»… von Männern nicht nur Veränderung fordern, sondern auch etwas für sie, besser mit ihnen tun.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Gunter Neubauer, Tübingen

Junge mit Schaufel am Strand

Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Redaktion: Alexander Bentheim
Fotos: Aridula, photocase.de | privat

 
Gunter, was war oder ist dein persönlicher, biografischer Zugang zur Jungen-, Männer- und Väterthematik? Und was dein politisch-thematischer Zugang?
In meiner Jugendzeit war ich in einem Jugendverband aktiv, bei den Pfadfindern. Es war die Zeit, in der »Der Tod des Märchenprinzen« kursierte, ein autobiographischer Roman von Svende Merian. Eines Tages teilten uns die Frauen in einem Gremium mit, dass sie sich beim nächsten Mal ohne uns treffen würden. Wir fanden das ziemlich seltsam und waren enttäuscht. Aus Trotz beschlossen wir, es ihnen gleich zu tun und uns auch mal nur unter Männern zu treffen. Irgendeiner hatte wohl auch schon was von Männergruppen gehört. Und siehe da: Wir kamen ganz gut ins Gespräch. Es war irgendwie anders als sonst, aber auch gut – so gut, dass wir das dann eine ganze Zeitlang beibehalten haben, mit Gesprächen, Wanderungen, Saunabesuchen usw. Dabei ging es um uns, um die Frauen, ums Mannsein und um vieles andere. Nicht so ganz sortiert, aber ein Anfang. Dem Miteinander hat es nicht geschadet, im Gegenteil.
Eine eigene Erfahrung waren auch meine Jahre als Erzieher in einer Kita, nämlich als erster männlicher Kollege dort überhaupt, mit über 20 Kolleginnen; die spezielle Geschlechterdynamik, die in so einer Konstellation entsteht, das Interesse der Jungen und Mädchen an mir »als Mann«, was man nicht ignorieren, aber auch nicht einfach bedienen will. Was ich damals für mich gelernt habe, versuche ich noch heute an Jüngere weiterzugeben.
Auf politischer Ebene haben mich zwei Zugänge mobilisiert. Einmal Diskussionen Ende der 1990er Jahre darüber, dass es eine Jungen- und Männerpolitik gar nicht braucht, ja streng genommen nicht einmal geben kann. Ich war da anderer Meinung, und zum Glück sind wir heute doch etwas weiter. Eine noch stärkere Wirkung hatte aber die Initiative für einen ersten deutschen Männergesundheitsbericht ab 2001, genauer gesagt die damals insgesamt ablehnende Haltung der Politik und die dabei vorgetragenen, aus unserer Sicht ziemlich fragwürdigen Argumente, noch nachzulesen auf den Seiten der DIEG. Das führte 2005 auch zur Gründung des Netzwerks Jungen- und Männergesundheit. Unsere Forderung von 2021 – nämlich: »Deutschland braucht eine Männergesundheitsstrategie!« – zeigt, dass es hier immer noch einiges zu tun gibt.

Was waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen, Männern und/oder Vätern?
Dass man von Männern nicht nur Veränderung fordern kann, sondern auch etwas für sie, besser mit ihnen tun muss. Dass man durchaus vorhandene Veränderungsbereitschaft und Veränderungswünsche von Männern entsprechend aufnimmt und unterstützt. Gelandet bin ich damit bei der Männergesundheitsförderung, da gilt ja das Gleiche: Nicht nur Problemdiskurse führen, sondern auch Ressourcen, auch manche Bedarfe anerkennen und mit den noch offenen Potenzialen arbeiten.

Wie hat sich dein Engagement für Jungen, Männer und/oder Väter entwickelt, ggf. verändert?
Meine erste Berufserfahrung war ja die als Erzieher in der Kita. Von dort aus lag die Beschäftigung mit Jungensozialisation und Jungenpädagogik nahe. Ich hatte vielleicht auch die Idee, dass man am besten früh anfängt, also bei den Jungen, wenn man was erreichen will. Heute sehe ich das entspannter – die machen eh ihr eigenes Ding. Wichtiger finde ich mittlerweile, dass die erwachsenen Männer erst mal ihre eigenen Aufgaben anpacken, dass sie bei sich selbst anfangen, sich besser verstehen lernen, sich mit sich selbst und untereinander auseinandersetzen. Ich habe heute auch mehr mit erwachsenen, mit älteren Männern zu tun und weniger mit den Jungen. Und das Körperliche ist mir wichtiger geworden, ich finde da einen guten Zugang für mich in der Eutonie.

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche/historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Ich erinnere mich, dass ich die Mondlandung mitansehen durfte. Irgendwie schien jetzt alles möglich. Auf der anderen Seite die Erfahrung als Babyboomer, dass es überall voll, dass da schon jemand anderes ist. Der Deutsche Herbst. Diskussionen um Atomkraft und Nachrüstung. Kriegsdienstverweigerung und Musterung, ein Platz in der großen Menschenkette 1983. Deprimierende Besuche in der DDR. Dann etwas zunächst eher Persönliches: Nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 1991 habe ich beim Standesamt mit einem Doppelnamen den Antrag gestellt, wieder nur mehr meinen Geburtsnamen verwenden zu dürfen. In diesem Zusammenhang habe ich dann angefangen, mich mit der Rechtsgeschichte der Gleichstellung zu beschäftigen – vom Frauenwahlrecht 1918 über Art 3 (2) Grundgesetz und die lange noch verfassungswidrigen Bestimmungen des BGB bis hin zur »Ehe für alle« und der »Dritten Option« im Personenstandsgesetz. Die Ergänzung von Art 3 (2) GG in 1994 – nämlich: »Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.« – und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz von 2006 hatten auch berufliche Folgen, z.B. in Projekten zum Gender Mainstreaming oder im Bereich Antidiskriminierung.

Wichtige persönliche Erfahrungen im Zusammenhang mit deinen privaten und beruflichen Beziehungen?
Der frühe Tod meines Vaters 1999. – Eine Schwitzhütte zum Abschluss unseres Projekts Jungenpädagogik 2000. – Der definitive Eintritt in die berufliche Selbständigkeit mit der Gründung von SOWIT 2003. – Die Fahrradtouren mit meinen Neffen. – Der Schreck über die Silberhochzeit: Was, schon so alt?! – Neue Aufgaben als Pateneltern. – Die Besuche unserer Großneffen. – Die Pflege von Mutter und Schwiegermutter.

Drei Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und/oder Beziehungen zu anderen ausmachen?
Klar, entschieden – ausdauernd, beständig – mal gründlich, mal flott.

Was ist für dich »Erfolg« in deiner Auseinandersetzung mit Jungen-, Männer- und Väterthemen? Hast du Beispiele?
Halbwegs gut durch‘s Leben kommen und dabei möglichst wenig Schaden anrichten – bei mir selbst, bei anderen, für die Nachwelt.

Was gibt dir persönlich Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen?
Zusammen mit anderen etwas bewegen, sich wirklich begegnen, feiern, sich ausruhen.

Was ist dir (mit) gelungen, worauf bist du (zusammen mit anderen) vielleicht auch stolz?
Gelungen: mich zu beheimaten. Stolz: nicht so mein Ding; mir reicht »zufrieden, wenn’s läuft«.

Mit welchen Institutionen und Personen warst du gerne beruflich oder privat verbunden oder bist es noch?
Das gibt eine ganz lange Liste – ich nehm‘ das lieber als Anstoß, das denen bei nächster Gelegenheit mal wieder selbst zu sagen …

Was hat die Männer/* ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast?
Das klingt ja wie eine Aufforderung zum Nachruf – zum Glück leben die allermeisten noch! Aber im Ernst: Die Männer sind bei genauerer Betrachtung so vielfältig wie das, was alles auf einer schönen Wiese lebt. Was sie vielleicht verbindet, ist die Auseinandersetzung mit sich selbst und der Wunsch, dass es irgendwie besser wird mit dem Mannsein, mit der Gesellschaft, mit der Welt.

