»Zuhören, in beide Richtungen, und nicht versuchen, andere Menschen zu bekehren.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Jeff Hearn, Örebro

Animation zweier Bäume mit Gesicht im Gedankenaustausch

Interview, übersetzt: Alexander Bentheim (Original in englisch)
Fotos: wildpixel, iStockphoto.com | privat

 
Ich bin Jeff Hearn, geboren 1947 in London. Ich habe in Charlton gelebt, in der Nähe des Fußballplatzes, auch in der Nähe des berühmten Greenwich-Meridians mit seiner Mittleren-Ortszeit-Linie. Vielleicht hat das mein Interesse an Geografie geweckt … und dann an Kolonialismus und Imperialismus.

Mein familiärer Hintergrund war respektabel, aufstrebend aus der Arbeiterklasse, aufbauend auf dem ausgeprägten Gefühl meiner beiden Eltern, Bildungschancen verpasst zu haben, auch wenn mein Vater bis zu seiner Pensionierung in einer leitenden Position landete.

Mein Interesse an Feminismus, Gender und dann an Männern und Männlichkeiten kommt aus vielen Richtungen. Ich sehe zum Beispiel deutliche familiäre Einflüsse von meiner Schwester, meiner Mutter, meinen Großmüttern und vor allem der Urgroßmutter; und ich könnte auch erwähnen, dass mein Interesse unbewusst entstand, als ich mit sieben Jahren plötzlich von all meinen besten Freundinnen in eine geschlechterhomogene Schule für Jungen versetzt wurde, wie es damals völlig normal war – die Bedeutung dessen wurde mir erst viele Jahre später klar. Dieses Erziehungsmuster blieb dann auch bis zur Einheitsschule an der Universität bestehen – und das war 1965, nicht etwa 1865. Dort waren »die Sechziger« in vollem Gange; ich machte meinen Abschluss im Mai 1968, erlebte die Studentenrebellion, soziale Bewegungen einschließlich neue Sexualpolitiken, den irischen Republikanismus, Frieden, Gemeinschaft, grüne Alternativen, generell neue Formen der Organisation und Bildung. In dieser Zeit studierte ich den afrikanischen Kontinent und besonders Südafrika mit seiner Apartheid; in vielerlei Hinsicht ging die Klassen- und Rassenpolitik der Geschlechterpolitik voraus.

Später fing ich an, die feministische Zeitschrift »Spare Rib« zu abonnieren, engagierte mich ab 1978 öffentlich in antisexistischen Männergruppen (was damals manchmal »Männerpolitik« genannt wurde) und in der feministischen Kinderbetreuungspolitik. Ich habe mich in verschiedenen CR-Gruppen, antisexistischem Aktivismus, Politik- und Praxisentwicklung sowie Forschung und Lehre engagiert. Mein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen, Männern und Vätern ist daher profeministisch, pro-queer und dekolonial. Seit 1978 engagiere ich mich öffentlich für Themen rund um Feminismus, Männer und Männlichkeit.

Meine akademischen Studien haben sich von der Geographie zur Stadtplanung, Soziologie, Organisationsforschung, Sozialpolitik und Frauen- und Geschlechterforschung verlagert, einschließlich Studien zur Patriarchatstheorie und kritischen Studien zu Männern und Männlichkeiten. Es dauerte auch einige Jahre, bis ich erkannte, dass die persönlichen und politischen Anliegen meinen akademischen und theoretischen Anliegen sehr nahe waren – die also seit den frühen 1980er Jahren im Mittelpunkt meiner politischen und akademischen Orientierung und Arbeit stehen – auch wenn sie sich tendenziell einer anderen Sprache bedienten. Im Laufe der Jahre hat sich mein Schwerpunkt etwas verlagert. Seit 1974 arbeite ich an Universitäten und habe viel geforscht, gelehrt und geschrieben zu kritischen Studien über Männer und Männlichkeit, aber auch zu Geschlecht, Sexualität, Gewalt, Alter, Arbeit, Pflege, Organisationen, Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT), Kulturwissenschaften, Sozialtheorie und transnationalen Themen.

Viele, wenn nicht alle meiner Arbeitsumgebungen, waren feministisch oder vom Feminismus beeinflusst. 1978 gründeten ein Freund von mir, Pete Bluckert, und ich eine Männergruppe, die (nach einigen Schwierigkeiten bei den ersten beiden Treffen) weitgehend antisexistisch war und auf Bewusstseinsbildung basierte. Im Dezember desselben Jahres wurde ich Teil einer neuen Kampagnengruppe für Kinder unter fünf Jahren und ihre Betreuerinnen, also hauptsächlich Mütter und Frauen. Diese Gruppe knüpfte an die Debatte über Hausarbeit und die feministische Politik der Betreuung an. In den späten 1970er und frühen 1980er Jahren interessierte ich mich somit vor allem für Kinderbetreuungspolitik, Reproduktion und die Kritik an der herrschenden Vaterschaft. Besonders beunruhigt war ich über das mangelnde Interesse und Engagement der meisten Männer an der Betreuung und Arbeit für Kinder – ich nannte das »Kinderarbeit«, ein Begriff, der sich nicht durchgesetzt hat.

Ab Mitte der 1980er Jahre begann ich, Masterstudiengänge zum Thema »Männer und Männlichkeit« zu unterrichten, und zwar sowohl für Studierende der Frauenstudien als auch für Studierende der Sozialen Arbeit und der Gemeinwesenarbeit. Ich interessierte mich auch viel mehr für die Gewaltproblematik, d.h. für die Arbeit gegen die Gewalt von Männern, und dies war in den 1990er Jahren ein Hauptanliegen in Forschung, Lehre und Aktivismus, vor allem mit langfristigen und gezielten Forschungen zu Männern, die Gewalt gegen Frauen und Kinder ausgeübt hatten. Wenn man sich einmal mit diesem Thema beschäftigt hat, bleibt es eines, und so ist es bis heute ein wichtiges Thema und Interesse für mich.

In den späten 1990er Jahren zog ich nach Finnland, was in vielerlei Hinsicht ein Neuanfang bedeutete, sowohl politisch als auch akademisch. Zum einen war ich an der Gründung der »White Ribbon Campaign« beteiligt und gründete dann, zunächst mit drei Freunden, »profeministimiehet« (profeministische Männer), die lange Zeit verschiedene Demonstrationen und Aktionen für den Feminismus und gegen die Gewalt von Männern durchführte. Zum anderen änderte sich meine Arbeitsgrundlage, und ich musste auch überdenken, was in einem neuen Länderkontext nützlich sein könnte. Dieser Wechsel führte direkt und indirekt zu zahlreichen internationalen Kooperationen in Nordeuropa, insbesondere durch EU-Projekte, aber auch darüber hinaus, insbesondere mit Südafrika.

Zwei treibende Kräfte sind für mich zum einen die Politik und die politische Konstruktion von Wissen und zum anderen die Notwendigkeit einer sehr gründlichen und kritischen wissenschaftlichen Arbeit. Ich sehe mittlerweile die dringende Notwendigkeit, Männer und Männlichkeiten zu benennen, aber auch gleichzeitig sie und uns zu dekonstruieren, um materiell-diskursiv und transnational gegen Kolonialismen, die Hegemonie der Männer und die aktuelle Geschlechterordnung zu arbeiten. Ich denke, es ist wichtig, auf das Spektrum der Feminismen – zum Beispiel radikale, dekoloniale, queere und viele andere – und die Überschneidungen zwischen ihnen einzugehen. Dies ist ein wichtiges Thema in der Buchreihe »Routledge Advances in Feminist Studies and Intersectionality«, die ich gemeinsam mit Nina Lykke herausgebe und in der inzwischen über 40 Bücher erschienen sind. Besonders geschätzt habe ich die internationalen und transnationalen Verbindungen im Bereich der Forschung, des Schreibens, des politischen Wandels und des Aktivismus in den Bereichen (Pro)Feminismus, Gender, Männer und Maskulinität. Eine wichtige Erfahrung, neben vielen anderen, war die Beteiligung am schwedischen Teil des europäischen Projekts »Transrights«.

Ich will gern noch auf einige der gestellten Fragen direkt antworten.

Was ist für dich das nachhaltigste soziale/geschichtliche Ereignis – auch im Zusammenhang mit deiner Arbeit?
Für mich persönlich gibt es da viele, aber ich möchte hervorheben, dass ich mich etwa Anfang 1989 mit der verstorbenen feministischen Wissenschaftlerin und Aktivistin Jalna Hanmer zusammengesetzt und vereinbart habe, gemeinsam gegen die Gewalt von Männern gegen Frauen und Kinder vorzugehen. Im weiteren Sinne, auch wenn weniger direkt persönlich, sind es Ereignisse wie etwa die Amtseinführung von Nelson Rolihlahla Mandela als Präsident der Republik Südafrika am 10. Mai 1994.

Drei Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und in deinen Beziehungen zu anderen auszeichnen?
Ich schlage mit großer Bescheidenheit 😊 nur zwei vor (warum immer die Freud‘schen drei!?): Leidenschaft und Ausdauer.

Was gibt dir persönlichen Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen?
Zuhören, in beide Richtungen. Und nicht versuchen, andere Menschen zu bekehren.

