bundesrepublik mit dem entschlossenen Selbstbewusstsein entgegentritt, welches der Freistaat Bayern seit langem vorzuzeigen liebt.«

 


 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Anne Rabe
Die Möglichkeit von Glück
Stuttgart: Klett Cotta Verlag 2023 | 384 Seiten | 24 Euro | ISBN 978-3-608-98463-7 | Leseprobe
 
Michael Rutschky (Hg.)
Wie erst jetzt die DDR entsteht. Der Alltag. Die Sensation des Gewöhnlichen
Berlin: Elefantenpress 1996 | 192 Seiten | ISBN 3885206722 | Der Band ist antiquarisch erhältlich, z.B. bei booklooker.de

Dem Zufall auf der Spur

Plötzlich wird und ist alles anders. Von einer Minute auf die andere. Können wir dennoch über unser Leben bestimmen? Also wenigstens ein bisschen?

Mann mit geschlossenen Augen in Angst

Text: Frank Keil
Foto: Karlsbart, photocase.de

 
Männerbuch der Woche, 39te KW. – Rudolf Habringer erweist sich in »Diese paar Minuten« einmal mehr als brillanter Erzähler.

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Die langweiligste Geschichte der Welt

Noch einmal wird der Sommer lebendig, dessen große und kleine Episoden oft Glück und auch Melancholie hinterlassen.

Menschen auf einem Sprungturm im Freibad

Text: Frank Keil
Foto: pontchen, photocase.de

 
Männerbuch der Woche, 38te KW. – Der Sommer ist vorbei. Es wird wieder früh dunkel. Aber es gibt ein Buch, das alles wieder hervorzaubert: die sich aufbauende Hitze und die Abkühlung, den Sprung ins Wasser und das Auftauchen, den Beginn und den Abschied von allem. Arno Frank entwirft in seinem Freibad-Roman »Seemann vom Siebener« ein sprudelndes Lebenspanorama an nur einem Tag.

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Eine Liebesgeschichte

Sich kennen lernen, sogleich verlieben und schon überlegen, den Alltag gemeinsam zu teilen – warum nicht? Nur kommen da zwei Menschen zusammen, die auch je ihr eigenes Leben mitbringen …

zwei Menschen auf einer Wiese

Text: Frank Keil
Foto: n_toy, photocase.de

 
Männerbuch der Woche, 36te KW. – Viktor Funk erzählt in »Bienenstich« gekonnt von den Irrungen, Wirrungen und immer auch tiefen Sehnsüchten von nach Deutschland eingewanderten Menschen, die sich finden und auch wieder nicht.

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Hinter dem Praterstern

Immer geht es weiter, es passiert das nächste und das nächste … Doch was ist mit denen, die nicht können oder wollen, dass das Tempo immer wieder immer weiter anzieht?

Männer in einem Wiener Caféhaus

Text: Frank Keil
Foto: martinsombrero, photocase.de

 
Männerbuch der Woche, 34te KW. – Robert Seethaler bietet mit »Das Café ohne Namen« eine das Heute berührende Zeitreise ins Wien der 1960er-70er-Jahre.

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Oh no »Oh Boy«

Der Berliner Kanon Verlag zieht seine vielgelobte Anthologie »Oh Boy« zurück – auch hier, an diesem Ort, sehr positiv besprochen. Das will erklärt und zuvor beschrieben werden.

Mann mit Stift auf der Nase

Text: Frank Keil
Foto: obeyleesin, photocase.de (Symbolbild)

 
Potzblitz – wie konnte das passieren?! Da erscheint ein Buch zum Thema heutiger Männlichkeit*en und es wird in den Feuilletons dieser Republik sehr anerkennend besprochen und durchweg sehr gelobt; auch hier auf dieser Plattform. Und nun wird es nicht mehr ausgeliefert, der Verlag zieht es zurück. Alle begleitenden Lesungen sind zudem abgesagt. Die Aufregung nicht nur in den Sozialen Medien ist groß.