Hast du eine Lebensphilosophie, ggf. ein Lebensmotto?
Eher nicht – meine 92-jährige Schwiegermutter hat uns kürzlich auf dem Sterbebett mitgegeben: »Kinder, bleibt flexibel!« Und als ich sie mal fragte: »Mutter, was hältst du eigentlich von feministischer Außenpolitik?«, war ihre Antwort: »Warum nicht?!«

Wo siehst du Brüche in deinen beruflichen oder freundschaftlichen Beziehungen? Wodurch wurden diese verursacht?
Ja, die gibt’s. Vielleicht auch, weil man denkt und dachte, wir sind doch alle die Guten, wir haben im Grunde das gleiche Interesse, ohne die übliche Konkurrenz. Enttäuscht bin ich vor allem, wenn dann plötzlich doch wieder der persönliche oder institutionelle Vorteil zählt. Oder wenn ich das Gefühl habe, dass man mich hängen lässt. Manches hat sich aber auch wieder eingerenkt, zu Kündigungen kam’s selten.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis vom Umgang mit Jungen-, Männer- und Väterthemen?
In uns selbst.

Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deiner Arbeit an?
Ganz allgemein gute Rückmeldungen und Anerkennung für das, was ich mache. Mein Engagement und meine Aktivitäten verlegen sich aber – durchaus altersentsprechend – zunehmend an meinen Wohnort und in den sozialen Nahraum. Dort geht’s dann oft weniger um die ganz großen Projektionen, sondern mehr um das Sichtbare, Spürbare, Konkrete. Große Freude macht mir auch der Umgang mit Tieren und die körperliche Arbeit im Naturschutz.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest? Und was möchtest du gegen Ende deines Lebens erreicht haben?
Mein Projekt wäre, mich gleich morgen auf‘s Rad zu setzen und in Etappen so lange zu fahren – am besten nicht alleine –, bis das Meer zu sehen ist. Dann schwimmen, noch eine gute Rückfahrt und ungefähr so weiter machen wie bisher. Aber letztlich möchte ich erreichen, dass ich nichts mehr erreichen muss.

Eine nicht gestellte Frage, die du aber dennoch gerne beantworten möchtest?
Lieber mal daneben liegen als immer nur vorsichtig? – Ja!

 
 

 
 
 
 
 
 
:: Gunter Neubauer, Jg. 1963, Tübingen-Hirschau. Diplompädagoge, Erzieher u.v.a.m., www.sowit.de.

»Ein ganzer Mann ist bloß ein halber Mensch.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Thomas Scheskat, Göttingen

Zwei Männer mit Gesichtsbemalung
Interview und Redaktion: Alexander Bentheim
Fotos: stefan m., photocase.de | privat

 
Thomas, was war dein persönlicher, biografischer Zugang zu Jungen-, Männer- und Väterthemen? Und was dein politisch-thematischer?
Ich würde meine Antwort in drei Ebenen differenzieren, auch wenn sie alle eng miteinander zusammenhängen. Persönlich sind für mich Unterlegenheitserfahrungen als Junge wichtig gewesen, in Ringkämpfen oder Prügelauseinandersetzungen wusste ich mich nicht durchzusetzen, hatte davor auch immer Angst. Gleichaltrige oder auch Ältere habe ich oft als gemein und unfair erlebt, weil es um Herausforderungen und Angriffe ging, um Dominanz und Einschüchterung, was die Angreifenden wie als Beweis für ihre Stärke benutzt haben. Das hat mich geängstigt; erst später habe ich mir über diesen Zusammenhang viele Gedanken gemacht. Mit Angreifenden und um Überlegenheit Bemühten wollte ich mich also nie identifizieren, und das hatte auch viel mit meiner Familienerziehung zu tun, wo es eher um Fairness oder korrektes Benehmen ging, was ja grundsätzlich gut ist – nur auch mit der Schattenseite, zu brav zu sein und nicht wirklich Strategien gelernt zu haben, wie man sich trotzdem verteidigen und durchsetzen kann.
In diesen persönlichen Bereich gehören in der zweiten Ebene auch die Erfahrungen mit Freundinnen, die unter ihrem Frau-Sein irgendwie mehr leiden mussten als ich unter meinem Junge-Sein beziehungsweise Mann-Werden. Das ging los mit solchen »Phänomen« wie deren Periode oder Benachteiligungen in der Schule, wenn es etwa hieß, Mädchen seien halt nicht so gut in Mathematik. Das ist mir immer schmerzlich aufgefallen. Trotzdem wurde ich als Junge sozialisiert, das heißt, auch »reingeknetet« in dieses subjektive Gefühl, als Mann »natürlicherweise« irgendwie überlegen oder privilegiert zu sein. Im späteren Alter waren dann meine Freundinnen frauenbewegt-feministisch unterwegs, und ich bekam aus deren Umfeld ziemlich Gegenwind. Also Kritik und zum Teil auch Hohn und Spott für alles, was als mackerhaft oder, wie wir heute sagen würden, »toxisch männlich« empfunden wurde. So entstanden meine Motive, mich zu ändern, gerne anders sein zu wollen, so dass ich diesen Frauen gefalle oder sie mich mindestens akzeptieren; das war allerdings oft auch vergeblich. Aber es hatte einen Antrieb gesetzt, mich nach neuen Identifizierungsmöglichkeiten umzuschauen. Und die fand ich dann in Männergruppen durch die Begegnung mit Männern, die ebensolche Veränderungswünsche hatten.
Auf der dritten Ebene, die ich die größere politische-historische Wetterlage nennen würde, waren diverse Kriegsgeschichten sehr bedeutsam – mein Großvater, der im 2. Weltkrieg in Russland umgekommen war, mein Vater, der als Jugendlicher bei der FlaK dienen musste, dort lebensgefährlich unterwegs war und auch Klassenkameraden sterben sah. Dann seine eigene Jungmann-Geschichte, wie er sich aus diesen Kriegswirren rausbewegt und ins neue westdeutsche Nachkriegsleben hineingefunden hat. All das hat mich mitgeprägt, hatte einerseits Vorbildcharakter, enthielt aber auch Aspekte von einem negativem Vorbild, von dem ich mich abgrenzen wollte. Den 2. Weltkrieg habe ich grundsätzlich als Katastrophe erzählt bekommen, die sich nicht wiederholen möge. Dann folgten Konflikte, die ich schon mit dem eigenen Verstand wahrnehmen konnte, wie etwa der Vietnamkrieg. Und letztlich bin ich zu einer pazifistischen Einstellung gelangt, allerdings nicht im klassischen Sinne – weil ich entschieden hatte, ich könnte mich nicht auf eine radikalpazifistische »Seeleninsel« retten und anderen, ginge es um eine Landesverteidigung, die gewissensbelastende Drecksarbeit überlassen. Heute nenne ich pazifistisch, was sich auf die Ablehnung jeglichen Angriffskrieges beziehen würde, aber davon trennen würde ich eine Bereitschaft zur Verteidigung. Was mich noch geprägt hat, war die Ablehnung von Aufopferungswillen für eine vermeintlich größere Sache, so wie mein Großvater für seine Heimatliebe – die er besaß, ohne Nazi zu sein, und trotzdem freiwillig mit in den Krieg zog. Mein Vater wiederholte dies dann vom Muster her, als er in der Wirtschaft durchstartete und bei seinem Aufstieg seine Gesundheit opferte.

Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen, Männern, Vätern? Wie hat sich dein Engagement entwickelt, ggf. verändert?
Als zentral sehe ich meine Erlebnisse und Wahrnehmungen von allem, was ich »Konfliktunfähigkeit« nennen würde und was mit Kommunikationsunfähigkeit zu tun hat – also mit eigenen Gefühlsspannungen eben nicht umzugehen, und wie so auch Gewalt entsteht. Ich hatte, wie schon erwähnt, eigene Erlebnisse als Kind, also wusste ich, wie sich das anfühlt, Opfer von Bedrohung oder Schlägen zu sein. Ich konnte mich von daher immer gut in Frauen hineinversetzen, die in typische Gewaltverhältnisse zu Männern geraten – typisch verstanden sowohl als die private, häusliche Familiengewalt, als auch das Bedrohtsein durch anonyme Gewalt auf der Straße oder, wie uns heute wieder deutlicher vor Augen geführt wird, im Krieg. Gewaltverhältnisse waren für mich immer zentral für die Geschlechterfragen, auch weil ich einmal erleben musste, wie eine mir nahestehende Frau Opfer einer Vergewaltigung wurde, mit Folgen, die man sich daraus nicht wünscht.
Dadurch faszinierten mich Ansätze dazu, wie mit diesen Unfähigkeiten verändernd umgegangen werden könnte. Ich habe in meinem Buch über Aggression ein Erlebnis geschildert, wie eine Rockerbande ein Schulfest an meiner Schule überfiel, ich dort einen Angriff auf einen Mitschüler mit ansah, ich den Täter der Polizei zeigte und dann später von dieser Rockerbande bedroht wurde. Warum ich diese Gewalterfahrung hier erwähne: Weil ich später durch einen Zufall wieder einigen von denen gegenübertrat, als ein Vikar einer Kirchengemeinde, der bei uns in der Schule auch Religion unterrichtete, eine Begegnung von uns Gymnasialschülern mit sozialen Randgruppen organisierte. Und so trat ich zufällig wieder einigen aus dieser Bande gegenüber, die wahrscheinlich im Rahmen des Jugendstrafvollzugs eine soziale Maßnahme abolvierten. So erfuhr ich etwas über deren Familiengeschichten und es dämmerte mir, dass nichts von nichts kommt und Gewalt Wurzeln und Ursachen hat. Diese Verständigung darüber mit den ehemaligen Tätern, die mich zuvor bedroht hatten, war schlüsselhaft für meine spätere Laufbahn als Männerarbeiter und in der Psychotherapie.
Als meine persönliche Strategie habe ich die Körperpsychotherapie entdeckt und festgestellt, dass sie nach wie vor die wirksamste Methode ist, mit Menschen an Veränderungen zu arbeiten, d.h. sie zu Selbsterkenntnis und auch zur Lust an Selbstentwicklung anzuregen. All das braucht man, um zum Beispiel Gewalttäter dafür zu gewinnen, ihre Gewaltneigungen verändern zu wollen. Dies habe ich seit nunmehr 22 Jahren im Rahmen einer psychiatrischen Klinik mit Straftätern direkt erproben und weiter ausgestalten können.
Darüber hinaus engagierte ich mich im Verein »Woge – Wege ohne Gewalt«, eine Einrichtung zum Verantwortungstraining gegen häusliche Gewalt, die ich mitgegründet und deren Arbeit ich mit entwickelt habe. Häusliche Gewalttäter bekommen hier die Chance, durch ein Training von Strafverfolgung befreit zu werden. Dabei geht es auch um männliche Identität: womit identifizieren sich Männer? Was prägt ihr Selbstverständnis? Und wie entsteht daraus Schaden, körperlich und seelisch für sich selbst, und auch für ihre Beziehungen? Wenn diese Identifizierung bei jemandem sehr eng ist und er vieles andere – etwa das vermeintlich Weibliche und Kindliche – aus dem Menschsein ausklammert, nennt er dann das, was überbleibt, das Männliche. Dafür verwende ich die Formel: Was man traditionell den ganzen Mann nennt, ist höchstens ein halber Mensch. Es entsteht so die Frage: Will ich ein »ganzer Mann« sein oder will ich ein ganzer Mensch sein? Dies sind Widersprüche, die man fruchtbar aufgreifen und bis zu der Frage führen kann: Wer will ich sein, was in mir will ich zum Wachsen bringen, und wofür bin ich auch bereit einzustehen? Wenn dies mir die »Entwertung« einträgt, dann angeblich kein richtiger Mann zu sein, kann ich das dann mit Selbstvertrauen und neuer Stärke behaupten? Dazu haben für mich die Milieus beigetragen, in denen ich mich bewegt habe, früher studentisch, dann wie auch immer linksgrünliberal, wo man sich auch in seinen Blasen verkriechen kann. Zum Ausgleich habe ich mit den real existierenden Männermilieus dennoch reichlich Kontakt gehabt: im Handballverein, bei der Bundeswehr, bei der Waldarbeit (weil ich auch mal Forstwissenschaft studiert habe), und zuletzt während der Jahre mit psychisch kranken Straftätern. Das alles mündet für mich in die neuzeitliche Kategorisierung von »toxischer Männlichkeit«. Ich halte sehr viel von dieser Begriffsidee, wobei ich aber auch davor warne, sie zu leichtfertig zu verwenden. Es muss gut erklärt werden, weil selbstverständlich nicht Männer an sich toxisch sind, sondern deren Männlichkeitsstereotypen. So kam ich dazu, Arbeitsideen zu entwickeln, die man vielleicht »Strategien der Entgiftung« nennen könnte, die Entgiftung von Aggression. Für mich ist dies schlüsselhaft, um an sich zu arbeiten – wenn man die Aggression weiterfasst und nicht nur als den feindseligen Angriff begreift, sondern als alles, was mit einer Handlungsenergie »angefasst« wird, um es zu verändern oder zu beeinflussen. So wie es im Wortsinn des alten »aggredi« schlicht bedeutet: herangehen, nach vorne gehen. Und das, was wir klassischerweise als Aggression bezeichnen, das nennen wir in der Arbeit dann »vergiftete Aggression«, wenn es eben sich selbst, andere oder unsere Beziehungen beschädigt. Davor bleibt aber: jede Menge Zumutung, auch der Mut, sich anderen mit seinen berechtigten Anliegen und Positionierungen zuzumuten, und zugleich eine gute Abgrenzung zur Gewalt zu entwickeln. Das ist mein zentrales Arbeitsthema, verbunden mit der Idee, dass sich so auch »toxische Männlichkeit« mit Selbsterfahrungsstrategien entgiften lässt. In diesen skizzierten Schritten – Selbsterfahrung, Körperpsychotherapie, Männerarbeit, Aggressionsarbeit – stecken auch die Veränderungschancen in meiner Herangehensweise: Menschen, die mit ihrer Handlungsenergie und Kraft konfrontiert werden, können sich klar machen, was sie damit erwirken oder anrichten. Die meisten finden das spannend und sind, wenn sie durch dieses Themenportal der Aggression gehen, auf einmal wundersam bereit, sich mit viel mehr noch auseinanderzusetzen, eben weil sie auf einmal die Arbeit an sich selbst entdecken und Lust darauf bekommen.
Eine spannende Erweiterung der Aggressionsarbeit ergab sich auch in der Begegnungsarbeit zwischen Männern und Frauen: sich insbesondere über das Thema Aggression mit den diversen Positionen in der Gesellschaft und den verschiedenen psychischen Prägungen durch Geschlechterbilder auseinanderzusetzen – um dann in den Dialog und wieder zueinander zu finden.
Meinen Weg über die Stationen »Männerbüro Göttingen« (1986) und dann die Entwicklung der Männerjahresgruppen mit dem Konzept »Mannsein – eine einjährige Forschungsreise«, die ich fast 30 Jahre lang an verschiedenen Orten mit 400-500 Männern durchgeführt habe, möchte ich nicht missen; ich sehe immer noch mit großer Befriedigung, was ich hierbei mit anderen Männern teilen konnte.

