»Zuhören, in beide Richtungen, und nicht versuchen, andere Menschen zu bekehren.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Jeff Hearn, Örebro

Animation zweier Bäume mit Gesicht im Gedankenaustausch

Interview, übersetzt: Alexander Bentheim (Original in englisch)
Fotos: wildpixel, iStockphoto.com | privat

 
Ich bin Jeff Hearn, geboren 1947 in London. Ich habe in Charlton gelebt, in der Nähe des Fußballplatzes, auch in der Nähe des berühmten Greenwich-Meridians mit seiner Mittleren-Ortszeit-Linie. Vielleicht hat das mein Interesse an Geografie geweckt … und dann an Kolonialismus und Imperialismus.

Mein familiärer Hintergrund war respektabel, aufstrebend aus der Arbeiterklasse, aufbauend auf dem ausgeprägten Gefühl meiner beiden Eltern, Bildungschancen verpasst zu haben, auch wenn mein Vater bis zu seiner Pensionierung in einer leitenden Position landete.

Mein Interesse an Feminismus, Gender und dann an Männern und Männlichkeiten kommt aus vielen Richtungen. Ich sehe zum Beispiel deutliche familiäre Einflüsse von meiner Schwester, meiner Mutter, meinen Großmüttern und vor allem der Urgroßmutter; und ich könnte auch erwähnen, dass mein Interesse unbewusst entstand, als ich mit sieben Jahren plötzlich von all meinen besten Freundinnen in eine geschlechterhomogene Schule für Jungen versetzt wurde, wie es damals völlig normal war – die Bedeutung dessen wurde mir erst viele Jahre später klar. Dieses Erziehungsmuster blieb dann auch bis zur Einheitsschule an der Universität bestehen – und das war 1965, nicht etwa 1865. Dort waren »die Sechziger« in vollem Gange; ich machte meinen Abschluss im Mai 1968, erlebte die Studentenrebellion, soziale Bewegungen einschließlich neue Sexualpolitiken, den irischen Republikanismus, Frieden, Gemeinschaft, grüne Alternativen, generell neue Formen der Organisation und Bildung. In dieser Zeit studierte ich den afrikanischen Kontinent und besonders Südafrika mit seiner Apartheid; in vielerlei Hinsicht ging die Klassen- und Rassenpolitik der Geschlechterpolitik voraus.

Später fing ich an, die feministische Zeitschrift »Spare Rib« zu abonnieren, engagierte mich ab 1978 öffentlich in antisexistischen Männergruppen (was damals manchmal »Männerpolitik« genannt wurde) und in der feministischen Kinderbetreuungspolitik. Ich habe mich in verschiedenen CR-Gruppen, antisexistischem Aktivismus, Politik- und Praxisentwicklung sowie Forschung und Lehre engagiert. Mein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen, Männern und Vätern ist daher profeministisch, pro-queer und dekolonial. Seit 1978 engagiere ich mich öffentlich für Themen rund um Feminismus, Männer und Männlichkeit.

Meine akademischen Studien haben sich von der Geographie zur Stadtplanung, Soziologie, Organisationsforschung, Sozialpolitik und Frauen- und Geschlechterforschung verlagert, einschließlich Studien zur Patriarchatstheorie und kritischen Studien zu Männern und Männlichkeiten. Es dauerte auch einige Jahre, bis ich erkannte, dass die persönlichen und politischen Anliegen meinen akademischen und theoretischen Anliegen sehr nahe waren – die also seit den frühen 1980er Jahren im Mittelpunkt meiner politischen und akademischen Orientierung und Arbeit stehen – auch wenn sie sich tendenziell einer anderen Sprache bedienten. Im Laufe der Jahre hat sich mein Schwerpunkt etwas verlagert. Seit 1974 arbeite ich an Universitäten und habe viel geforscht, gelehrt und geschrieben zu kritischen Studien über Männer und Männlichkeit, aber auch zu Geschlecht, Sexualität, Gewalt, Alter, Arbeit, Pflege, Organisationen, Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT), Kulturwissenschaften, Sozialtheorie und transnationalen Themen.