Es geht dabei ausdrücklich um einen einzelnen Text, nämlich um »Ein glücklicher Mensch« von Valentin Moritz, einem der beiden Herausgeber. Darin umschreibt er einen sexuellen Übergriff gegenüber einer Frau, den er begangen hat. Ziel des Textes sei es, so erfährt man es in dessen zweiten Teil, sich zu bekennen und das Bekennen zu beschreiben, um so zu reflektieren, um so zu lernen, damit es nicht wieder geschieht. Ihm, dem Autoren nicht und anderen Männern auch nicht. Das ist die quasi literaturpädagogische Aufgabe, die sich Moritz gestellt hat.

Nur gibt es da noch etwas Anderes. Die Frau nämlich, die diesen Übergriff erleben und erleiden musste. Und sie – eine reale Frau, natürlich – hat den Autoren zuvor klar aufgefordert, über das Geschehene nicht zu schreiben. Er solle – sozusagen – das Geschehene nicht noch einmal schreiberisch wiederholen; er solle es nicht verdoppeln, er, der schreibende Täter, sich nicht erneut inszenieren, auf dass sie als das beschriebene Opfer zurückbleibt.

Der Autor hat der Bitte dieser Frau, die anonym bleiben möchte und von der paradoxerweise im Fortlauf der Berichterstattung immer mehr bekannt wird, nicht entsprochen. Er hat den Text geschrieben. Und jetzt bewegen wir uns außerhalb des Textes: er hat die Zusammenhänge gegenüber seinem Verlag offengelegt, vor der Drucklegung, wie man so sagt. Er hat sie nicht verschwiegen. Nach Auskunft des Verlages lag zunächst folgende Option auf dem Tisch: Moritz zieht sich von dem Buchprojekt insgesamt zurück. Der Verlag entschied anders. Und der Autor folgte.
Nun gibt sich der Verlag reumütig, ein großer Fehler sei es gewesen, den Text zu veröffentlichen; sollte das Buch neu aufgelegt werden, wird es daher ohne den beanstandeten Text erscheinen. Ich wage mich mal kurz aus dem Fenster: nach dem Wirbel, der nicht nur in den Sozialen Medien zu verfolgen ist, ist eine Neuauflage in gedruckter Form eher unwahrscheinlich.

»Oh Boy« ist eine literarische Anthologie. Die an ihr beteiligten Autoren treten an, um sich dem Erkundungsfeld Männlichkeit*en mit literarischen Mitteln und Formen und zuweilen einer ganz eigenen Sprache zu nähern und es dann zu betreten, und sie folgen damit gerade nicht journalistischen und/oder wissenschaftlichen Standards (wo da genau die Trennlinie zur Literatur verläuft, darüber ließe sich gewiss umfassend streiten). Was berichtet wird, was Erzählstoff ist, hat sich also einerseits nicht so wie beschrieben ereignet – und andererseits eben doch oder anders oder nicht genauso oder nur so ähnlich und auch wieder nicht – und so weiter. Dabei kann man noch so viel verfremden und überschreiben: auch das Erfundene gibt es nur, weil sich zuvor etwas ereignet hat, das anschließend Erzähl-Material wird. Woher sollte dieses sonst kommen?

Ich habe den Text von Valentin Moritz gelesen, bevor ich das Buch besprach, selbstverständlich. Und ich habe diesen Text in meiner Besprechung salopp hintenüberfallen lassen, ich habe ihn einfach nicht weiter erwähnt. Nicht, weil ich schon etwas von dem Kommenden ahnte und so vorbeugen wollte, das wäre ja cool. Sondern: Ich mag diese Art von Selbstbezichtigungstexten grundsätzlich nicht. Sie berühren mich bald unangenehm. Es liegt immer ein Hauch von Eitelkeit in der Luft und zuweilen mehr als das: Ich bekenne mich schuldig und in dem ich mich schuldig bekenne und in dem ich mich selbst in aller Öffentlichkeit an den Pranger stelle, ist die Schuld schon halb abgetragen, wenn nicht weit mehr als das. Mit seiner Schuld – ich bin jetzt mal kurz böse – hausieren zu gehen und sie für sich öffentlich anzunehmen, um daraus ein Thema zu entwickeln, für ein Buch, für einen Film, für was auch immer, ist selbstverständlich ein legitimes Vorgehen. Es ist nur einfach nicht mein Fall. Andere entscheiden da anders. Als Leser*innen und eben als Autor*innen.