Für dich nachhaltige gesellschaftliche oder historische Ereignisse – auch im Kontext deiner Arbeit?
Früh schon, noch als Kind, hat mich der Holocaust extrem berührt, ich erinnere meine Fassungslosigkeit, als Anfang der 1960er Jahre die ersten Auschwitzprozesse begannen, und »SPIEGEL«-Serien darüber mit Fotos von KZ-Szenen, Leichenbergen und vielem mehr erschienen. Das hat mich vollkommen fassungslos gemacht, aber auch einen schnellen Einblick in die Realitäten dieser Welt gegeben. Später hatte ich viele Begegnungen in und mit der DDR, weil ich dort eine Liebesbeziehung hatte und mit dieser Frau in der DDR meinen Sohn bekam. Das »Ereignis DDR« – als Kriegsfolge mit der Spaltung Deutschlands, mit so vielen Dramen und Inkonsequenzen auf allen Seiten – historische Trennlinien, die auch quer durch unsere Familie gingen, Beziehungen über Grenzen zu haben, zu halten und auch wieder scheitern zu sehen, das hat mich auch geprägt. Und wie schon erwähnt: Pazifismus als die Ablehnung von Angriffskriegen, und Feminismus als großes Feld des Kampfes von Frauen um Gleichberechtigung mit allen Erfolgen und auch Irrtümern und Irrwegen, das fand ich für mich extrem nachhaltig.
Für den Kontext meiner Arbeit sind die erwähnten persönlichen Erfahrungen ebenso wichtig, der Überfall der Rockerbande und die spätere Begegnung mit denen als Art »schicksalhaftem Geschenk«. Bedeutsam waren meine Ambivalenz beim Wehrdienst aus Gewissensgründen wegen der nicht zu delegierenden Kriegsdrecksarbeit an andere, aber auch die entwürdigenden Erfahrung beim Wehrdienst selbst, sodass ich nach dem Wehrdienst dann noch den Kriegsdienst verweigerte. Die genannten Gewalterfahrungen gegen Freundinnen oder Frauen, die ich kannte, waren ebenso prägend wie die Erfahrungen während der Körperpsychotherapie-Ausbildung, die viele tiefe, innere Einblicke in die eigene Seele, auch Selbstkritik, ermöglicht haben. Dazu zählten auch die Erfahrung mit Kampfübungen, Boxen und Ringen hauptsächlich, aber auch Tai-Chi als »tänzerische Kampfdisziplin«, und wie man sie benutzen kann, um daraus eine gesunde Selbstbehauptung unter Einbeziehung des Rechts des Gegenübers machen zu können. Dies einschließlich einer guten Eigenpositionierung, die einen nicht wehrlos macht, aber bei der man auch nicht zum toxischen Angreifer wird. Und nicht zuletzt alles, was ich als Vater erlebt habe, vom Miterleben zweier Geburten mit allen Dramen und Freuden, Kleinkindfürsorge, enge Verbundenheit, Symbiose, Gefühle, und Auseinandersetzung mit einem pubertierenden Jugendlichen, aus der die Notwendigkeit entstand, aus Liebe zum Kind auch Autorität zu bilden und auszuüben, was eine Menge Zumutung für beide Seiten beinhaltete. All das in gesellschaftlicher und persönlicher Wechselbeziehung waren wichtige Elemente für meine Arbeit. – (eine Fortsetzung des Interviews folgt in Kürze)

 

 
 
 
 
 
:: Thomas Scheskat, Pädagoge M.A., absolvierte eine körperpsychotherapeutische Ausbildung sowie Weiterbildungen in Tiefenpsychologie, Psychotherapie mit Sexualstraftätern und Dialektisch-Behavioraler Therapie (DBT/IBT). Er gründete 1986 das Männerbüro Göttingen und 1997 das Göttinger Institut für Männerbildung mit. Seit 35 Jahren arbeitet er freiberuflich mit körperorientierten Verfahren in Männer- und gemischtgeschlechtlichen Gruppen, in Einzel- und Paararbeit sowie in Beratung und Coaching. Seit 2002 ist er als Stations- und Gruppenleiter im psychologischen Dienst der forensisch-psychiatrischen Landesklinik Moringen in Niedersachsen tätig. Er war Mitgründer und Vorstand der Beratungsstelle Wege ohne Gewalt e.V. Göttingen – Verantwortungstraining für Täter:innen häuslicher Gewalt.

Moin Ralf!

Ein langjähriger Kollege und Freund mit fundierter Beratungs- und Schreibkompetenz ist nun auch offiziell im MännerWege-Team.

Text und Foto: Alexander Bentheim


Joa, das passt. Nach so vielen Jahren immer wieder inspirierender Zusammenarbeit war diese Entscheidung füreinander nun folgerichtig.
Ralf kann – nach der Mitgründung des Göttinger Männerbüros 1986 – auf eine lange Redaktionsgeschichte zurückschauen: seit 1995 beteiligt an der Zeitschrift »paps – Die Welt der Väter«, war er auch deren Chefredakteur seit 2001, was unter seiner Leitung eine wachsende Professionalisierung der Zeitschrift nach sich zog; er verantwortete später das Väter-Dossier in »spielen und lernen – Zeitschrift für Eltern und Kinder« und schrieb den im Rowohlt Verlag erschienenen Ratgeber »Kinder machen Männer stark – Vater werden, Vater sein«. Parallel engagierte er sich ab 2009 mit Karsten Knigge vom kidsgo-Verlag und weiteren Kollegen redaktionell und mit zahlreichen eigenen Beiträgen für das Portal »väterzeit.de« und schrieb neben väterthematischen Beiträgen auch über 200 Rezensionen für »Switchboard – Zeitschrift für Männer und Jungenarbeit« und unser Portal »MännerWege« – vor allem zu Kinder- und Jugendbüchern mit dem Schwerpunkt Väter im Kinderbuch.
Darüber hinaus berichtet Ralf auch über Gesundheitsthemen, Schwerpunkt Männer und Familie, für das AOK-Forum für Politik, Praxis und Wissenschaft »G+G | Gesundheit und Gesellschaft«, engagiert sich seit vielen Jahren bei der AWO, Kreisverband Werra-Meißner, in der Paarberatung und Gruppenarbeit für gewalttätige Männer und ist seit einiger Zeit auch Berater im Team des Männerhilfetelefons.

Gegründet hatten Frank und ich dieses Portal 2015, weil wir nach dem Ende von Switchboard weiter Lust auf das Schreiben und Gestalten von Texten und Themen hatten. Umso mehr freuen wir uns, dass der langjährige Kollege nun auch offiziell ins Team kommt – willkommen, Ralf, und auf weitere gute Jahre miteinander!

Wir waren viele, wir sind viele, noch

Hinter sich die Nachkriegsgeneration, vor sich die Millennials: Am Ende angekommen bemerken die Boomer mal erleichtert, mal bedrückt, dass sie auch nur eine Zwischengeneration waren und sind.

Text: Frank Keil
Foto: Archiv Ulrike Steinbrenner

 
Männerbuch der Woche, 11te KW. – Heinz Bude flaniert gekonnt in seinem schmalen wie reichen Buch »Abschied von den Boomern« durch unsere leicht vergangene Gegenwart.

Zur Rezension

»Schon das Ansprechen von Gefühlen, Problemen, Situationen kann oft der Ansatz für eine Lösung sein.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Michael Roth, Duisburg

Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Redaktion: Alexander Bentheim
Fotos: privat

 
Michael, was waren deine biografischen Zugänge zu Jungen-, Männer- und Väterthemen? Welche Themen waren damals und heute zentral in deiner Beschäftigung mit Jungen und Männern? Und wie hat sich dein Engagement entwickelt, ggf. verändert?
Als 15-jähriger Georgspfadfinder übernahm ich eine Juffi-Gruppe (Juffis werden die Jungpfadfinder genannt) mit ca. acht Jungen im Alter 10-12/13 Jahren; es war die Zeit der 1968er. Mit 16 wurde ich – als Nachfolger meines 5 Jahre älteren Bruders – zum sog. Stammesleiter einer (Vor)Ortsgruppe gewählt, den Posten hatte ich ca. fünf Jahre lang inne. Und mit 17 leitete ich ein Lager in der Eifel mit ca. 18 Jungen.
Mein Vater – 43 Jahre alt, als ich 1952 als jüngstes von drei Kindern geboren wurde (es gab neben dem Bruder noch eine knapp drei Jahre ältere Schwester) – war Modellbaumeister und hatte eine Schreinerei hinter unserem Wohnhaus. Nach meinem Bruder ging auch ich dort in die Lehre, weil es »so einfach« war und ich daher auch viel Zeit bei meinen Pfadfinderfreunden verbringen konnte.
Mein Vater war von ca. 1927 bis 1936 in der katholischen Jugend aktiv und erzählte uns Kindern einiges aus dieser Zeit, von seiner Jugendgruppe, den gemeinsamen Unternehmungen, Radtouren, Wanderungen, Zeltlagern und von Jugendkaplänen, mit denen sie Tischgottesdienste – Eucharistiefeiern im kleinen Kreis – feierten. Das hat uns Kinder geprägt. Ich übernahm die progressive, kritische Einstellung zur katholischen Kirche, war immer bemüht, das für die Menschen und für die Gemeinschaft Wichtige aus den »Lehren« der Kirche umzusetzen. Ich hatte das Glück, immer wieder Priester zu erleben, die auch offener dachten. Meine eigene junge Familie kehrte dann mit einigen anderen ehemaligen Pfadfindern der konservativen Ortsgemeinde den Rücken, denn wir fanden Gefallen an der kleinen Gemeinde in der Innenstadt, die von einem weltoffenen Karmeliterpater geleitet wurde. Über 20 Jahre lang war ich dort im Gemeinderat leitend tätig und konnte sogar meine Vorstellung von einer Gemeinde ohne amtliche priesterliche Leitung umsetzen.
Das Gemeinschaftliche, das gemeinsame Tun in der Gruppe, hatte mich auch angesteckt; seit der frühen Jugend war ich mit der »Arbeit« mit Jungen und Jugendlichen im Sinne einer steten Organisation des gemeinschaftlichen Zusammenseins »betraut«. Ich habe dann auch Leiterkurse besucht, mein Wissen mit etwas Pädagogik und Psychologie angereichert, und bis zum Alter von ca. 26 Jahren war ich in verschiedenen Stadtleitungen der DPSG-Jugendarbeit aktiv. Während meiner Zeit als Leiter veränderte sich die DPSG als Organisation stark: Aus dem Verband der »Waldläufer« wurde ein moderner Jugendverband, der gemeinschaftlich und sozial engagiert ist, und dessen selbständige Ortsgruppen den katholischen Kirchengemeinden nahe, aber nicht von ihnen abhängig sind. Noch einige Jahre später wurde aus dem Jungenverband ein koedukativer Verband.