Mit welchen Institutionen und Personen warst du beruflich oder privat gerne verbunden oder bist es noch?
Ich war verbunden mit der »Bradford Under Fives Group« (BUG), der finnischen Organisation profeministischer Männer (»Profeministimiehet«), mit »Critical Research on Men in Europe« (CROME) und mit »Tema Genus« an der Universität Linköping. Ich bin weiterhin verbunden mit der »International Sociological Association RC32« und mit »NORMA: International Journal for Masculinity Studies«. Ich möchte auch die »Routledge«-Buchreihe und die »International Research Association of Institutions of Advanced Gender Studies« (RINGS) erwähnen, an deren Aufbau ich zusammen mit vielen anderen maßgeblich beteiligt war und die inzwischen über 70 Zentren als institutionelle Mitglieder hat.

Hast du eine Lebensphilosophie oder ein Motto?
Verlasse dich auf deine Intuition und tue, was du kannst … in deinem eigenen Kontext.

Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deiner Arbeit an?
Engagement und Ruhe.

Eine Frage, die nicht gestellt wurde, die du aber trotzdem gerne beantworten würdest?
Die Frage danach, was das Wichtigste für die Zukunft ist – nämlich: die Verbindung von kritischer profeministischer Arbeit über Männer und Männlichkeiten mit den großen Fragen des Planeten, der Ökologie, der Nahrung, des Wassers, der Energie, des Klimas. Und auch die Erinnerung daran, dass wir viele Dinge nicht wissen.

 

 
 
 
 
 
:: Jeff Hearn, Jg. 1947. Ursprünglich komme ich aus London und bin seit Ende der 1970er Jahre in den Bereichen Aktivismus, Politik und Forschung zu Männern und Männlichkeit tätig. Nachdem ich an den Universitäten Bradford, Manchester und Linköping gearbeitet habe, zuletzt als Professor für Gender Studies, bin ich jetzt Seniorprofessor für Humangeographie an der Universität Örebro in Schweden, Professor für Soziologie an der Universität Huddersfield im Vereinigten Königreich und Professor Emeritus an der Hanken School of Economics in Finnland. Im Laufe der Jahre habe ich mich mit Themen wie Alter, Geschlecht, Sexualität, Gewalt, Arbeit, IKT und transnationale Prozesse befasst. Zu meinen früheren Büchern gehören: »The Gender of Oppression« (Das Geschlecht der Unterdrückung), »Men in the Public Eye» (Männer in der Öffentlichkeit), »The Violences of Men« (Die Gewalt der Männer) und »Men of the World« (Männer der Welt). Zu den jüngsten Büchern gehören: »Men’s Stories for a Change: Ageing Men Remember«; »Age at Work« (zusammen mit Wendy Parkin); »Knowledge, Power and Young Sexualities« (zusammen mit Tamara Shefer); »Digital Gender-Sexual Violations« (zusammen mit Matthew Hall und Ruth Lewis); und kürzlich das »Routledge International Handbook on Men, Masculinities and Organizations« (zusammen mit Kadri Aavik, David Collinson und Anika Thym) sowie das »Routledge International Handbook of Feminisms and Gender Studies« (zusammen mit Anália Torres, Paula Pinto und Tamara Shefer). – Mehr zu meinen Arbeiten und Veröffentlichungen findet sich hier.

»Aus dem Tagebuch eines Blindgängers«

Jürgen Flegers »Schmunzelgeschichten aus dem lichtleeren Raum« als Verständigungsangebot für sehende Menschen.

Text: Alexander Bentheim
Foto: ozzuboy, photocase.de

 
Für sehende Menschen ist es oft ein Rätsel: Wie kann man ohne Augenlicht überleben? »Ganz gut!«, findet Jürgen Fleger, »hilfreich ist allerdings, wenn man genügend Erfahrungen sammeln konnte und ein paar Tricks und Kniffe gelernt hat«.
Jürgen Fleger ist seit gut 30 Jahren komplett blind und weiß, wovon er spricht. Denn er ist schon recht viel herumgekommen in der Welt. Alleine, oder in Begleitung seiner Blindenführhunde, hat er fast alle Länder Europas bereist, war auch in Indien, Nord- und Südamerika. Und hat von überall her »wirklich erlebte« Anekdoten mitgebracht, in denen er kurzweilig und mit Humor beschreibt, was einem blinden Menschen passieren kann, wenn er offenen Ohres durch’s Leben geht. Er beschreibt Erlebnisse, in denen es mal lustig und mal schon einigermaßen gefährlich zuging. Dabei erklärt er anschaulich, wo die Probleme für blinde Menschen liegen können und macht sehenden Menschen Lust, nochmal über ihre bisherigen Strategien für Hilfsangebote nachzudenken. Jürgen Fleger nimmt mit in seine unsichtbare Welt und gibt praktische Tipps, wie jede*r blinde Menschen im Alltag gut unterstützen kann.

Zur Geschichte

Eine Liebesgeschichte

Sich kennen lernen, sogleich verlieben und schon überlegen, den Alltag gemeinsam zu teilen – warum nicht? Nur kommen da zwei Menschen zusammen, die auch je ihr eigenes Leben mitbringen …

zwei Menschen auf einer Wiese

Text: Frank Keil
Foto: n_toy, photocase.de

 
Männerbuch der Woche, 36te KW. – Viktor Funk erzählt in »Bienenstich« gekonnt von den Irrungen, Wirrungen und immer auch tiefen Sehnsüchten von nach Deutschland eingewanderten Menschen, die sich finden und auch wieder nicht.

Zur Rezension

»Ich bin immer noch hungrig danach, in dieser verrückten Welt Sinn und Perspektive zu finden.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Dirk Achterwinter, Bielefeld

Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: roterfuchs38, photocase.de | privat

 
Ich bin ein Kind der 1960er-Jahre und daher mitgeprägt von der Adenauer-Ära. Meine Großväter und mein Vater waren sehr in ihre jeweiligen Arbeiten eingebunden, in der Metall- und Textilindustrie und mit Karrieren als Meister oder zumindest Vorarbeiter, aber auch damit beschäftigt, ihre Kriegserlebnisse »zu verarbeiten«; die Schatten der Nazi-Zeit waren lang. Der mütterliche Teil meiner Familie musste die eigene traumatische Fluchtbiographie bewältigen.
Ich war in den 1970ern auf einer reinen Jungenrealschule, die einen hohen Anspruch an sich hatte, aber wenig pädagogisches Grundverständnis entwickeln konnte. Die ersten Lehrerinnen wurden als exotische Wesen wahrgenommen, von uns als Schülern und auch vom alten männlich-traditionellen Lehrerkollegium. Dank der damaligen Bildungsreform konnte ich dann Abitur machen und habe schließlich – nach einem kurzen Versuch, evangelische Theologie zu studieren – Zivildienst in einer stationären Einrichtung der Jugendhilfe gemacht und dann an der Uni in Bielefeld den Abschluss als Diplom-Pädagoge.
Im Studium war einer meiner Schwerpunkte die Sexualpädagogik. Weil damals auch schon Männer in der pädagogischen Arbeit fehlten, bekam ich Anfragen für die Arbeit mit Jungengruppen zu sexualpädagogischen Themenbereichen. Das hat sich mit vielen inhaltlichen Variationen bis in die 2020er-Jahre fortgesetzt. Ich habe nach dem Studium bei Pro Familia, bei der AWO, der Diakonie und der Caritas gearbeitet. Von 1993 bis 2023 war ich in Beratungsstellen tätig, lange auch in Leitungsfunktionen. Und da ich immer auf der Suche nach Wegen zu mir selbst war, um mich selbst besser verstehen zu lernen, habe ich auch mehrere Zusatzausbildungen gemacht.
Privat fahre ich gerne Motorrad, gehe gern laufen (am liebsten am Meer), liebe das Bogenschießen und mag Fantasie-Geschichten wie »Das Rad der Zeit« und »Star Wars«.
Diese biographischen »Rohdaten« sind wichtig, um zu verstehen, warum die Männer- und Jungenarbeit immer eine Rolle für mich gespielt hat. Denn die Frage nach der eigenen Identität ist für mich immer auch eine geschlechtsspezifische und die Wurzeln liegen in der eigenen Biographie. Auch hier spielt die Variable »Geschlecht« und die daran geknüpften Erwartungen aus dem sozialen Umfeld eine große Rolle. So war in meiner Herkunftsfamilie immer klar, dass ich als erstgeborener Sohn eine ganz bestimmte Rolle mit klar definierten Aufgabenbereichen zu erfüllen habe. Die familiären Erwartungen und die damit verbundenen Introjekte waren so also immer an die Rolle als Junge und dann später als Mann geknüpft.