Wobei – das meine ich auch jetzt, wo das Buch nochmals aufgeschlagen neben mir liegt und ich in diesen Text noch einmal lesend geschaut habe – mir schien und scheint, als ob dem Autor von Anfang an selbst nicht ganz wohl war bei seinem Besserung-durch-Geständnis-Projekt. Zu unklar, zu verwirrend, vor allem zu abstrakt umschreibt der Text das Geschehene, ohne es in seinem Kern zu berühren, und das macht es einem alles andere als leicht, zu verstehen, um was es ihm eigentlich geht: Es ist schlichtweg unabhängig davon, ob es okay ist, einen solchen Text zu schreiben, er bleibt ein schwacher und zielloser und oftmals auch pathetischer Text, der mich erneut ratlos zurücklässt.

Und nun? Ich will mich um eine Antwort nicht drücken: ja, man darf als Täter (was immer jetzt Täter im Einzelfall ist; es ist auf jeden Fall ein Wort, vor dem wir sofort in die Knie gehen) in literarisierter Form über seine Tat schreiben. Die Frage ist: wie, also in welcher Form? Und die Frage ist: warum, was ist der Zweck? Und drumherum gibt es die Gesetze, denen man sich gegebenenfalls stellen muss, die dann entscheiden und die über jeglichen moralischen Forderungen stehen und werden diese noch so vielfältig über die Sozialen Medien gestellt (die Literaturgeschichte ist voll von Prozessen und Urteilen, ob ein Text oder Buch veröffentlicht werden darf). Und ebenso gilt: Nicht alles, was man darf, sollte man auch tun. Und oft ist man gut beraten, von sich aus zu verzichten.

Und zum anderen Grundsätzlichen. Wie umgehen mit Stoffen, in denen es nun mal angelegt ist, dass mitmenschliche und zwar heftigste Kollisionen ins Zentrum rücken und sich mehr oder weniger deutliche Erkennbare zu Wort melden und für ihr Recht auf Nichterwähnung plädieren: Romane über die Kindheit, Erzählungen über eine gescheiterte Ehe oder Liebe oder Affäre, um kurz das Naheliegendste zu nehmen? Die Literatur ist auch davon voll; sie existiert von ihr. Und so verlangen die Fragen nach den Bedürfnissen und Interessen von Beschriebenen nach literarischen Antworten, die immer wieder neu gestaltet und riskiert werden müssen.

Ein Beispiel, um das Feld kurz zu erkunden: In letzter Zeit ist dankenswerterweise ein Schwung von Romanen und Erzählungen jüngerer Autor*innen mit migrantischen Wurzeln und entsprechenden Lebensgeschichten erschienen. Die dort beschriebenen Väter und Mütter kommen nicht immer gut weg. Manchmal kommen sie gar nicht gut weg. Werden zuweilen sehr drastisch und konsequent und deutlich in ihrer Unfähigkeit beschrieben, ihren damaligen Kindern eine Orientierung zwischen den verschiedenen Lebenswelten zu bieten, in denen sie sich zurechtfinden mussten. Literarisch wird das erzählt, wird angeklagt, wird auch gewütet und geschimpft, literarisch wohlgemerkt. Aber eben auf Grundlage persönlicher Erlebnisse und Erfahrungen und auch Verletzungen, aus denen Textdateien wurden.
Ältere werden sich an die so genannte Väter-Literatur der 1980er-Jahre erinnern, was wurden da die Väter der Kriegsgeneration von ihren 1968er-Kindern literarisch verdroschen! In den letzten Jahren erst weitete man den Blick, und zwar auf die Traumatisierungen hin, die diese Väter selbst erlebt hatten, auf ihre womögliche Unmöglichkeit, die erlebte Gewalt in Erziehung und Krieg und Alltag einigermaßen zu verarbeiten, statt sie mehr oder weniger linear an ihre Kinder und besonders an ihre Söhne als eine Art Double weiterzugeben, die sich nun damit abmühen mussten und dabei zur Schreibmaschine fanden. Viel Zeit, auch Nachdenkenszeit musste vergehen, damit dieser zweite Blick, der Blick auf das Dahinter möglich wurde. Heute ist man auch literarisch schlauer – und empfindsamer und gnädiger und also weit weniger rigoros.