Gab es für dich nachhaltige gesellschaftliche Ereignisse – auch für den Kontext deiner Arbeit und für deine privaten und beruflichen Beziehungen?
Das Zusammensein von Jungen/Männern und Mädchen/Frauen war für mich eine nachhaltige Erfahrung, ich lernte Gleichberechtigung im Miteinander. Das half mir im weiteren Leben: bei der Organisation von Aktionen z.B. im Umweltschutz, für den damals sog. »Dritte Welt«-Gedanken, hinsichtlich von fairem Handel oder für benachteiligte Menschen. Aber auch als Verliebter, als Ehemann, als Vater eines Sohnes und zweier Töchter sowie als Lehrmeister von drei Frauen und 27 Männern spielte die Erfahrung und Vermittlung von Gleichberechtigung eine wichtige Rolle.
Besonders das demokratische, gemeinschaftliche Handeln ist eine Erfahrung, die ich nicht missen will. Dabei war das Miteinander im Pfadfinderverband ein wichtiges Erfahrungsfeld, in dem ich auch meine kritische Haltung zu »Obrigkeiten«, besonders zu autoritären wie der katholischen Kirche, entwickelt habe.

Was hat die Männer/* ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast?
Zum 40sten Geburtstag schenkte mir ein Bekannter ein Männerbuch – den Titel weiß ich nicht mehr, aber das Lesen über Freiräume für Männer in der Ehe und über Männergruppen weckte eine neue Seite in mir. Ich war durch die vorhergehende Beratungsarbeit, mit der wir aus unserer ersten Ehekrise herausfanden, sensibilisiert. Zum 41sten im Kreis der Männergäste habe ich eine Männergruppe im westlichen Ruhrgebiet gegründet. Und bei den Gruppentreffen habe ich dann die Erfahrung gemacht, dass alleine schon das Ansprechen von Gefühlen, Problemen, Situationen oft der Ansatz für eine Lösung sein kann, dass die Sichtweisen und Reaktionen der anderen Männer etwas in mir und den Männern in Bewegung brachte.
Mit 47 Jahren – 1999 war das – habe ich an einem Männerseminar der evangelischen Kirche mit Richard Rohr teilgenommen; mein erster Kontakt zu »fremden« Männern und meine ersten Gespräche mit schwulen Männern.
2000 bin ich als Teilnehmer zu den bundesweiten Männertreffen gekommen, was in gewisser Weise spät war. Ich habe dort und in den späteren Männertreffen die Vielfalt der Männer, die sehr unterschiedlichen Bedingungen ihres Heranwachsens, ihrer jeweiligen Familiensituationen und von den Beziehungen der Männer zu ihren Vätern erfahren.
Das Jahr 2000 sollte auch mein Sabbatjahr werden; mit einem Mann aus der Männergruppe bin ich auf den »Spuren der Kaiser« (alter Krönungsweg) nach Rom geradelt. Drei Wochen enges Männerzusammenleben führte zu Erfahrungen, die ich schätzen gelernt habe: Vertrauen auf den Anderen, faire Auseinandersetzungen, Respekt, Nähe, Gemeinschaft.
Rückblickend denke ich: ohne die Erfahrungen mit Gruppen und Männern hätte ich keinen Freunde*innenkreis. Auch wären mir einige Dinge nicht gelungen: der Zusammenhalt in der Ehe mit der Entstehung einer 15-köpfigen »Sippe«, die Ausbildung von meist schon älteren bzw. volljährigen Azubis, die Gründung eines »Dritte Welt Ladens« sowie der langwierige Prozess der Umgestaltung der Gemeinde zu einer Gemeinschaft mit selbstbestimmender Leitung.

Hast du ein Lebensmotto?
Probieren geht über studieren – oder: Versuch macht klug.

Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und/oder Beziehungen zu anderen ausmachen?
Machen, Zuverlässigkeit, 80% Toleranz, Treue.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis vom Umgang mit Jungen-, Männer- und Väterthemen?
Im Orga-Team zur Vorbereitung der Männertreffen habe ich Erfahrungen mit dem Ausdiskutieren von Argumenten über die Konsensfindung bis hin zu einstimmigen Entscheidungen gemacht. Ich denke, nach dieser Erfahrung, dass in unserer Gesellschaft heute zu oft fehlt: andere zur wirklichen AUS-Sprache kommen zu lassen, einander zuhören, nachfragen, Gemeinsamkeiten und Verbindendes suchen – was bedeutet, sich auch immer wieder auf andere Menschen einzulassen und ihr »Sosein« zu respektieren.
Die immer noch vorherrschende männliche Macht in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft beeinflusst unser Denken. Ich erlebe jetzt im Alter, dass sich bei den Männern eine Teilung auftut: die einen werden sensibler, weicher, einfühlsamer, andere bleiben »Indianer«, »Männer wie wir«, hinter ihren uralten Mauern.
Da unser Leben auf Gemeinschaft, auch Partnerschaft angelegt ist, habe ich meiner Frau und Partnerin viel in meiner Reifung zu verdanken. Sie hat mir immer wieder mein Verhalten gespiegelt. Oft habe ich das zunächst »hart« empfunden, aber in der Reflexion später annehmen können – zumal mich meine Partnerin besonders in meinen schweren Zeiten unterstützt hat.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest? Und was möchtest du gegen Ende deines Lebens erreicht haben?
Im letzten Lebensdrittel erfolgt für mich die »Kür«: nachdem im ersten Drittel das Lernen dran war, im zweiten Drittel die Arbeit, die Familie und das Wirtschaften (und meine Frau trug die Hauptlasten in der Familie einschließlich der Kinder), will ich nun mehr mittragen, auch mehr mitgestalten an einer friedlichen Welt. Nach 45 Ehejahren mit meiner Frau Ingrid sind unsere drei Kinder und sieben Enkelkinder zugleich Baustellen und Genuss in dieser Welt. Sie haben unsere volle Unterstützung, solange wir können und sie uns anfordern. Das heißt für mich »allzeit bereit« und »look to the kids« – alte Pfadfinder-Sätze bleiben aktuell.
Und in einem Teil der dann noch verbleibenden »freien Zeit« sorge ich als Mitarbeiter im ADFC mit für ein fahrradfreundliches und sicheres Duisburg – mein Beitrag zum besseren Klima und zur Mobilität der Nachkommen.

ps. Mittlerweile weiß ich wieder, welches Männerbuch mir geschenkt wurde – es war Sam Keen’s »Feuer im Bauch« …

 
 

 
 
 
 
 
:: Michael Roth, geb. 1952 in Duisburg und immer dort geblieben, geprägt vom Dreiereck Pott, Niederrhein und dem Bergischem. Nach Realschule Modellbauer-Handwerk (Gießerei) erlernt. Als Tischlermeister die Werkstatt meines Vaters übernommen und über 30 Tischler:innen ausgebildet. Jungen und Männerarbeit in der DPSG. Männergruppe gegründet, Teilnehmer an einigen Männertreffen. Über 20 Jahre Vorstand im Gemeinderat einer überörtlichen katholischen Gemeinde.

Wandernd durch das Trauertal

Aufschreiben, was ist. Beschreiben, was war, wie es vielleicht wieder sein könnte, auch wenn es nie wieder so sein wird – das ist eine wahre Herausforderung.