Was war oder ist dein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen-, Männer- und Väterthemen? Was dein politischer und fachlicher Zugang?
Bei mir ist das ganz klar die Suche nach dem »Wer bin ich?«, »Wo komme ich her?« und »Bin ich richtig, so wie ich bin?« Meine männlichen Vorbilder, mein Vater und meine Großväter, haben mir ganz klassische Biografien vorgelebt. Vorbilder, denen ich folgen wollte und ich dann doch gemerkt habe: »Diese Schuhe passen mir nicht richtig.« Irgendetwas stimmte nicht, aber woran liegt das? Aus dieser »Defizit«-Wahrnehmung und den Erwartungen an mich entstand nach und nach die Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle. Als Kind hatte ich die Vorbilder »Old Shatterhand«, »Winnetou«, »Dietrich von Bern« und »Der rote Kosar«. Als Jugendlicher waren mir eine Zündapp GTS 50, der Film »Easy Rider«, Lederjacken, »bloß keinen Tanzkurs machen!« und »Rebellen sind cool« wichtig. Als junger Erwachsener stand ich auf den Ford Fiesta GT, fragte nach lebenswerten Werten, ging zu Kirchentagen, war Kindergottesdiensthelfer, Kriegsdienstverweigerer und schließlich Zivildienstleistender, der sich fragte, was aus ihm einmal werden soll.
So wie mein Vater wollte ich nicht leben, aber wie dann? Arbeit hatte trotz allem einen hohen Stellenwert, nur welchen? Identitätsstiftend soll sie sein, aber wie für mich? Und Sexualität: wie soll ich damit umgehen, wo kann ich mich orientieren? Gleichzeitig fragen und sprechen ging nicht. Im Hintergrund das gesellschaftliche Rauschen um Willy Brandt und »Mehr Demokratie wagen«, eine Bildungsreform, Lehrer auf dem Weg zu sich selbst, die Nachrüstungsdebatte, Wohngemeinschaften als Lebensform, Helmut Kohl und die Spendenaffäre. Ich war auf der Suche nach etwas, das ich nicht klar definieren konnte, und fühlte mich angesprochen von BAP in »Fuhl am Strand«: »Hey, Vorbild, dank dir schön, ich glaub, ich bekomm es langsam selber hin«. Trotzdem wirken sie, diese männlichen Vorbilder, gerade wenn sie aus dem Familiären kommen. Das Männliche war irgendwie konstant, nur alle Fragen drumherum nicht. Wie Mannsein richtig geht, konnte mir niemand sagen, die realen Vorbilder waren jedenfalls nicht die, die mich fasziniert hätten. Also weitersuchen.
Entscheidend war dann, dass ich selbst Vater wurde. Als ich das erfuhr, konnte ich eine Woche nicht schlafen. Ich wusste einfach nicht, wie ich diese Rolle, die Verantwortung meistern könnte oder müsste. Das Pädagogik-Studium gab ein paar kleine Antworten und Denkansätze, aber so richtig zufriedenstellend war das nicht. Es gab einige Männer, die ähnlich unterwegs waren wie ich, was auch hilfreich war, dennoch gab es in dieser Szene auch viel warme Luft, Narzissmus, Konkurrenz und den einen oder anderen Abstoß. Die alten Männlichkeitsmythen wirkten auch hier noch.
Heute würde ich sagen: es war ein dynamischer Prozess, Ergebnis offen. Er wurde geprägt von vielfältigen Einflüssen, den damaligen Politiken, individuellen Beziehungserfahrungen, eigenen scheiternden Gehversuchen und immer wieder der Sehnsucht: Da muss doch was sein! Aber liegt es an mir? Am Patriachat? Stelle ich mich einfach nur an? Wichtig war für mich eine Erfahrung, die am Ende jeder Aus- und Fortbildung angesichts der anstehenden Prüfung die wiederkehrende Frage »Kann und schaffe ich das überhaupt?« aufwarf. Viele Selbstzweifel traten in diesen Phasen nach vorne. Als mir das klar wurde und ich – auch dank der Trauma-Ausbildung – mehr und mehr die Verhaltensmuster verstand, konnte ich Stück für Stück mehr in die innere Ruhe finden. Ich hatte endlich Erklärungen, welche Personen und Themen und Einflüsse mich auf meiner Suche nach meiner Männlichkeit auf welche Weise beeinflusst haben und es teils immer noch tun.
Jetzt, mit 62 Jahren, ändert sich mein Bild von mir als Mann noch einmal, der ergebnisoffene Prozess läuft also weiter. Aber auf einem anderen Niveau. Es gibt nach all den Jahren und Lebenserfahrungen mehr Selbst-Akzeptanz. Nur das fällt noch schwer: Meine Enkelin Paula sagt »Opa« zu mir, eine Spielart von Mannsein, die ich nicht so gut annehmen kann. Denn »Opa« hat was mit offenen Sandalen und weißen Socken und Flecken auf einem alten Hemd zu tun. Das mag ich nicht. Und trotzdem entspricht das Bild der Rollenerwartung meiner Enkel an mich, ganz geschlechtsspezifisch.

Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen, Männern und Vätern?
Da bin ich wohl immer noch Gestalttherapeut. Die Jungen und auch Männer und Väter haben ja das Recht, mit ihren ganz eigenen Themen zu kommen. Die sind vielfältig und variantenreich, bunt und schillernd, auch traurig und sehr bewegend. Meine Aufgabe ist, mit ihnen im Kontakt zu schauen: »Was bringst du mit? Wo willst du hin? Wie kann das gelingen?« Bei den Jungen bin ich, je nach Alter und Entwicklungsstand, auch direktiv, schließlich habe ich mehr Lebenserfahrung und kenne die eine oder andere Klippe im Meer des Lebens. Bei jungen Männern in ihren 20ern erlebe ich oft, dass diese ein eindeutiges Coaching ansprechen und auch fordern; ihre Themen sind aktuelle Lebenskrisen, Partnerschaften, Gestaltung der beruflichen Biographie. Da haben sich Haltung und Auftrag der Klienten gegenüber früher verändert. Ältere Männer in ihren 40-50ern brauchen oft mehr Raum und Zeit, um ihre Themen benennen zu können. Hier spielt auch Scham eine Rolle. »Bin ich Ordnung, wenn ich als Mann Hilfe und Unterstützung brauche? Darf ich das überhaupt?« In der Paarberatung, wenn Kinder ein Thema sind, kommt das eigene männliche Rollenbild deutlich zum Tragen. Die Wünsche der Partnerin und Mutter werden zwar erkannt, gewürdigt, respektiert, doch es fehlt den Männern an »Werkzeugen« für die Umsetzung, um ihr und den Kids auch gerecht zu werden. Da sind die jungen Männer in den 20ern und 30ern deutlich flexibler.
Natürlich sind das nur recht grobe Zuschreibungen. Die Motivationen, sich auf die Auseinandersetzung mit den eigenen Bildern einzulassen, sind so vielfältig wie die eigenen Biographien und die Dynamiken der Partnerschaften. Wiederkehrende Themen sind die eigene und partnerschaftliche Sexualität einschließlich Lust auf Männlichkeit und Potenz, Umgang und Verbalisierung von Ängsten, Vorstellungen von Erfolg, das Gelingen von Partnerschaften, erlebte Verletzungen und Kränkungen mit ihren Wirkungen, die Furcht vor Einsamkeit, nicht ausgesprochene Traurigkeiten. Viele Themen kreisen auch um Trennung und Scheidung und die daraus entstehenden Probleme und Fragen, die bis hin zur Begleitung bei Prozessen vor dem Familiengericht reichen können, z.B. Regelung der Besuchszeiten, Unterhaltszahlungen, Umgang mit erlebter oder ausgeübter Gewalt und Kränkungen in der Beziehung, Zukunftshoffnungen und -ängste, Rettungsphantasien.

Wie hat sich dein Engagement für Jungen und Männer oder Väter entwickelt, ggf. verändert?
Es verändert sich immer wieder. In den Beratungsstellen gab es einen festen Rahmen durch Gesetze, Verträge und Finanzierungen. Aktuell kommen Selbstzahler. Dadurch verändert sich das Klientel, mit dem ich arbeite. Gleich geblieben sind allerdings die genannten Inhalte. Selbstzahler erlebe ich aktuell als sehr motiviert. Die ratsuchenden Männer wollen für sich weitere Schritte gehen und sind aktiv in diesem Prozess engagiert.
Für Jungen biete ich nach wie vor Projekte an. Es gibt mittlerweile mehr Männer, die das tun, und ich begrüße das. Gleichzeitig ist hier auch ein »Markt« entstanden, einzelne Kollegen leben von dieser Projektarbeit, was wiederum übliche wirtschaftliche Sachzwänge schafft. Trotzdem halte ich für gut, dass sich dieses Berufsfeld mehr und mehr professionalisiert. Das biete für viele Jungen Chancen. Vor 10-15 Jahren sah das Feld noch anders aus, da fehlte dieser Ansatz.
Mit der LAG Jungenarbeit NRW arbeite ich immer noch zusammen. Auch hier ist wunderbar zu beobachten, dass die Jungenarbeit dank des Engagements der Mitarbeitenden einen hohen professionellen und akzeptierten Standard erreicht hat.
Was über die Jahre gleichgeblieben ist: die meisten Jungenprojekte werden nach wie vor von weiblichen Fachkräften bzw. Lehrerinnen initiiert.
Meine innere Arbeitshaltung ist ruhiger geworden. Früher habe ich viel mit der Dynamik der jeweiligen Gruppe gearbeitet. Heute kann ich aus der Ruhe heraus andere Impulse setzen.

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche / historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
In meiner subjektiven Wahrnehmung gibt es – wie beschrieben – Unterschiede in den Generationen. Die jüngeren Männer schauen in ihren 20-30er Jahren bewusster und reflektierter auf ihre Rolle. Vor allem, was das Thema Vaterschaft angeht. Diesen Unterschied erkläre ich mir damit, dass (a) die jungen Mütter und Partnerinnen dieser Männer ihre Ansprüche und Rechte bewusster einbringen und Familie auch anders leben wollen als in früheren Generationen; (b) Bildung und Ausbildungen, auch Verdienste und materielle Sicherheiten heute in einem viel direkteren Zusammenhang damit stehen; (c) über die Jahre hinweg die Geschlechterdiskussionen offensichtlich doch fruchtbar waren: es hat sich etwas bewegt. Wer das wie bewertet, das bleibt wahrscheinlich immer sehr subjektiv. Mir persönlich jedenfalls haben die gemachten Erfahrungen viel Sicherheit gegeben.
Wichtig für mich war die Trauma-Ausbildung. Hier habe ich noch einmal gut gelernt und letztendlich auch verstanden, dass nicht ich Erfahrungen mache, sondern – im bewussten Widerspruch zum vorherigen Satz – die gemachten Erfahrungen mich gemacht haben. Die Trauma-Theorie kann hier vieles gut mit der Psychoedukation erklären und nachvollziehbar machen, was mich lange beschäftigt hat und was ich vorher nicht, dann aber sehr gut »greifen« konnte.

Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deinen privaten und beruflichen Beziehungen?
Was für mich ein riesiger Schatz war und ist, das sind die vielen intensiven Begegnungen mit Männern und auch Jungen in der Beratung, in der Projektarbeit, auf Fortbildungen. Teilweise wurden daraus langjährige Freundschaften bzw. tragende Beziehungen, die immer auf irgendeine Weise mit »Männerthemen« verbunden sind. Gleichzeitig sind sie sehr individuell und bunt und vielseitig und wirklich bereichernd.
Ich habe auch von nicht wenigen Förderschülern so viel gelernt. Diese Jungs haben mir Verhaltensweisen gezeigt, die ich als sehr herausfordernd erlebt habe. Und gleichzeitig, in der konstruktiven Auseinandersetzung, habe ich Stück für Stück verstanden, warum dieses Verhalten dieser Jungs ganz viel Sinn macht. Durch sie habe ich gelernt »in Mustern« (Verhaltensmustern und deren Ursachen) zu denken. Das war ein tolles Geschenk. Oder um es mit dem »Konzept des guten Grundes« meines Trauma-Ausbilders Lutz-Ulrich Besser zu sagen: diese Jungs waren sehr authentisch.

Drei Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und Beziehung zu anderen ausmachen?
Selbstlob fällt mir schwer, da bin ich doch sehr protestantisch sozialisiert! Aber Humor gehört zu mir (als geborener Rheinländer, der seit 1984 in Ostwestfalen lebt) und beständig neugierig, weil stets auf dem Weg, mich und andere besser zu verstehen. Und immer noch hungrig danach, in dieser verrückten Welt Sinn und Perspektive zu finden. Ich habe das große Glück, in meiner eigenen Familie viel Sicherheit und Stabilität zu bekommen, das kann ich dann auch gut weitergeben; ein riesiger Schatz.

Was ist für dich Erfolg in deiner Auseinandersetzung mit Jungen-, Männer- und Väterthemen? Hast du Beispiele?
Kürzlich war ich mit einem in seiner Seele sehr verletzten Jungen beim Bogenschießen. Er hat 15 von 20 Pfeilen auf eine Entfernung von ca. 18 Meter in ein sehr kleines Ziel gesetzt. Was er aufgrund seiner vielen unterschiedlichen Diagnosen und dass er es im Leben wirklich nicht leicht gehabt hat, eigentlich gar nicht hätte bewerkstelligen können. Aber er war erfolgreich, und wir haben uns beide sehr gefreut. Das sind die kleinen Augenblicke, die viel bewirken, auch wenn das nicht messbar ist. Die Kunst ist für mich als Pädagogen, viele dieser kleinen Situationen zu schaffen und daraus step-by-step etwas Größeres entstehen zu lassen. Ich denke, das gelingt nur durch Kontakt- und Beziehungsarbeit.
Ein anderes Beispiel ist ein Junge, den ich schon lange beruflich begleiten darf. Seine Eltern haben hohe Berufsabschlüsse und Geld spielte in der Familie nie eine Rolle. Der Sohn wurde aber nie so gesehen, wie er es sich gewünscht hat. Er entsprach nicht den Erwartungen der Eltern. Er hat nur Einsen in der Schule und zieht weiße Hemden zur Zeugnisübergabe an. Aber er ist einsam, kämpft in der Familie immer wieder um Akzeptanz, hat keine Freunde und wurde im System Schule zum Mobbingopfer. Als die Eltern dann angefangen haben, die Situation ihres Sohnes mehr und mehr zu verstehen, beide an der Schule für ihn kämpften und einen Wechsel ermöglichten, erging es ihm zusehends besser. Diesem Jungen fehlt noch viel an Unterstützung, aber das ist schon mal gelungen und war ein kleiner, aber deutlicher Erfolg.
Ein drittes Beispiel habe ich aus der Paarberatung. Ein beruflich erfolgreicher Mann konnte seiner neuen Partnerin erzählen, dass er nie emotional positive Körperberührungen durch seine Eltern erlebt hatte. Körperlichkeit und Nähe waren dagegen immer direkt mit Sexualität verbunden, diese wiederum sehr stark mit Leistungsdruck (»seinen Mann stehen müssen«). Was zu noch mehr Druck führte, so dass er nie darüber sprechen konnte. Mit der Beratung war dies aber endlich möglich, ein wichtiger Schritt zur Klärung seiner Probleme.
Das sind für mich drei Beispiele für sicher nur kleine Erfolge, die aber doch einen guten Weg weisen.

Was gibt dir persönlich Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen?
Das ist relativ einfach zu beantworten: Lachen, Spaß, erlebte Leichtigkeit. Im Kontakt mit Anderen Ideen, Projekte, Inhalte weiter gestalten zu können, dazu dann auch die Rückmeldungen der Klienten und Kooperationspartner. Zu sehen, dass meine Arbeit angenommen wird, ich immer wieder angesprochen werde und dass sich begonnene Prozesse weiterentwickeln können. Zusammengefasst: Positive Kontakte, aus denen sich neues Kreatives entwickelt; die gute Balance zwischen Selbstwahrnehmung und externer Rückmeldung; das Gefühl von Selbstwirksamkeit in einer verrückten Welt.

Was ist dir (mit) gelungen, worauf bist du (zusammen mit anderen) vielleicht auch stolz?
Ich bin Gründungsmitglied der LAG Jungenarbeit NRW. Ich bekomme Anfragen und Aufträge, konnte ein Image entwickeln und lebe quasi auch von meinem »Ruf«. Da wo ich mich für Jungenarbeit eingesetzt habe, ist etwas geblieben, es gibt kleine erkennbare Spuren. Und ja, ich habe mich mit meinen Themen weiterentwickelt und konnte auf diesem Weg anderen gerecht werden. Das freut mich.

Mit welchen Institutionen und Personen warst du gerne beruflich und privat verbunden oder bist es noch?
Mit sehr vielen ehemaligen Kollegen und Kolleginnen aus den verschiedenen Institutionen, in denen ich unterwegs war, aber auch mit freiberuflichen Kollegen und Kolleginnen. Glücklich bin ich darüber: aus den Gründungszeiten der Jungenarbeit sind viele positive Beziehungen und Kontakte erhalten geblieben, und aus diesen heraus gibt es auch jetzt noch schöne und gute Kooperationen, etwa mit der LAG Jungenarbeit NRW. Und es gibt Vernetzungen zum Thema Trauma mit den Kolleg*innen um den Jugendhof Vlotho. Auch hier hat sich die positive Kultur der Zusammenarbeit erhalten. Nicht zuletzt ist es auch die Familie mit den daraus entstandenen Verzweigungen, das spielt für mich eine ganz große Rolle.

Was hat die Männer ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast?
Es gab immer Gemeinsamkeiten, dabei auch sehr oft die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechterrolle, aber ebenso mit dem Moped fahren, zusammen durch den Teutoburger Wald laufen oder verlorene Pfeile wiedersuchen. Vielleicht ist »auf der Suche sein« ein Merkmal meiner Generation: verstehen wollen und daher viel Bereitschaft zum Nachdenken. Der Liedermacher Klaus Hoffmann sagt es mit der Liedzeile: »Diese Kinder erkennen sich am Gang«. Das meint für mich das Gefühl und das Wissen, da teilt jemand mit mir ein Thema, es gibt gemeinsame Schnittmengen, »etwas« verbindet uns. Ich habe wenig destruktive Konkurrenz erlebt, die Lust auf Abenteuer, auf Spaß, Lachen und Freude am Tun – klischeehaft so ein bisschen wie in den Zigaretten-Werbungen – standen im Vordergrund.

Hast du eine Lebensphilosophie, ein Lebensmotto?
Ja, mehrere, aus verschiedenen Quellen: »Nur im Kontakt mit dir kann ich mich finden« (aus der Gestaltarbeit), »Nicht ich mache Erfahrungen, Erfahrungen machen mich« (aus der Traumatherapie) und »Der Weg ist das Ziel«, was sich ziemlich abgegriffen anhört, aber dennoch für mich gilt.