Viele, wenn nicht alle meiner Arbeitsumgebungen, waren feministisch oder vom Feminismus beeinflusst. 1978 gründeten ein Freund von mir, Pete Bluckert, und ich eine Männergruppe, die (nach einigen Schwierigkeiten bei den ersten beiden Treffen) weitgehend antisexistisch war und auf Bewusstseinsbildung basierte. Im Dezember desselben Jahres wurde ich Teil einer neuen Kampagnengruppe für Kinder unter fünf Jahren und ihre Betreuerinnen, also hauptsächlich Mütter und Frauen. Diese Gruppe knüpfte an die Debatte über Hausarbeit und die feministische Politik der Betreuung an. In den späten 1970er und frühen 1980er Jahren interessierte ich mich somit vor allem für Kinderbetreuungspolitik, Reproduktion und die Kritik an der herrschenden Vaterschaft. Besonders beunruhigt war ich über das mangelnde Interesse und Engagement der meisten Männer an der Betreuung und Arbeit für Kinder – ich nannte das »Kinderarbeit«, ein Begriff, der sich nicht durchgesetzt hat.

Ab Mitte der 1980er Jahre begann ich, Masterstudiengänge zum Thema »Männer und Männlichkeit« zu unterrichten, und zwar sowohl für Studierende der Frauenstudien als auch für Studierende der Sozialen Arbeit und der Gemeinwesenarbeit. Ich interessierte mich auch viel mehr für die Gewaltproblematik, d.h. für die Arbeit gegen die Gewalt von Männern, und dies war in den 1990er Jahren ein Hauptanliegen in Forschung, Lehre und Aktivismus, vor allem mit langfristigen und gezielten Forschungen zu Männern, die Gewalt gegen Frauen und Kinder ausgeübt hatten. Wenn man sich einmal mit diesem Thema beschäftigt hat, bleibt es eines, und so ist es bis heute ein wichtiges Thema und Interesse für mich.

In den späten 1990er Jahren zog ich nach Finnland, was in vielerlei Hinsicht ein Neuanfang bedeutete, sowohl politisch als auch akademisch. Zum einen war ich an der Gründung der »White Ribbon Campaign« beteiligt und gründete dann, zunächst mit drei Freunden, »profeministimiehet« (profeministische Männer), die lange Zeit verschiedene Demonstrationen und Aktionen für den Feminismus und gegen die Gewalt von Männern durchführte. Zum anderen änderte sich meine Arbeitsgrundlage, und ich musste auch überdenken, was in einem neuen Länderkontext nützlich sein könnte. Dieser Wechsel führte direkt und indirekt zu zahlreichen internationalen Kooperationen in Nordeuropa, insbesondere durch EU-Projekte, aber auch darüber hinaus, insbesondere mit Südafrika.

Zwei treibende Kräfte sind für mich zum einen die Politik und die politische Konstruktion von Wissen und zum anderen die Notwendigkeit einer sehr gründlichen und kritischen wissenschaftlichen Arbeit. Ich sehe mittlerweile die dringende Notwendigkeit, Männer und Männlichkeiten zu benennen, aber auch gleichzeitig sie und uns zu dekonstruieren, um materiell-diskursiv und transnational gegen Kolonialismen, die Hegemonie der Männer und die aktuelle Geschlechterordnung zu arbeiten. Ich denke, es ist wichtig, auf das Spektrum der Feminismen – zum Beispiel radikale, dekoloniale, queere und viele andere – und die Überschneidungen zwischen ihnen einzugehen. Dies ist ein wichtiges Thema in der Buchreihe »Routledge Advances in Feminist Studies and Intersectionality«, die ich gemeinsam mit Nina Lykke herausgebe und in der inzwischen über 40 Bücher erschienen sind. Besonders geschätzt habe ich die internationalen und transnationalen Verbindungen im Bereich der Forschung, des Schreibens, des politischen Wandels und des Aktivismus in den Bereichen (Pro)Feminismus, Gender, Männer und Maskulinität. Eine wichtige Erfahrung, neben vielen anderen, war die Beteiligung am schwedischen Teil des europäischen Projekts »Transrights«.

Ich will gern noch auf einige der gestellten Fragen direkt antworten.