Spiegelung eines Baumes mit Herbstblättern im Wasser

Text: Frank Keil
Foto: derProjektor, photocase.de

 
Männerbuch der Woche, 7te KW. – Elke Naters erzählt in ihrem Protokollroman »Alles ist gut, bis es dann nicht mehr gut ist« nach dem Tod ihres Mannes, wie es wieder annehmbar wird, auch weil die Trauer und der bleibende Verlust zu dem gehören, was man so leichthin wie unbedarft »das Leben« nennt.

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Trauer in Venedig

Was, wenn einem klar wird, dass das eigene Leben endlich ist und das der heutigen Welt noch dazu? Oder hat das nichts miteinander zu tun?

Venedig am Abend mit Gondeln

Text: Frank Keil
Foto: 50Centimos, photocase.de

 
Männerbuch der Woche, 4te KW. – Daniel Schreiber widmet sich in seinem Essay »Die Zeit der Verluste« so gekonnt wie berührend dem Zusammenspiel wie Gegensatz von privater und gesellschaftlicher Trauer.

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»Wirksame Änderungen brauchen einen langen Atem und viel Geduld.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Uwe Sielert, Kiel

zwei Junge Männer am Strand

Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: benicce, photocase.de | privat

 
Was war oder ist dein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen- und Männerthemen? Was dein politisch-thematischer Zugang?
Als Jugendlicher sozialisiert im Christlichen Verein junger Männer (CVJM – heute steht das »M« für Menschen) und als Student der Erziehungswissenschaft (1970-1974) kam ich während des Studiums angesichts der Beschäftigung mit kritischer Sozialisationstheorie gar nicht um die Geschlechterfrage herum. Ohnehin war ich fasziniert davon, zusammen mit Gleichgesinnten das theoretisch-analytische Handwerkszeug selbstreflexiv in gruppendynamischen Settings ausführlich auf die eigene Biografie zu beziehen. »Das Persönliche ist politisch und das Politische ist persönlich« lernten wir aus der feministischen Kritik am Patriarchat, die Notwendigkeit der solidarischen Veränderung (Bloch: »Ich bin, aber ich habe mich nicht, darum werden wir erst«) aus der marxistischen Philosophie, und die didaktische Umsetzung mit Hilfe der »dynamischen Balance von Ich – Gruppe – Thema im Globe« von Ruth Cohn aus der Themenzentrierten Interaktion (TZI). Soweit die Theorie und mein politisch-thematischer Zugang.
Im eigenen Gefühlsleben und Verhalten sah das dann nicht immer so gradlinig und klar aus. Der »stumme Zwang der Verhältnisse« produzierte zuhauf blinde Flecken im Bewusstsein des eigenen Männlichkeitsbilds und Geschlechterverhaltens. Das beobachtete Hin und Her der Selbstbilder der Jungen im Jugendzentrum zwischen »Hilfe, ich kann nicht« und »Ich bin der Größte« existierte auch bei uns Studierenden, ganz besonders bei mir, der den Kulturclash zwischen dem CVJM und dem polyamoren Marxismus eines damals kurze Zeit in Dortmund lehrenden Dieter Duhm (»Angst im Kapitalismus«) zu bewältigen versuchte. Immerhin wusste ich von Letzterem, dass auch er beim CVJM angefangen hatte, linker Aktivist und Hochschuldozent wurde, bevor er der akademischen Karriere den Rücken kehrte und ins experimentelle Weltverbesserungsmilieu eintauchte. Welt und Menschen mit jesuanischem Eifer verbessern wollte ich damals auch, nicht besonders revolutionär, eher in pädagogischer Theorie und Praxis, und mich dem »Marsch durch die Institutionen« anschließen. Nach einem Forschungsaufenthalt in den Niederlanden folgten kleinere alternative Projektgründungen und das Mittun an der beginnenden Jungen- und Männerarbeit: Vorhandenes zusammenstellen, systematisieren und vor allem in didaktischer Hinsicht weiterentwickeln.

Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen und Männern?
Mich beschäftigten [1] die Differenz und die Ähnlichkeiten zwischen dem »Prinzip Männlichkeit« und mir selbst wie auch anderen Männern, [2] Jungen- und Männersexualität, [3] die bisherige und weitergehende Entwicklung von Jungenarbeit mit ihren jeweils unterschiedlichen Akzenten (feministisch, antikapitalistisch, antisexistisch, reflektiert, gendersensibel …), und [4] vor allem die Frage, was den konkreten Jungen und Männern in den »Sozialisationsagenturen« (wie es damals kritisch-technizistisch hieß) didaktisch Hilfreiches angeboten werden kann. Seminare, Fortbildungen, Vorträge, Veröffentlichungen waren die Medien, die mir in der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften und Diplompädagog*innen zur Verfügung standen.

Wie hat sich dein Engagement für Jungen und Männer entwickelt, ggf. verändert?
Das Gender-Sternchen in der letzten Zeile deutet es schon an: Das Interesse an der Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Diskurse und vor allem die Einarbeitung in die Sexualwissenschaft und Spezialisierung auf Sexualpädagogik führten zur generellen Öffnung meines geschlechtsbewussten Blicks auf Jungen hin zu einer Sexual- und Genderpädagogik der Vielfalt. Meine Vision selbstbestimmterer, emanzipativer Menschen sah ich zunächst in der Erweiterung der Entwicklungsmöglichkeiten von Jungen innerhalb ihrer Geschlechtlichkeit und später in der Entdramatisierung der Geschlechtskategorie überhaupt. Es begann die Suche nach vielen anderen Identitätsankern und vor allem die Möglichkeit fluider Selbstdefinitionen, um aus der Tatsache, dass wir als Jungen und Männer (auch) »gemacht werden«, das »doing gender« zu vervielfältigen und pädagogisch zu begleiten.

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche/historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Schon immer war mir bewusst, dass Jungen und Männer Probleme machen und Probleme haben. Meine Probevorlesung für die Pädagogikprofessur in Kiel lautete beispielsweise »Halt suchen auf schwankendem Boden: Männlichkeit als soziales Problem«. Die erschreckenden Ausmaße männlicher Gewaltausübung waren schon immer unübersehbar, die Ausmaße sexualisierter Gewalt an Mädchen und Jungen, die in Wellen öffentlich wurden, verstörten deutlich mein Blick auf Männlichkeit und alle bisherigen Theorien und Konzepte geschlechtsbewusster Arbeit. Mir wurde schlagartig bewusst, dass die kollektiven Traumata von Gewalterfahrungen und der aktuell immer noch ausgeübte »Missbrauch« von Kindern sowie sexuelle Grenzüberschreitungen aller Art heftig wirksam sind. Die eingeschlagenen Wege der Arbeit an männlicher Gewalt und ebenso vorhandener Bedürftigkeit wurden deshalb ja nicht hinfällig, kratzten aber nur oberflächlich am männlichen Sozialisationsmodus mit seinen toxischen Auswirkungen. Und dennoch blieb ich immer skeptisch gegenüber rein antisexistischen Programmen und einer Konzentration auf Gefahrenabwehr.

Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deinen privaten und/oder beruflichen Beziehungen?
Ich habe die Geburt meiner beiden Söhne und meiner Tochter als Vater sehr bewusst miterlebt und meine beruflichen Tätigkeiten boten mir potentiell viele Freiräume, eine entscheidende Wegstrecke mit ihnen gemeinsam zu gehen. Ich denke, dass mir das auch weitgehend gelungen ist, wenn ich die gegenwärtige Beziehung zu den erwachsenen Kindern richtig deute. Und dennoch machen mir gelegentliche Konflikte und Rückmeldungen deutlich, wie selten mir gelungen ist, die hohen Ansprüche des beruflichen Wissens über Jungen im persönlichen Alltag zu leben. Ich hätte im kontinuierlichen Kontakt viel mehr geben und bekommen können. Ganz besonders in der Trauer um meinen mit 30 Jahren tödlich verunglückten Sohn ist mir das schmerzlich zu Bewusstsein gekommen. Auch für mich gilt also: Wirksame Änderungen brauchen einen langen Atem und viel Geduld.

Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und/oder Beziehungen zu anderen ausmachen?
Herausfordernd, selbstkritisch-ehrlich und eine bleibende Angst vor Zurückweisung.