Wo siehst du Brüche in deinen beruflichen oder freundschaftlichen Beziehungen? Wodurch wurden diese verursacht?
Brüche und dann Veränderungen gab es immer dann, wenn verschiedene »Dynamiken der Entwicklung« unterschiedliche Geschwindigkeiten entfalteten, etwa als ich Vater wurde. In meinem Umfeld war ich einer der ersten, das hat mein Leben verändert, sowohl hinsichtlich meiner ganz alltäglichen Aufgaben bis hin zur inneren Haltung.
Beruflich veränderte sich einiges mit der Übernahme der ersten Leitungsfunktion. Da gab auch so etwas wir Neid, Skepsis, Reserviertheit. Jetzt, mit 62 Jahren, kann ich aber auch sagen: die Brüche waren gut, sie haben zu meiner Weiterentwicklung beigetragen, haben mich gefordert, ich musste hier und da etwas verändern. Die oft zitierte Weisheit »Krise als Chance« ist vielleicht etwas übertrieben, bei mir war es aber so, dass durch die Brüche immer auch Bewegung entstand. Und parallel gab es dann auch Entwicklungen im Selbstbewusstsein, mit der Erfahrung: Ich komme auch nach Brüchen klar, ich muss vor Veränderungen nicht so viel Angst haben.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis vom Umgang mit Jungen-, Männer- und Väterthemen?
Der Diskussionsbedarf innerhalb der Jungen-Männer-Szene war oft größer und anstrengender als mit Menschen – Frauen, Männern, Vätern – außerhalb dieser Peergruppe. Vielleicht ist das auch einer der Gründe, dass ich mich eher am Rand dieser Szene sehe und nicht im Zentrum. Ich bin ganz dankbar, dass die Jungen- und Männerarbeit nicht der alleinige Schwerpunkt meiner beruflichen Orientierung geblieben ist. Auch wenn sie mich immer noch gut begleitet. Ich bin von daher in keinem aktiven Gremium mit dieser Schwerpunktsetzung. Das ist auch gut so.

Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deiner Arbeit an?
Die protestantische und sozialdemokratische Arbeitshaltung meiner männlichen Vorfahren und die Chance, damit ebenso selbstwirksam zu werden und mein Geld zu verdienen. Weiterhin die stete Suche nach Antworten; Spaß an dem, was ich tue und mich immer wieder gut selbst spüren zu können; das Wissen um die Erfahrungen, die den Alltag leichter machen; der Wunsch, in dieser verrückten Welt kleine positive Impulse zu setzen. Und auch Anerkennung und Lob von außen so wie die Abenteuerlust auf Neues.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeit dazu hättest? Und was möchtest du gerne gegen Ende deines Lebens erreicht haben?
Ein »Bielefelder Büro für Beratung und Supervision« (BBBS) wäre ein Traum. Ein loser Zusammenschluss von engagierten Kolleg:innen, die Angebote und Projekte speziell für die sozialen Arbeitsfelder Kita, Schule, stationäre Jugendhilfe, Jugendämter, Beratungsstellen entwickeln. Mit passenden Antworten und Perspektiven für engagierte Teams und Leitungen, um diese angesichts gegenwärtiger Überlastungen, die strukturell defizitär bedingt sind, zu unterstützen und damit zu entlasten. Parallel dazu wäre es schön, die Beratungsarbeit mit Jungen und Männern weiter zu verbessern. Wenn ich einmal abtrete, wären schön bebilderte Erinnerungen an mich bei denen, die noch bleiben, schon cool.
 
 

 
 
 
 
 
:: Dirk Achterwinter, Jg. 1961, Diplom-Pädagoge, mit weiteren Qualifikationen als Sexualpädagoge, Gestalttherapeut, Systemischer Supervisor (DGSv) und Traumatherapeut, die je auch immer meinem Wunsch eines Selbstfindungsprozesses folgten. Ich lebe mit meiner Partnerin in einer langen Beziehung seit 1979, habe einen Sohn, eine Tochter und zwei Enkelkinder. – www.achterwinter-beratung.de

»Es geht mir um Geschlechtergerechtigkeit.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Matthias Stiehler, Dresden

Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: Matthias Stiehler | Michael Tischendorf

 
Was war oder ist dein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen-, Männer- und Väterthemen? Was dein politischer und fachlicher Zugang?
1984 geriet ich in eine schwere persönliche Krise. Ich lebte in einer Partnerschaft, wir hatten ein Kind. Meine damalige Partnerin und ich waren beide mit unserer gemeinsamen Situation unglücklich. Von meiner Erziehung her war ich fest davon überzeugt, dass ich einen größeren Anteil Schuld trug, denn ich war der Mann. Und meine Eltern, die beide zwar bis zum Schluss zusammenblieben, waren nach meinem Eindruck eigentlich auch immer unzufrieden. Insbesondere meine Mutter klagte fast täglich ihr Leid. Ich war überzeugt, dass ich mein Verhältnis zu meinem Vater aufarbeiten musste, um partnerschaftsfähiger zu werden. Gesellschaftlich war ich dabei durch die feministische und männerkritische Sichtweise der damaligen BRD geprägt. Denn als Theologiestudent war ich in der DDR nicht nur mit Westliteratur versorgt, sondern wir rezipierten auch die dortigen Diskussionen.
In der Folge meiner persönlichen Krise ging ich in eine stationäre Psychotherapie. Dort entwickelte ich jedoch ein Gespür dafür, dass meine Sicht zu einseitig war. Zugegeben, die Kritik an meinem Vater war berechtigt. Aber es war eben nicht nur mein Vater, dem ich meine Schwierigkeiten zu »verdanken« hatte. Meine Mutter hatte einen ebenso großen Anteil. Das war zugegeben erschütternd für mich. Denn ich erkannte, dass ein partnerschaftliches Miteinander von Frauen und Männern auch die gemeinsame Verantwortung für die entstandene Situation betrifft.
Ich gründete dann gemeinsam mit Gleichgesinnten eine Selbsthilfegruppe, in der sowohl Männer als auch Frauen waren. Das entsprach konsequent den gewonnenen Einsichten und bestimmt mich bis heute.

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche/historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Das wesentliche Ereignis für mein männerpolitisches Engagement war dann die deutsche Einheit 1989/90. In Bezug auf Fragen der Geschlechtergerechtigkeit fiel mir die heftige Ideologisierung im Westen auf. Das war in meinen DDR-Kreisen – akademisch gebildete, alternative, bürgerbewegte Szene – nicht in gleichem Maße so. Wenn ich ehrlich bin, verstehe ich bis heute dieses Gegeneinander der Geschlechter in den alten Bundesländern nicht. Ich denke, das hat vor allem mit der größeren Bedeutung von materiellem Besitz zu tun, was in der Geschlechterdiskussion bis heute fortwirkt. Frauen haben sich – vermutlich zurecht – materiell abhängiger in ihren Partnerschaften gefühlt. Andererseits war der emotionale Zugriff der Mütter auf ihre Kinder aufgrund der traditionellen Rollenverteilung größer. Ich brauchte eine Weile um zu verstehen, dass aktive Vaterschaft im Westen nicht so selbstverständlich war, wie es meine Generation in der DDR bereits gelebt hat – zumindest in den alternativen Kreisen. Das mag zu der für mich nur schwer zu verstehenden Unterschiedlichkeit geführt haben, mit der Frauen und Männer beurteilt werden und die bis heute andauert. Sie ist geprägt von Verständnis für Begrenzungen der Mütter und kritischer Sicht auf die Fehler der Väter. Mir jedenfalls war es auch und gerade unter den neuen gesellschaftlichen Erfahrungen wichtig, für das Miteinander von Frauen und Männern in Kritik und Würdigung einzutreten.
Eine wichtige Zäsur war für mich daher erreicht, als 2001 der Erste Deutsche Frauengesundheitsbericht herausgegeben wurde. Den fand ich gut und richtig. Das Problem war nur, dass es keinen Männergesundheitsbericht an seiner Seite gab. Dabei wusste ich – ich arbeitete mittlerweile in einer Beratungsstelle des Gesundheitsamtes Dresden – dass die Männergesundheitsforschung ebenso lückenhaft und rudimentär war. Es gab nur bei Weitem nicht diese gesellschaftliche Lobby. Männer haben ebenfalls massive gesundheitliche Probleme und sie litten vergleichbar unter den gesellschaftlichen und oftmals auch privaten Anforderungen. Da mag man viel von »patriarchaler Dividende« sprechen. Die geringere Lebenserwartung sollte uns hier jedoch zu einer differenzierten Betrachtung führen. Für mich war es daher eine Frage von Geschlechtergerechtigkeit, sich ebenso um die Männer zu kümmern. Die Reduktion von Männerproblemen auf marginalisierte Gruppen griff mir zu kurz.
2001 initiierte ich eine Initiative für einen bundesdeutschen Männergesundheitsbericht, der viele Männer (und auch einige Frauen) in der Forderung nach einem solchen zusammenführte. Klaus Hurrelmann unterstützte mich dabei nach Kräften.

Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen, Männern und Vätern?
Mein Engagement in den folgenden Jahren bezog sich vor allem auf die Männergesundheit. Das entsprach meiner Expertise in meiner Arbeit im Gesundheitsamt und meiner gesundheitswissenschaftlich ausgerichteten Promotion. Ich war Teil der sich nun stärker artikulierenden Männergesundheitsbewegung. U.a. war ich Gründungsmitglied des Netzwerks Jungen- und Männergesundheit, ich war Gründungs- und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Mann und Gesundheit (DGMG), und später dann auch Vorstandsmitglied der Stiftung Männergesundheit.
Als besonderen Erfolg sehe ich, dass die DGMG gemeinsam mit der Stiftung Männergesundheit 2010 einen ersten deutschen Männergesundheitsbericht herausgegeben hat. Er fand seine Fortsetzung in weiteren Berichten der Stiftung Männergesundheit, die jeweils ein bestimmtes Thema im Fokus haben. Ich war dabei Mitherausgeber des ersten, zweiten und vierten Berichts. Zuvor, 2007, hatte ich gemeinsam mit Theodor Klotz das Buch »Männerleben und Gesundheit« herausgegeben. Ebenfalls 2007 entwickelte ich gemeinsam mit einem Freund aus der AIDS-Hilfe Dresden das Internetprojekt »Pflege Deinen Schwanz«, das die Förderung sexueller Gesundheit von Männern im Fokus hat.
2017 initiierte ich innerhalb der Stiftung Männergesundheit den »Tag der ungleichen Lebenserwartung« (10. Dezember), zu dem wir in den Folgejahren Social-Media-Kampagnen und Vor-Ort-Projekte durchführten.
Über das Thema Männergesundheit hinaus führte ich Ende der Neunziger-, Anfang der Zweitausenderjahre Männerwochenenden in Dresden durch. Ich absolvierte zudem eine therapeutisch-beraterische Ausbildung. Mit Freunden, die ich dort kennenlernte, bot ich über mehrere Jahre Männerworkshops in Naumburg an, bei denen es um tiefenpsychologisch fundierte Selbsterfahrung ging. Darüber hinaus leite ich seit 2005 Männergruppen, die tiefenpsychologisch ausgerichtet sind und körpertherapeutische Elemente enthalten.
Zur gleichen Zeit begann ich gemeinsam mit meiner Frau, Paarberatungen anzubieten. Unser Ansatz, dass wir als Frau und Mann und als Alltagspaar den Paaren in Krisensituationen zur Verfügung stehen, ist ihnen eine große Hilfe und für mich persönlich beglückend. Darin verwirklicht sich mein Streben nach Geschlechtergerechtigkeit, bei dem Frauen wie Männer gleichermaßen verständnisvoll und kritisch betrachtet werden.

Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und in Beziehungen zu anderen ausmachen?
Es geht mir bei all meiner Arbeit um das Miteinander. Es ist für mich beispielsweise nicht vorstellbar, einen Mann in der Männergruppe, der sich über ein aktuelles Problem in seiner Partnerschaft beschwert, nicht auf seine Anteile bei der Entstehung der Schwierigkeiten anzufragen. Gleiches gilt für unsere Arbeit mit Paaren. »Parteiliche Beratung«, egal ob für Männer oder für Frauen, lehne ich ab, denn sie hilft den Betroffenen kaum, die Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. Das bedeutet jedoch nicht, in gesellschaftlichen oder strukturellen Fragen keine Haltung einzunehmen. Ich wende mich nur gerade auch im Geschlechterdiskurs gegen die schon im Vorhinein feststehenden Antworten.
Diese Haltung erfordert natürlich auch, diesen Anspruch bei sich selbst zu leben. Insbesondere die gemeinsame Arbeit mit meiner Frau in den Paarberatungen erfordert beständige Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten und den eigenen Haltungen. Wir befinden uns daher in einem steten Selbsterfahrungsprozess, den wir in Supervision, Intervision und dem gemeinsamen Leben umsetzen. Dabei erlebe ich, dass unsere Liebe zueinander wächst.

Was ist für dich »Erfolg« in deiner Auseinandersetzung mit Jungen-, Männer- und Väterthemen? Und welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest?
Erfolge sehe ich in meiner Auseinandersetzung mit den angesprochenen Themen, wenn ich in meiner beständigen Auseinandersetzung vorankomme. Ich habe gerade mein neues Buch »Partnerschaft ist zweifach« fertiggestellt. Es beschreibt weitergehende Erkenntnisse, die wir in zahllosen Paarberatungen gewonnen haben. Das Schreiben zwingt zur Genauigkeit und Klarheit. Auf dieses Buch bin ich wieder stolz. Zumal der Titel das Thema der Geschlechtergerechtigkeit auf den Punkt bringt.
Erfolg ist auch, wenn Paare oder einzelne Menschen mit meiner oder unserer Unterstützung einen guten Weg für sich finden. Diese direkte, unmittelbare Arbeit kann beglückend sein und gibt mir Energie.
In gleicher Weise kann ich das für mein politisches Engagement für die Männergesundheit leider so nicht sagen. Sicher gibt es mittlerweile eine größere gesellschaftliche Aufmerksamkeit gegenüber Männergesundheitsthemen, wenn wir die letzten zwanzig Jahre betrachten. Immerhin wurde auch vom Robert-Koch-Institut 2014 ein staatlicher Männergesundheitsbericht herausgegeben. Aber auf diesem Gebiet halten sich das Gefühl, etwas erreicht zu haben, und das Gefühl der Vergeblichkeit, die Waage. 2023 bin ich vom Vorstand der Stiftung Männergesundheit zurückgetreten und habe mich damit vom Thema Männergesundheit weitgehend zurückgezogen.
Dennoch bin ich auf mein jahrelanges gesellschaftliches Engagement stolz. Ich denke, ich habe auf meine Weise Akzente gesetzt und vor allem thematisch genau das vertreten, was ich vertreten wollte und was ich weiterhin vertreten werde. Insofern gibt es kein Projekt, das bis zu meinem Lebensende noch umgesetzt werden müsste, um meinem Leben Sinn zu geben. Nichtsdestotrotz werde ich sicher weitere Projekte vorantreiben, solange ich die Kraft dazu habe. Ein bis zwei Buchideen habe ich jedenfalls schon im Kopf.
 
 

 
 
 
 
 
:: Dr. Matthias Stiehler, Jg. 1961, Dresden. Maschinenbauschlosser, Theologe, Erziehungswissenschaftler, Psychologischer Berater. Verheiratet, drei Kinder, sechs Enkel. www.matthias-stiehler.de.
.

»Eine neue Männergeneration denkt und fühlt oft schon progressiver als meine eigene.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Marc Gärtner, Berlin

Männer in Bewegung

Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: 3ster, photocase | privat

 
Marc, was war oder ist dein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen-, Männer- und Väterthemen? Was dein politischer und fachlicher Zugang?
Einerseits gab es ab der späten Kindheit einen Schrecken vor vielen Situationen, die mit Konkurrenz, Aggression und (gegenseitiger) Abwertung bis hin zu Demütigung zu tun hatten. Manche kennen diese ex- oder implizite Gewalt ja ebenfalls, von Straßen, Bolzplätzen und Schulhöfen. Später habe ich gelernt, dass das durchaus zu den üblichen »Männlichkeitsanforderungen« gehört. Andererseits haben mich früh soziale Bewegungen und progressive Ideen fasziniert. Feminismus habe ich daher als Verbündeten erlebt: Das meiste, was er in Frage stellte, war ohnehin eine Bürde, und er half mir bei der Menschwerdung ungemein. Meiner Deutschlehrerin habe ich diesbezüglich viel zu verdanken.

Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen, Männern und Vätern?
Am Anfang war es vor allem Sexismus, auch Fragen rund um sexualisierte Gewalt. Ebenso war Homophobie, angeregt durch schwule und lesbische Freund*innen, ein Thema. Die massive Welle des Rechtsradikalismus Anfang der 1990er stellte Fragen, die sich schnell auch als Männerfragen herausstellten. Diese Fragen finde ich noch immer wichtig.

Wie hat sich dein Engagement für Jungen, Männer und Väter entwickelt, ggf. verändert?
Am Anfang standen diverse Männergruppen in Bremen. Gemeinsam wollten wir das Patriarchat, naja, stürzen ging offenbar nicht, aber zumindest stören. Unser Vehikel war das »Männercafé«, eine monatliche, thematische Diskussionsveranstaltung. Mein blinder Fleck war die Kombination »Arbeitswelt und Geschlecht/Männlichkeit«. Darauf brachte mich ab 2001 das Berliner Institut Dissens, bei dem ich dann rund ein Jahrzehnt zu genau diesem Thema geforscht, gelehrt und beraten habe.

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche/historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Da gibt es mehr, als ich aufzählen kann. Zunächst 1968, zwei Jahre vor meiner Geburt. Die Zeit um dieses Jahr herum war ein wichtiger Aufbruch aus der post-faschistischen Nachkriegskultur hin zur offeneren, demokratischen Gesellschaft, die auch geschlechterdemokratisch sein muss, was damals zumindest einige erkannten. Dann der Umbruch in der DDR und in Osteuropa ab 1989: Natürlich brachte er Freiheiten und Demokratie. Ich sah in dieser Zeit aber auch Gefahren: ein ungebremster, weltweiter Kapitalismus, die Erosion des Sozialstaates, aber vor allem der ungeheure Nationalismus, der sich nun vehement Bahn brach. Der führte viel Rassismus im Schlepptau, die Pogrome in Hoyerswerda und Rostock, ein massives Staatsversagen, das dann in die NSU-Mordserie mündete. Die Toleranz, die Politik und weite Teile der Gesellschaft diesen Bewegungen teilweise entgegenbrachten, hat mich immer entsetzt. Ich bin bis heute ratlos, warum traditionelle Männlichkeit aus dem Kontext von Nationalismus und Gewalt so lange ausgeblendet werden konnte. Das passierte weitgehend auch 2011 beim antifeministischen, rassistischen und Rückschritts-Manifest des Massenmörders Anders Breivik. Ähnliches gilt für den Trump’schen Rechtsradikalismus in den USA. Die Ernte solcher Ignoranz fährt heute hierzulande die AfD ein, deren Feindbilder die gleichen sind.

Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deinen privaten oder beruflichen Beziehungen?
Die stützenden, kritischen, nahen Beziehungen mit Menschen unterschiedlicher Geschlechter sind sicher das Wertvollste in meinem Leben. Selbsterfahrungsansätze wie Radikale Therapie und Co-Counseling haben geholfen, auch emotional zu wachsen und resilienter zu werden.

Drei Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und/oder Beziehungen zu anderen ausmachen?
Ich kann ganz gut auf andere zugehen; vor und mit Menschen reden, auch in größeren Gruppen, ist für mich eher angenehm. Ich arbeite auch gern in internationalen Netzwerken, das relativiert oft die Perspektive aus der eigenen, engeren Lebenswelt. Und zuletzt: Ich habe als Historiker gelernt, in längeren Entwicklungsprozessen zu denken, das kann helfen, wenn es gerade mal schwierig aussieht.