Ich schaue nochmal in den Text von Valentin Moritz, lese, blättere weiter, lese; zwei-, dreimal habe ich den Satz »Das ist doch eher ein Sturm im Wasserglas« hingetippt und besser wieder gelöscht. Kein Frauenname fällt, kein Ort wird beschrieben, in dem jener Übergriff geschah. Wir Lesende werden in keine Wohnung geführt, kein Bett steht in irgendeinem Raum mit Schreibtisch, Pflanzen und Bücherregal, noch sonst etwas. Was wir über den Übergriff erfahren, der doch der Grund für diesen Text ist, ist rein Gedankliches und dieses Gedankliche ist fast ausschließlich selbstreflexiv und tendenziell selbstgefällig: »Ich rede noch immer um den heißen Brei herum. Dabei glüht der ganze Text längst vor Schamesröte«.
Oh, nein, der Text glüht nicht vor Schamesröte. Der Autor mag beim Schreiben geglüht haben, das glaube ich gerne und sofort. Doch es hat ihn offensichtlich nicht herausgeführt aus einem inneren und kalten Durcheinander von Anspruch und Wirklichkeit, das eingefasst ist von einer Rahmenhandlung, wo junge Männer irgendwo am Strand von Usedom Frisbee spielen. Wenn man dem Text eine inhaltliche Unangemessenheit vorwerfen muss, dann wohl eher die, dass der Autor einen körperlichen Übergriff gegen eine Frau in ein selbstbezogenes Gedankenspiel während eines heiteren Sommermoments überführt, wo junge, unbedarft wirkende Männer einer Plastikascheibe hinterherrennen wie junge Hunde. Führt dieser Weg irgendwohin?

Vielleicht hätte Moritz es bei seinem Projekt der Enttarnung unangenehmer bis schä(n)dlicher Männlichkeit einfach eine Nummer kleiner angehen lassen sollen. Bescheidener, zurückhaltender und in der Themen-Beispiel-Wahl demütiger. Warum musste es – ich bin mal kurz zynisch – ausgerechnet eine der Königsdiziplinen der toxischen Männlichkeit sein: der sexualisierte Übergriff? Wie viel erhellender wäre es gewesen, für uns, für ihn, wenn er sich die Frage gestellt hätte: »Warum muss ich mich unbedingt so in mein Thema verbeißen?« Wenn er sich als Mann gefragt hätte: »Warum kann ich nicht sagen: Okay, dann geht das eben nicht; dann kann ich die Geschichte nicht so, wie von mir gewünscht, schreiben.« Die Welt ist voll von Männern, die nicht aufhören können: ob sie nun bis spät in die Nacht das Bad neu fliesen, ob sie noch am Geschäftsbericht sitzen, obwohl die Sonne aufgeht und ob sie die Strecke Berlin-Adria in einem Rutsch zu fahren sich vorgenommen haben und das dann auch tun.