Was ist für dich »Erfolg« in deiner Auseinandersetzung mit Jungen- und Männerthemen? Hast du Beispiele?
Im Anschluss an meinen Probevortrag zur »Männlichkeit als soziales Problem« beantragte der tonangebende, kurz vor der Pensionierung stehende Pädagoge des Instituts halb ironisch einen Männerbeauftragten für die Universität Kiel. Meine Seminare im Studium und in Fortbildungen bei diversen Trägern waren immer gut besucht und manche Männer versichern mir heute noch, wichtige Impulse für die eigene Person und Arbeit bekommen zu haben.

Was gibt dir persönlich Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen?
Dichter und ausführlicher Kontakt auf einem gemeinsamen Weg: sich selbst und andere ganzheitlich spüren beim lustvollen Imaginieren, Streiten, Leiden, Arbeiten, Tanzen und Ruhen sowie auch einsame Geistesblitze und körperliches Ausgepowertsein.

Was ist dir (mit) gelungen, worauf bist du (zusammen mit anderen) vielleicht auch stolz?
Die Erarbeitung und Veröffentlichung meines ersten Buchs »Jungenarbeit« und die ausführlichen Diskussionen dazu mit meinen damaligen Student*innen und anderen bewegten Männern. Die Einführung des Themas »Jungen- und Männersexualität« bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und zusammen mit spannenden Aktivisten der Aids-Hilfe während meiner Mitarbeit an der personalkommunikativen HIV-Präventionskampagne. Und die Berücksichtigung des Gender-Themas bei allen sexualpädagogischen Weiterbildungen der Sexualpädagogik.

Mit welchen Institutionen und Personen warst du gerne beruflich oder privat verbunden oder bist es noch?
Mit den Einrichtungen, die aus meinem sexualpädagogischen Engagement – immer im lustvollen Arbeitsprozess mit anderen – hervorgegangenen sind: dem Institut und der Gesellschaft für Sexualpädagogik und vielen vor allem ehemals, manchmal immer noch dort aktiven Freundinnen und Freunden. Stellvertretend für viele möchte ich meinen langjährigen Freund Frank Herrath hervorheben, mit dem ich viele Wegstrecken gemeinsam zurückgelegt habe. Viele meiner eigenen älteren Lehrer und Tutoren sind inzwischen leider verstorben. Nennen möchte ich auch hier stellvertretend nur meine langjährigen Freunde und inspirierenden Lehrer Konrad Pfaff und Siegfried Keil, die für mich sehr unterschiedliche Beispiele für positiv gelebte Männlichkeit waren: der eine theoretisch kreativ, expressiv und fröhliche Wissenschaft treibend, der andere achtsam, integrativ und langfristig gesellschaftlich engagiert.

Was hat die Männer/* ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast?
Mich haben ihre Botschaften und Haltungen, ihr Biss beim Denken und Handeln angelockt und begeistert sowie die Einladung zum Mitmachen und die Bereitschaft, an einer gemeinsamen Mission wechselseitig inspirierend und wertschätzend zu arbeiten.

Hast du eine Lebensphilosophie, ggf. ein Lebensmotto?
Lange fand ich den Kanon albern, den mein Vater trotz schrecklicher Erfahrungen im Krieg und in der Kriegsgefangenschaft in seiner christlichen Gemeindearbeit am liebsten mit anderen gesungen hat: »Der hat sein Leben am besten verbracht, der die meisten Menschen hat froh gemacht«. Doch inzwischen habe ich den Kern seiner Erfahrungen im Auf und Ab seines entbehrungsreichen Lebens nachvollzogen: sich in Resonanz mit anderen auf das Verbindende, Gelungene und Stärkende zu konzentrieren.

Wo siehst du Brüche in deinen beruflichen oder freundschaftlichen Beziehungen?
Im persönlichen Liebesleben gab es einige davon, weil die Spannung zwischen dem eigenen Begehren und der persönlichen Weiterentwicklung oft in Konflikt geriet mit dem ebenso geschätzten Festhalten am Erreichten, einschließlich versprochener Beziehungstreue. Beruflich waren es weniger Brüche als Widerstände bei der gesellschaftlichen Resonanz meines sexualpädagogischen Engagements.

Wodurch wurden diese verursacht?
Die Herausforderung konservativ-dogmatischer Gruppierungen durch meine Dekonstruktion heteronormativer Lebensvorstellungen und das Eintreten für das Recht auf altersangemessene Sexualität von Anfang an führte zu gelegentlichen persönlichen Anfeindungen, die mir manche schlaflose Nacht beschieden haben.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis vom Umgang mit Jungen- und Männerthemen?
Aus der feministische Szene spürte und spüre ich immer noch Misstrauen gegenüber einer positiven Sexualkultur, die sich nicht allein auf Gefahrenabwehr beschränkt, sondern das Recht von Jungen und Männern auf sexuelle Bildung einschließt. Da nutzen keine empirischen Hinweise auf den Mangel an sexualpädagogischer Arbeit mit Jungen als sinnvolle Gewaltprävention. Als auch der Missbrauch von Jungen in pädagogischen Organisationen bekannt wurde, wurde die Tatsache allein, dass ich mich pädagogisch mit Jungenarbeit beschäftigt habe, von einer böswilligen Journalistin in den Kontext der Missbrauchsdiskussion gestellt.

Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deinem Engagement an?
Ich glaube trotz aller Skepsis gegenüber wissenschaftlicher Arbeit, dass es auch beim Genderthema darauf ankommt, »die Sachen zu klären und die Menschen zu stärken«. Beides tut allen gut, unabhängig von geschlechtlicher Selbstdefinition oder gesellschaftlicher Zuschreibung. Und inzwischen habe sogar ich (der Zurückweisung immer noch gern aus dem Weg geht) gelernt, in wichtigen Konflikten Position zu beziehen und auch schmerzliche Widerstände auszuhalten.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest?
Selbstreflexiv zu erkunden, warum die Jungen- und Männerthemen in den letzten Jahren nicht mehr so sehr im Fokus meiner persönlichen und wissenschaftlichen Neugier gestanden haben. Die Beantwortung dieser Fragen war ein Anfang dazu.

Und was möchtest du gegen Ende deines Lebens erreicht haben?
Mit mir und meinem Leben «im Reinen sein«, wie es so schön heißt. Rückblicke auf Aufarbeitungen sind dazu ein gangbarer Weg.

Eine nicht gestellte Frage, die du aber dennoch gerne beantworten möchtest?
Nö – aber danke für die vielen Impulse!

 
 

 
 
 
 
:: Uwe Sielert, Jg. 1949, emeritierter Professor für Sozialpädagogik am Institut für Pädagogik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Diplom, Promotion und Habilitation in Erziehungswissenschaft. Diplom in Themenzentrierter Interaktion nach Ruth Cohn bei WILL International. Berufliche Stationen: Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Dortmund, Gastdozent an der Vrije Universiteit Amsterdam, Mitarbeiter der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in Köln, seit 1992 Professor für Sozialpädagogik am Institut für Pädagogik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Forschungs- und Lehrschwerpunkte mit einschlägigen Veröffentlichungen in den Bereichen sozialpädagogische Aus- und Fortbildungsdidaktik, Sexualerziehung und Geschlechterpädagogik sowie Pädagogik der Vielfalt. Schwerpunkt im Masterstudiengang Pädagogik »Diversity and Management in Education«. Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Sexualpädagogik. – Kontakt: www.uwe-sielert.de.

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Foto: pur, photocase.de

 
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»Das Schönste ist, Feedbacks zu bekommen von Menschen, die man begleitet hat.«

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Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: bilderberge, photocase.de | privat

 
Was war oder ist dein persönlich-biografischer Zugang zur Jungen-, Männer- und Väterthematik? Was dein politisch-thematischer Zugang?
Erste Erfahrungen habe ich während meines Zivildienstes in einem paritätisch besetzten Team in einer Kita in Frankfurt gesammelt. Die frühe Auseinandersetzung mit Machtverhältnissen und Geschlecht habe ich während meines Studiums an der Goethe-Universität in Frankfurt, hier vor allem in den Seminaren von Prof. Drin Barbara Rendtorff, ab 1994 erfahren, des Weiteren durch die Konfrontation mit sexualisierter Gewalt im jungen Erwachsenenalter, hier als Begleitung von einer betroffenen Person. Ich habe frühzeitig Wissen erworben (Theorie im Studium) und den Transfer in die Praxis machen können (Arbeiten im pädagogischen Bereich während des Studiums). In meinem weiteren Berufsleben folgte dann die Fortbildung in der Jungenarbeit in Nordhessen (2004) sowie meine Weiterbildung in der Genderpädagogik beim Bayrischen Jugendring in Gauting (2007).