Was ist für dich »Erfolg« in deiner Auseinandersetzung mit Jungen-, Männer- und Väterthemen? Hast du Beispiele?
Es gibt sichtbare Erfolge, wie die Einführung der Partnermonate, die Vätern den Zugang zur Elternzeit erleichterte. Ich denke, dass wir mit unserer Forschung rund um »Caring Masculinities« ab den frühen 2000ern dazu beigetragen haben. Neben sehr vielen Kolleg*innen in der EU nenne ich hier vor allem die von Dissens und dem VMG Steiermark. Das Care-Paradigma hat sich ja ein wenig etabliert in der Debatte über Männlichkeiten, das finde ich erfreulich.

Was gibt dir persönlich Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen?
Ganz allgemein ist es immer ein angemessenes Verhältnis aus Herausforderung und Anerkennung, oder aus Sicherheit und produktiver Verunsicherung. Ich bin ein Teamplayer, ich brauche Austausch, emotionale Resonanz und intellektuelle Anregung. Wenn ich das habe, geht es mir gut.

Was hat die Männer/* ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast?
Dass sie die Privilegien und die Kosten traditioneller Männlichkeit gleichzeitig sehen konnten. Denn weder Gewalt noch Homophobie, weder »carelessness« noch ungebremste Konkurrenz, also Kerne hegemonialer Männlichkeit, liegen im Interesse von Jungen, Männern und Vätern selbst. Ich mag es, wenn Männer nicht einfach »männer-identifiziert« sind, sondern Verantwortung für ihre soziale Rolle und Positionierung übernehmen, auch öffentlich. Dabei sollten wir aber auch empathisch sein und verstehen wollen, was andere antreibt. Verstehen heißt ja nicht, es unkritisch hinzunehmen.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis vom Umgang mit Jungen-, Männer- und Väterthemen?
Leider ignorieren viele noch immer, dass Männlichkeits-Stereotype und soziale Ungleichheit ein guter Nährboden für Sexismus, Aggression und Gewalt sind. Die Wut, die Feminismus und das Wort »Gender« in manchen (insbesondere Männern) auslösen, könnte sich in Krisenzeiten verstärken, in denen altes Denken den Schein von Sicherheit und Heimeligkeit verbreitet. Es gibt auch in einflussreichen Eliten manche, die würden gerne die Zeit zurückdrehen, als Frauen, Schwule, Nicht-Weiße und Trans* nichts zu sagen hatten. Widerstand dagegen und überzeugende Konzepte werden noch wichtiger, denn das Problem bleibt stereotype, traditionelle, patriarchale und konkurrenzbasierte Männlichkeit.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest?
Wir sind gerade beim Bundesforum Männer dabei, im Angesicht der Klimakrise unsere Konzepte zu erweitern, in Richtung »Männlichkeit(en) nachhaltig gestalten« – also »caring masculinities« auch unter den Gesichtspunkten von ökologischer Verantwortung, sozialer und wirtschaftlicher Resilienz zu erweitern. Ich würde auch gerne weiterhin noch in Wirtschaft und Betrieben das Thema »Männer und Gleichstellung« pushen. Hier können manche von Start-ups etwas lernen, auch weil eine neue Männergeneration da oft schon progressiver denkt und fühlt als meine eigene. Das wird leider oft übersehen, und ich fände toll, wenn wir es schaffen, dass die Generationen Y und Z sich noch stärker im Bundesforum einbringen.
 
 

 
 
 
 
 
 
:: Marc Gärtner, Jahrgang 1970, ist Referent für internationale Gleichstellungspolitik beim Bundesforum Männer. Er studierte Geschichte, Kulturwissenschaft und Soziologie. 2012 promovierte er an der FU Berlin mit einer Arbeit über Männer und die betrieblichen Bedingungen ihrer Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Seit den 1990er Jahren beschäftigt er sich aktiv – politisch, wissenschaftlich und gesellschaftlich – mit Fragen von Mannsein und Männlichkeit(en). Seit 2001 forscht, lehrt und berät er schwerpunktmäßig zu den Themen Arbeit, Organisation und Geschlecht. Zunächst führte er beim Institut Dissens erste Studien zu Männern und Gleichstellung im Betrieb durch (Work Changes Gender, 2005, und Fostering Caring Masculinities, 2006). 2012 war er an der ersten umfassenden, europaweiten Vergleichsstudie zur Rolle von Männern in Gleichstellungsprozessen beteiligt. 2012-16 führte er in Kooperation mit der EAF Berlin betriebliche Projekte zu Führung, Vereinbarkeit. Diversität und Gleichstellung durch, u.a. Karriere mit Kindern und FleXship. 2017-22 forschte er beim Grazer Institut für Männer- und Geschlechterforschung. Er ist Vorstandsmitglied der EAF Berlin und kooperiert mit Organisationen aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und NGOs in Deutschland, Österreich und der EU. Regelmäßig publiziert er zu Themen wie Diversity Management, Work/Life-Fragen und Organisationen. Außerdem ist er (Co)Autor diverser Publikationen zum Thema Antifeminismus, u.a. im Bereich der Wissenschaftskritik. – Kontakt: gaertner@bundesforum-maenner.de.

»Verlässlichkeit und der gemeinsame Einsatz gegen soziale Ungerechtigkeiten«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Dirk Bange, Hamburg

Baum im Nebel
Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: tequila sunrise, photocase.de | privat

 
Dirk, was war oder ist dein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen-, Männer- und Väterthemen? Was dein politischer und fachlicher Zugang?
Ich bin über die sexualisierte Gewalt an Kindern, insbesondere an Jungen, zur Jungen- und Männerarbeit gekommen. Ende der 1980er Jahre hat sich, ausgehend von Zartbitter Köln, mehrere Jahre lang eine Gruppe von Fachmännern zum so genannten »Männerwochenende« in Wuppertal getroffen. Wir haben dort von der Jungensozialisation über die Sexualität von Männern sehr vieles sehr offen und persönlich diskutiert. Unser Ziel war es, ausgehend von unseren eigenen biographischen Erfahrungen, den gesellschaftlichen Blick auf die Jungen zu verändern und auf ihre »schwachen Seiten« aufmerksam zu machen. Zu der Gruppe, die sich neben dem Wochenende in Wuppertal regelmäßig bei Zartbitter in Köln getroffen hat, gehörten auch Rainer Neutzling und Dieter Schnack. Die beiden veröffentlichten im Jahr 1990 das bis heute für mich wichtige Buch »Kleine Helden in Not: Jungen auf der Suche nach Männlichkeit«. Wir alle haben damals gehofft, dass sich eine Männerbewegung bildet, die gesellschaftliche Veränderungen erkämpfen würde. Leider ist es dazu nur in Ansätzen gekommen.

Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen, Männern und Vätern?
Der Einsatz gegen sexualisierte Gewalt an Kindern – insbesondere Jungen – ist mir bis heute ein großes Anliegen. Gemeinsam mit vielen Kollegen haben wir hier sicher einiges zum Besseren bewegt. Daneben war mir die Veränderung der Väterrolle stets wichtig. Das ergibt sich schon aus meinen Aufgaben als Abteilungsleiter für Familie und Kindertagesbetreuung in der Hamburger Sozialbehörde, aber natürlich auch als Vater zweier Töchter.

Wie hat sich dein Engagement für Jungen, Männer und Väter entwickelt, ggf. verändert?
Mir liegen die Themen weiterhin am Herzen und ich versuche, so viel Zeit wie möglich dafür aufzuwenden. Wenn ich dann sehe, dass sich etwas zum Positiven verändert, motiviert mich das, weiterzumachen.

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche/historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Die Aufdeckung der Missbrauchsskandale Anfang der 2010er-Jahre war sehr wichtig. Sie hat dazu geführt, dass insbesondere die sexualisierte Gewalt an Jungen mehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit und der Politik gerückt ist. Im Kontext der stärkeren partnerschaftlichen Aufteilung der Familien- und Erwerbsarbeit war die Einführung des Elterngeld Plus mit dem Partnerschaftsbonus am 01. Januar 2015 ein Meilenstein.

Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deinen privaten oder beruflichen Beziehungen?
Absolut wichtig war es für mich, dass ich immer wieder Mitstreiter/innen getroffen habe, die sich unermüdlich gegen die sexualisierte Gewalt und für eine veränderte Mädchen- und Jungensozialisation eingesetzt haben. Ich kann nicht alle aufzählen, möchte aber exemplarisch ein paar Namen nennen, da wir einen langen Weg gemeinsam gegangen sind: Ursula Enders, Jörg Fegert, Barbara Kavemann und Thomas Schlingmann waren für mich wichtige Wegbegleiter/innen.

Drei Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und Beziehungen zu anderen ausmachen?
Verlässlichkeit, Beharrungsvermögen, an Fakten orientiert argumentieren und nicht zuletzt bin ich auch für den einen oder anderen Spaß zu haben.

Was ist für dich »Erfolg« in deiner Auseinandersetzung mit Jungen-, Männer- oder Väterthemen? Hast du Beispiele?
Ein Erfolg war sicher, dass viele Väter ihre Rolle heute anders leben als in vergangenen Zeiten. Dabei möchte ich aber nicht verschweigen, dass hier – wie z.B. bei den Partnerschaftsmonaten – noch reichlich Luft nach oben ist. Für mich sehr, sehr wichtig ist, dass Jungen, denen sexualisierte Gewalt widerfahren ist, sich heute öffnen und dann auch Hilfe bekommen können.