Was ist für dich das nachhaltigste soziale/geschichtliche Ereignis – auch im Zusammenhang mit deiner Arbeit?
Für mich persönlich gibt es da viele, aber ich möchte hervorheben, dass ich mich etwa Anfang 1989 mit der verstorbenen feministischen Wissenschaftlerin und Aktivistin Jalna Hanmer zusammengesetzt und vereinbart habe, gemeinsam gegen die Gewalt von Männern gegen Frauen und Kinder vorzugehen. Im weiteren Sinne, auch wenn weniger direkt persönlich, sind es Ereignisse wie etwa die Amtseinführung von Nelson Rolihlahla Mandela als Präsident der Republik Südafrika am 10. Mai 1994.

Drei Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und in deinen Beziehungen zu anderen auszeichnen?
Ich schlage mit großer Bescheidenheit 😊 nur zwei vor (warum immer die Freud‘schen drei!?): Leidenschaft und Ausdauer.

Was gibt dir persönlichen Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen?
Zuhören, in beide Richtungen. Und nicht versuchen, andere Menschen zu bekehren.

Mit welchen Institutionen und Personen warst du beruflich oder privat gerne verbunden oder bist es noch?
Ich war verbunden mit der »Bradford Under Fives Group« (BUG), der finnischen Organisation profeministischer Männer (»Profeministimiehet«), mit »Critical Research on Men in Europe« (CROME) und mit »Tema Genus« an der Universität Linköping. Ich bin weiterhin verbunden mit der »International Sociological Association RC32« und mit »NORMA: International Journal for Masculinity Studies«. Ich möchte auch die »Routledge«-Buchreihe und die »International Research Association of Institutions of Advanced Gender Studies« (RINGS) erwähnen, an deren Aufbau ich zusammen mit vielen anderen maßgeblich beteiligt war und die inzwischen über 70 Zentren als institutionelle Mitglieder hat.

Hast du eine Lebensphilosophie oder ein Motto?
Verlasse dich auf deine Intuition und tue, was du kannst … in deinem eigenen Kontext.

Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deiner Arbeit an?
Engagement und Ruhe.

Eine Frage, die nicht gestellt wurde, die du aber trotzdem gerne beantworten würdest?
Die Frage danach, was das Wichtigste für die Zukunft ist – nämlich: die Verbindung von kritischer profeministischer Arbeit über Männer und Männlichkeiten mit den großen Fragen des Planeten, der Ökologie, der Nahrung, des Wassers, der Energie, des Klimas. Und auch die Erinnerung daran, dass wir viele Dinge nicht wissen.

 

 
 
 
 
 
:: Jeff Hearn, Jg. 1947. Ursprünglich komme ich aus London und bin seit Ende der 1970er Jahre in den Bereichen Aktivismus, Politik und Forschung zu Männern und Männlichkeit tätig. Nachdem ich an den Universitäten Bradford, Manchester und Linköping gearbeitet habe, zuletzt als Professor für Gender Studies, bin ich jetzt Seniorprofessor für Humangeographie an der Universität Örebro in Schweden, Professor für Soziologie an der Universität Huddersfield im Vereinigten Königreich und Professor Emeritus an der Hanken School of Economics in Finnland. Im Laufe der Jahre habe ich mich mit Themen wie Alter, Geschlecht, Sexualität, Gewalt, Arbeit, IKT und transnationale Prozesse befasst. Zu meinen früheren Büchern gehören: »The Gender of Oppression« (Das Geschlecht der Unterdrückung), »Men in the Public Eye» (Männer in der Öffentlichkeit), »The Violences of Men« (Die Gewalt der Männer) und »Men of the World« (Männer der Welt). Zu den jüngsten Büchern gehören: »Men’s Stories for a Change: Ageing Men Remember«; »Age at Work« (zusammen mit Wendy Parkin); »Knowledge, Power and Young Sexualities« (zusammen mit Tamara Shefer); »Digital Gender-Sexual Violations« (zusammen mit Matthew Hall und Ruth Lewis); und kürzlich das »Routledge International Handbook on Men, Masculinities and Organizations« (zusammen mit Kadri Aavik, David Collinson und Anika Thym) sowie das »Routledge International Handbook of Feminisms and Gender Studies« (zusammen mit Anália Torres, Paula Pinto und Tamara Shefer). – Mehr zu meinen Arbeiten und Veröffentlichungen findet sich hier.