Was waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen, Männern und Vätern?
In meiner Arbeit mit Jungen wie auch mit Studierenden der Frankfurt University of Applied Sciences war und ist es mir wichtig, Räume zum Austausch zu schaffen, ihnen zuhören, Beziehungsangebote zu machen und Impulse zu setzen, um ihnen Reflexionsebenen anzubieten.

Wie hat sich dein Engagement für Jungen, Männer und Väter entwickelt, ggf. verändert?
Die Grundrichtung ist seit den Anfängen ähnlich geblieben: zuhören statt belehren, Fragen stellen und Interesse zeigen an den Lebenswelten meiner Zielgruppen. Intersektionale Perspektiven kamen in den letzten Jahren hinzu. Immer wichtig war für mich auch der Austausch mit Kolleg*innen aus der Mädchen*arbeit und der queeren Jugendarbeit.

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche/historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Die Digitalisierung, Social Media, die Corona Pandemie und deren Nachwirkungen auf junge Menschen.

Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deinen privaten und/oder beruflichen Beziehungen?
Menschen, die ich in meinen Arbeitskontexten kennengelernt und die mich in meinem beruflichen Alltag und im Privaten weitergebracht haben.

Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und Beziehungen zu anderen ausmachen?
Offenheit, Empathie, Fürsorglichkeit, professionelle Nähe. Auch die Offenheit, auf Menschen mit unterschiedlichen Haltungen in unserer »Szene« zuzugehen.

Was ist für dich »Erfolg« in deiner Auseinandersetzung mit Jungen-, Männer- und Väterthemen? Hast du Beispiele?
Erfolg für mich bedeutet: wenn eine Beziehungsebene zwischen Menschen hergestellt wurde, wenn Impulse wahrgenommen wurden. Das Schönste ist es, Feedbacks zu bekommen von Menschen, die man begleitet hat. Manchmal sind das Zufälle, wenn man Menschen wiedertrifft, z.B. ehemalige Jungen aus der Einrichtung in Hanau, aber auch Studierende oder junge Fachkräfte, die ich mit meiner Arbeit erreichen konnte.

Was gibt dir persönlich Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen?
Zuhören, sich einlassen, sich positionieren, aber auch zu bestimmten Zeitpunkten sich zurücknehmen.

Was ist dir (mit) gelungen, worauf bist du (zusammen mit anderen) vielleicht auch stolz?
Der Begriff »stolz« ist für mich hier nicht passend. Ich bin froh und dankbar, Impulse zu setzen und gesetzt zu haben – z.B. mit und bei der Bundesarbeitsgemeinschaft Jungen*arbeit, meine Projekte in Frankfurt am Main beim Paritätischen Bildungswerk Bundesverband im Care- und Fürsorgebereich, im Kontext der Fachgruppe für Jungen*arbeit in Hessen und in meiner pädagogischen Praxis mit jungen Menschen.

Mit welchen Institutionen und Personen warst du gerne beruflich oder privat verbunden oder bist es noch?
Institutionen stehen für mich weniger im Vordergrund als vielmehr Personen. Bundesweit, hessenweit und im Raum Frankfurt gab und gibt es Menschen, von denen ich eine Menge lernen konnte. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich beim Paritätischen Bildungswerk Bundesverband 2009 die Chance bekommen habe, mich bundesweit in dieses Arbeitsfeld zu bewegen.

Was hat die Männer/* ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast?
Die Menschen, mit denen ich zusammengearbeitet habe, haben oder hatten auch immer Interesse an meiner Person, jenseits des Arbeitszeitkontextes. Auch hier stand die Beziehungsarbeit sehr oft im Vordergrund. Eine Offenheit und Nähe habe ich bei allen Personen wahrgenommen.

Hast du eine Lebensphilosophie, ggf. ein Lebensmotto?
Ich hatte eine glückliche Kindheit und liebevolle Eltern. Ich versuche, das in meiner Beziehung zu meiner Liebe zu leben und an unsere Tochter weiterzugeben. Ich versuche, die größtmögliche Akzeptanz anderen Menschen gegenüber zu haben – aber keine Toleranz bei Intoleranz, d.h., dass ich mich auch immer politisch positioniere.

Wo siehst du Brüche in deinen beruflichen oder freundschaftlichen Beziehungen? Wodurch wurden diese verursacht?
Wenn mit zweierlei Maß gemessen wird, etwa wenn eine Person sehr moralisch argumentiert, sich selbst aber in Widersprüchlichkeiten verstrickt. Widersprüchlichkeiten sind Teil des Menschseins. Sie sollten reflektiert, nicht negiert werden. Sonst wird es für mich schwierig in der weiteren Beziehung zu dieser Person, und da kann es dann auch zu Brüchen kommen.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis vom Umgang mit Jungen-, Männer- und Väterthemen?
Auf der einen Seite das Nichtreflektieren von unterschiedlichen Lebensumständen und die mangelnde Wahrnehmung bezüglich unterschiedlicher Betroffenheiten, auf der anderen Seite das Wissen darum, dass sich das Leben in der Regel nicht als schwarz/weiß-Schablone darstellt. Wir wachsen alle in Strukturen und Systemen auf und bewegen uns darin. Dadurch nehmen wir unterschiedliche Positionen ein und haben auch unterschiedliche Privilegien. Diese Privilegien können sich aber auch verändern, im Sinne von gewinnen, verlieren, ausweiten und auch wiederum einschränken.

Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deiner Arbeit an?
Zu merken, dass mein »Hauptbusiness« – nämlich: in Beziehung gehen – immer noch funktioniert und mir sehr viel Freude und Erfüllung bereitet. Kindern und Jugendlichen wird viel zu wenig zugehört, Adultismus ist oft das Metathema. In unseren Workshops zum Thema »Sexismus und sexualisierte Gewalt« wurde das 2023 wieder sehr deutlich.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest? Und was möchtest du gegen Ende deines Lebens erreicht haben?
Ich würde gerne mehr zum Thema »Mobbing« mit Jungen* arbeiten, auch zum Thema »Beziehung« bzw. Liebesbeziehung, Wünsche und »Lebens«-Träume. Das passiert einfach zu wenig. Und vor allem Fachkräfte schulen, die mit »cis hetero Jungen« und männlichen Jugendlichen arbeiten und hier oft an ihre Grenzen kommen. Am Ende meines Lebens möchte ich das Gefühl haben, ein erfülltes Leben gehabt zu haben. Zum jetzigen Zeitpunkt, glaube ich, bin ich auf einem guten Weg dahin.

Eine nicht gestellte Frage, die du aber dennoch gerne beantworten möchtest?
Ja: Wie steht es mit dem Thema »Konkurrenz und Machtverhältnisse« innerhalb der »Szene«? Darüber würde ich mich gerne einmal mit Kolleg*innen austauschen, da diese Frage nicht oft reflektiert wird. Ich stelle mir interessante Resonanzen vor und Gedanken, die uns auch weiterbringen.
 
 

 
 
 
 
:: Marc Melcher, Jg. 1973, arbeitet in Frankfurt am Main und lebt auch dort in der Nähe. Von 2000 bis 2009 arbeitete ich in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in Hanau bei der evangelischen Kirche. Seit 2009 bin ich Bildungsreferent beim Paritätischen Bildungswerk Bundesverband mit den Themenfeldern: Jungen*arbeit, Genderpädagogik in Kita, Hort und OKJA, und ich bin Berater für den Early Excellence-Ansatz im Elementarbereich. Ich gebe Fortbildungen in meinen Themenfelder für Fachkräfte und führe dort immer wieder Projekte/Workshops in »koedukativen« und »homogenen« Settings mit Kindern und Jugendlichen durch, um die daraus gewonnen Praxiserfahrungen in die nächsten Fort- und Weiterbildungen einfließen zu lassen; in einem Interview mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung konnte ich mein Verständnis dazu etwas ausführen. Freiberuflich bin ich darüber hinaus Referent bei der Sinus Akademie für deren Jugendstudie und führte 10 Jahre lang den Boys’Day an der Frankfurt University of Applied Sciences mit Studierenden durch. Ehrenamtlich bin ich seit mittlerweile 10 Jahren im Vorstand der Bundesarbeitsgemeinschaft Jungen*arbeit.