Tja. Noch mal: Was fangen wir nun an mit dem Schlamassel? Da fällt mir – Kunstgriff – noch ein Buch ein, dass ich vor einigen Jahren hier auf den MännerWegen besprochen und empfohlen habe, 2017 war das, so lange ist das her? Egal. »Ich will dir in die Augen sehen« von Thordis Elva und Tom Stranger führt dem oben Beschriebenen gegenüber nun wirklich in das Zentrum eines Sturms, mit anfangs ungewissen Ausgang: Eine Frau trifft nach Jahren den Mann wieder, der sie einst vergewaltigt hat, und es folgt das Protokoll einer Wiederbegegnung, damit man am Ende für immer auseinander gehen kann. Ich schaue schnell mal nach: Oh, es ist noch erhältlich

PS: Und Valentin Moritz? In was hat er sich da nur reingeritten und warum hat ihn sein Verlag – offenbar – so wenig bis falsch beraten? Ich jedenfalls wünsche ihm an dieser Stelle hier von Herzen, dass er das alles gut übersteht: die berechtigte Kritik, wohl auch die Scham, die nicht ausbleiben dürfte; die Anwürfe, die Beschimpfungen auch, die es bestimmt gibt, und er heil dabei bleibt. Das fällt uns Männern nämlich gar nicht so leicht: einzugestehen, dass so etwas passieren kann und dann daraus zu lernen, im nun endlich eigenen Tempo.

Nachrichten von Carola und andere Unglücke

Sommer. Ruhe. Ausspannen. Nur was liest man, das einerseits nicht allzu anstrengt, andererseits doch solide Kopfnahrung bietet? Vier Titel bieten sich an.

Mann und Frau lesend Rücken an Rücken am Strand

Text: Frank Keil
Foto: owik2, photocase.de

 
Männerbücher der Woche, 32te und 33te KW. – Heinz Strunk schaut nach einem gelben Elefanten, Kerstin Ekman lässt in »Wolfslichter« einen Mann in eine Lebenskrise stürzen, die Literaturanthologie »Hamburger Ziegel« widmet sich (nicht nur) den Vätern und Thilo Krause bezaubert mit seinen (gleichfalls nicht nur) erzgebirgischen Gedichten.

Zu den Rezensionen

Alles ist zu viel

Ein Brief von Herrn H., die Nachwirkungen von Corona und warum wir alle so dünnhäutig sind.

viele Keulen, Ringe, Pömpel und eine Puppe aus der Sesamstraße werden in den Himmel geworfen

Text: Frank Keil
Foto: pylonautin, photocase.de

 
Herr H. hat mir geschrieben, er schreibt mir einmal im Jahr, stets zwischen Ende Juli und Anfang August. Seinem Brief liegt dann die von ihm abgezeichnete rote Zählerkarte und die Abrechnung bei, wie viel für Strom ich ihm diesmal überweisen muss, die Beträge schwanken zwischen 15 und maximal 30 Euro. So viel an Strom habe ich dann in dem betreffenden Jahr verbraucht, für den elektrischen Rasenmäher, für die elektrische Heckenschere, für ein wenig Licht am Abend, wenn es Herbst wird oder noch nicht Sommer ist, für meinen Laptop, denn in meinem zugewucherten Kleingarten im Norden der Stadt fahre ich gerne und am liebsten zum Schreiben. Es gibt dort kein Wlan, der Handy-Empfang ist schlecht, ich habe meine Ruhe und kann an meinen Sätzen feilen oder auf der Suche nach Eingebung kreativ in den Himmel starren.

Am 1. Juli eines jeden Jahres ist der Termin zum Ablesen des Stromzählers. Man schaut sich die Ziffern auf dem Stromzähler an, trägt sie in die Karte ein, dann geht man zu Herrn H.‘s akkurat bepflanzter Parzelle, wo an der Eingangspforte ein kleiner, blecherner Briefkasten hängt, und man wirft die ausgefüllte Zählerkarte dort hinein. Und Herr H. rechnet dann aus, was man diesmal zu bezahlen hat, so ist der Ablauf. Es ist eigentlich ganz einfach und nicht weiter kompliziert. Nur – ist man nicht unbedingt am 1. Juli in seiner Parzelle. Und wenn, hat man vielleicht seine Karte zuhause gelassen (bei mir liegt sie in der Schublade meines Schreibtisches, ich brauche für die wichtigen Dinge einen festen Ort). Oder man vergisst es einfach, Alltagsmensch der man ist. Denkt sich: ‚Ach, das mache ich am Wochenende‘. Und dann war Wochenende und irgendwie ist man nicht dazugekommen, man hat sich um irgendetwas anderes gekümmert, während Herr H. auf die Karte wartet. Herr H. ist für die Parzellen der Nummern 82 bis 132 zuständig, er wartet also auf die Zählerkarten von 50 Kleingärtnern und Kleingärtnerinnen.

Herr H. schreibt: »In diesem Abrechnungsjahr fehlten mir am 17.7.2023 noch 21 Zählerkarten, das sind 42%, ein trauriger Rekord!« Überhaupt schwappt einem aus dem kurzen Brief, der diesmal der zurückgesandten Zählerkarte beiliegt, sehr viel mühsam unterdrückter Ärger entgegen. »Vielleicht klappt es ja beim nächsten Termin besser«, schließt er leicht resigniert.

Zufällig (wenn es Zufälle gibt, eine Frage für sich) trudelt Herrn H.‘s Brief ein, da lese ich gerade einen Essay von Klaus Hurrelmann in der »Süddeutschen Zeitung«. Ich habe einiges von ihm während meines Studiums gelesen, was immer klug und bedenkenswert war. Hurrelmann ist salopp gesagt der Erfinder der »Shell-Jugend-Studie«, die man getrost als wegweisend bezeichnen darf. Mittlerweile ist er 79 Jahre alt und noch immer forschend tätig, etwa mit der Nachfolge-Studie »Jugend in Deutschland«. In seinem Essay schlägt er einen weiten Bogen vom aktuellen Umfrage-Erfolg der AfD über die Siegeszüge der Rechtspopulisten in diversen Ländern und Regionen hin zum schwachen Bild der Ampel-Koalition und weiter geht es zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie. Er konstatiert eine weitverbreitete pessimistische Stimmung in der Bevölkerung; Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit hätten sich festgesetzt und würden nicht weichen. Und eine Krise jage die andere. Vielen ist vieles zu viel. Er schreibt: »Viele Menschen aller Altersgruppen sind erschöpft, am Rande ihrer psychischen Kräfte. Sie bräuchten dringend Ruhe und Schonung, um sich zu regenerieren und ihre ‚Freudlosigkeit‘ zu überwinden. Genau das aber ist ihnen nicht möglich.« Und so würden sich politisch wie im Privaten immer mehr die Kräfte durchsetzen, die auf komplizierte Fragen behaupten einfache Antworten zu wissen, denen man nur folgen müsse und dann sei endlich Ruhe und Schutz vor allem.

Und er entdeckt Anzeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung, der Einzelnen wie der bundesdeutschen Gesellschaft generell. Natürlich ist ihm bewusst, dass es nicht unheikel ist, eine am Ende psychiatrische Diagnose auf die Gesellschaft und ihre einzelnen Felder per se anzuwenden. »Man muss mit der Metapher der posttraumatischen Belastungsstörung vorsichtig sein, das sehe ich auch. Aber meine Idee ist ja nicht, diese Menschen zu pathologisieren, sondern zu zeigen, dass Politik mit dieser nachvollziehbaren Verunsicherung und Orientierungslosigkeit der Menschen umgehen muss. Und das nicht nur rational«, sagt er in einem nachfolgenden Interview zu seinen Überlegungen in der »taz«. Er sagt weiter: »Alle Erfahrungen aus der Psychiatrie sagen, dass eine posttraumatische Belastungsstörung heilbar ist. Das braucht Zeit, der wichtigste Schritt ist, wieder die Kontrolle über das eigene Leben zu gewinnen.« Und: »Dazu muss ich das Trauma, das mich umgeworfen hat, verstehen. Ich muss anerkennen, dass es jetzt Bestandteil meines Lebens ist und ich damit leben muss.«

Ich kann damit viel anfangen. Treffe ich mich mit Freunden, Freundinnen, Bekannten oder Kolleg*innen, sprechen wir bald über Corona, obwohl das doch eigentlich so lange her ist, aber wann war Corona noch mal genau und wie waren die einzelnen Phasen? Wir erzählen uns, wie schnell uns etwas aus der Fassung bringt, wie dünnhäutig wir geworden sind und auch, dass wir uns regelrecht zwingen müssen, wieder mehr unter Leute zu gehen, auf Partys und Feste. Und dass irgendwie kein Ende in Sicht ist (da sind wir dann meistens bei Donald Trump angekommen und sagen gleichzeitig Sätze wie »Ist doch schlimm, dass dieser Arsch uns so beschäftigt, das ist doch nicht okay, oder?«). Und wir listen auf, was uns fassungslos und wütend macht, was nichts anderes ist als eine Umschreibung dafür, wie hilflos und ausgeliefert wir uns fühlen: dem nicht endenden Krieg in der Mitte Europas gegenüber, die längst gekippte Stimmung in weiten Teilen Ostdeutschlands, die immer härter werdende Politik gegenüber Geflüchteten (heute morgen wurde im Radio der tunesische Innenminister zitiert, dass es stimme, dass man in seinem Land afrikanische Geflüchtete zurückschicke und in der Wüste aussetze, aber es seien nur wenige, also nicht viele, und die Toten, die man entdeckt habe, seien nicht auf tunesischem Staatsgebiet aufgefunden worden) und vielleicht ist ja auch dieser Text wenigstens zum Teil von einer KI geschrieben worden, die nächste, noch gar nicht einzuschätzende Bedrohung nicht nur für Menschen meiner Zunft. Und schaue ich ganz für mich in die wirklich gute Pflegeeinrichtung meiner bald 90-jährigen Mutter und wie man dort mit dem Personalmangel und den monatlich steigenden Kosten kämpft und denke ich dann an mein Älterwerden, oh je …

Oder vor zwei Tagen auf einer Redaktionskonferenz; wir kennen uns dort alle gut und sind uns recht vertraut: Ein Kollege erzählte, er schaue abends keine Nachrichten mehr. Nicht die »Tagesthemen«, nicht das »Heute-Journal«. Nicht aus Prinzip oder so; nicht aus Misstrauen gegenüber den Medien, was man manchmal zu hören bekommt. Sondern sozusagen aus dem Gegenteil heraus: Die ja fundierte und ausführliche Berichterstattung über den Krieg gegen die Ukraine, die derzeit und bis auf weiteres kaum absehbaren Folgen der Klimakrise, die lokalen Kriege und politischen Krisen in allen Teilen der Welt, die gesellschaftliche Spaltung bei uns, dazu das Zögern der Politik, er wolle gerade das nicht mehr sehen. Er könne nicht mehr. Er komme selbst nicht mehr aus dem Krisen-Modus heraus, es mache ihn nur hilflos und wem sei damit geholfen. Hurrelmann sagt dazu: »Wichtig ist dabei, dass ich nicht ständig an das Ohnmachtsgefühl erinnert werde.« Und so gesehen macht es der Kollege für sich genau richtig.

Herr H. hat seine Art gefunden, seinem Ärger auf die Welt, seinem Frust und wohl auch seiner Enttäuschung Luft zu verschaffen. Er berechnet uns Kleingärtner*nnen diesmal je eine »erhöhte Aufwandpauschale« für den »erheblichen Mehraufwand« in Höhe von vier Euro. Das geht in Ordnung, ich habe ihm gleich heute morgen als allererstes das Geld überwiesen. Jede und jeder braucht derzeit unbedingt sein Ventil.