Was gibt dir persönlich Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen?
Wenn ich den Eindruck habe, dass sich durch meine Arbeit die Situation für Kinder verbessert. Ich habe in Berlin sehr intensiv daran mitgewirkt, dass es ab 2026 für die 1. Klasse und dann Jahr für Jahr aufwachsend bis zur 4. Klasse einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule gibt. Dies könnte zu mehr Bildungsgerechtigkeit führen, und wenn dann auch noch die Themen Mädchen- und Jungensozialisation an den Schulen mehr Gewicht bekommen, wäre das doch fein.

Was ist dir (mit) gelungen, worauf bist du (zusammen mit anderen) vielleicht auch stolz?
Ich habe ja schon ein paar Beispiele genannt. Deshalb möchte ich ergänzend nur auf den Fachartikel »Sexuelle Erregung als Faktor der Verunsicherung sexuell missbrauchter Jungen« von Thomas Schlingmann und mir verweisen. Durch ihn ist es uns gelungen, ein für viele sexuell missbrauchte Jungen belastendes Thema bekannter zu machen. Ich bin von Betroffenen mehrfach darauf angesprochen worden, dass ihnen das sehr geholfen hat.

Mit welchen Institutionen und Personen warst du gerne beruflich oder privat verbunden oder bist es noch?
Ich bin bis heute mit Zartbitter Köln bzw. Ursula Enders eng verbunden. Wichtig war auch meine Zeit im Fachbeirat beim UBSKM und die gemeinsamen Treffen mit dem Betroffenenrat. Mit der neuen UBSKM Kerstin Claus arbeite ich sehr vertrauensvoll zusammen. Nicht zuletzt möchte ich aber auch meine Kollegen und Kolleginnen aus der Sozialbehörde nennen. Mit vielen von ihnen verbindet mich ein enges und von Vertrauen getragenes Verhältnis.

Was hat die Männer/* ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast?
Verlässlichkeit und der gemeinsame Einsatz gegen soziale Ungerechtigkeiten. Entscheidend dabei war und ist immer das gegenseitige Vertrauen. Und aus heutiger Sicht muss ich sagen, dass ich da fast niemals enttäuscht worden bin.

Hast du eine Lebensphilosophie, ggf. ein Lebensmotto?
Immer weitermachen, nicht aufgegeben und das Glas ist immer fast voll.

Wo siehst du Brüche in deinen beruflichen oder freundschaftlichen Beziehungen? Wodurch wurden diese verursacht?
Mein beruflicher Wechsel von Zartbitter Köln in die Hamburger Sozialbehörde war sicher ein Bruch. Ich kam aus der Praxis in die Verwaltung und das macht schon einen Unterschied aus. Ich habe aber immer den Kontakt zur Basis gehalten und versucht, ihre Perspektive in die Kinder- und Jugendpolitik einzubringen. Gleichzeitig habe ich stets wissenschaftlich gearbeitet und dadurch eine dritte Perspektive gehabt, die für meine Arbeit sehr bereichernd war und ist.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis vom Umgang mit Jungen-, Männer- und Väterthemen?
Die gesellschaftlichen Widerstände gegen ein anderes Jungen- und Männerbild sind immer noch enorm. Das deutet daraufhin, dass ihre Veränderung an den Kern unserer Gesellschaft rührt und die bestehenden Gesellschaftsstrukturen zumindest teilweise in Frage stellt.

Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deiner Arbeit an?
Es werden immer noch Kinder sexuell missbraucht und sie haben sehr häufig lange unter den Folgen zu leiden. Gleiches gilt für die Jungensozialisation, die weiterhin viel Unglück produziert. Hier etwas zu verändern, ist und bleibt eine starke Antriebsfeder für mich.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest? Und was möchtest du gegen Ende deines Lebens erreicht haben?
Da gibt es viele. Ich verzichte deshalb darauf ein einzelnes zu benennen.

Eine Anmerkung, die du gerne noch machen möchtest?
Die Zusammenarbeit mit Dir, Alexander, war immer klasse. Als ich die Antworten auf Deine Fragen entwickelt habe, habe ich mir ein altes Heft von »Switchboard – Zeitschrift für Jungen- und Männerarbeit« herausgesucht und angeschaut. Da wurde mir klar, dass Du einer von den Männern bist, mit dem ich einen langen gemeinsamen Weg beschritten habe. Ich möchte Dir an dieser Stelle dafür und für Deinen Einsatz für Jungen und Männer stellvertretend danken.
 
 

 
 
 
 
 
 
:: Dirk Bange, Jahrgang 1964, lebt mit seiner Frau am Rande von Hamburg und ist Vater zweier Töchter. Er ist promovierter Erziehungswissenschaftler und arbeitet bei der Hamburger Sozialbehörde als kommissarischer Leiter des Amtes für Familie. Seit mehr als 30 Jahren setzt er sich gegen sexualisierte Gewalt an Kindern und für ein verändertes Jungenbild ein. Er veröffentlichte sechs Bücher und schrieb mehr als 100 Fachaufsätze insbesondere zum Kinderschutz und zu anderen Themen der Kinder- und Jugendhilfe.

»Der Anspruch sollte sein, etwas zu tun, was einem Jungen in seiner Situation hilft.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Josef Riederle, Kiel

drei junge Männer vor dramatischem Himmel

Leitfragen: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: e.kat, photocase.de | privat

 
Nach einem Verwaltungsstudium habe ich mit 29 Jahren noch Sozialpädagogik studiert. Dann begann im April 1991 der Aufbau des »Männerzentrum Kiel e.V.«, in welchem ich über 4 Jahre lang leitend aktiv war. Und 1992 absolvierte ich die Jungenarbeiter-Weiterbildung (antisexistische Jungenarbeit) an der Heimvolkshochschule Alte Molkerei Frille, um dann 1995 KRAFTPROTZ Bildungsinstitut für Jungen und Männer zu gründen, das ich 2020 an meinen Nachfolger übergeben habe. Zusammen: ein 30 Jahre langer Weg, der davon geprägt war, dass es für die Belange von Jungen und Männern kaum Verständnis gab. Die notwendige Frauenemanzipationsbewegung hat eine Sichtweise auf Jungen und Männer als störende, zerstörende, sexistische Wesen, die von der patriarchalen Dividende profitieren, entwickelt. Eine defizitorientierte Wahrnehmung, die nur einen Teil der männlichen Wirklichkeit abbildete und nicht erkannte, dass Jungen zu Männern gemacht werden. So wurden z.B. die Angebote der Jugendzentren von Jungs wahrgenommen. Aber niemand fragte danach, ob diese Angebote die Entwicklung von Jungs hin zu verantwortlicher Männlichkeit fördern oder ein tradiertes Männlichkeitsstereotyp bedienen.

1990 habe ich eine Veranstaltung zu Angsträumen in Kiel besucht und dort gab es eine Arbeitsgruppe nur für Männer. Die Inhalte der AG weiß ich nicht mehr, aber ich erinnere mich gut, wie beschämend ich es fand, dass die veranstaltende Frauenorganisation für uns Männer ein Forum schaffen musste, damit wir überhaupt mal zusammenkamen. Das war der entscheidende Funke, um zusammen mit anderen Männern das »Männerzentrum Kiel e.V.« zu gründen. Der Leitsatz für Jungenarbeiter: »Du selbst bist Dein wichtigstes Werkzeug!« macht deutlich, dass jeder, der mit Jungs arbeiten will, auch seine eigene Biografie, seine Werte und sein Mann-Sein in einer patriarchalen Gesellschaft reflektieren sollte. Denn der »heimliche Lehrplan« prägt das eigene Wirken mit.

Ich habe die Haltung, die ein Mensch berücksichtigen sollte, der mit Menschen arbeitet, in vier Sätzen ausgedrückt, die als Botschaft beim Gegenüber ankommen sollten:
1. Ich sehe Dich: Ich bin da. Ich interessiere mich für Dich. Ich bin bereit, hinter Deine Fassade zu schauen und Dich bei Deinem Blick hinter Deine Fassade zu begleiten.
2. Du bist okay: Die persönliche Wertschätzung als Mensch, den persönlichen Respekt hat jeder verdient. Aber nicht alles, was jemand macht, ist okay. Das konkrete Verhalten darf und soll kritisch reflektiert werden, doch die Person wird respektvoll behandelt.
3. Du gehörst dazu: Du bist ein Junge und daher gehörst Du dazu. Du bist ein Mann und daher gehörst Du dazu. Du musst nichts dafür tun, musst nicht gigantisch sein, Dich nicht besser oder größer darstellen als Du bist. So wie Du bist, gehörst Du dazu und genügst.
4. Ich bleibe: Ich halte Dich aus. Ich breche nicht zusammen, wenn Du deine Wut und Deinen Frust zeigst. Ich bin der Scheuerpfahl, an dem Du Dich reiben kannst. Ich konfrontiere Dich mit mir und mit meinen Werten und Bedürfnissen.

Ich habe versucht, Jungs und Männern zu verdeutlichen, dass alles, was sie empfinden, zu einem gesunden Mannsein gehört. Ich mag es nicht, von femininen Anteilen zu sprechen. Es ist alles ein männlicher Anteil eines Mannes. Alle Anteile sind gleich wertvoll, alle sind wichtige Teile eines ganzen Mannes.
Ohnmacht und Hilflosigkeit sind Empfindungen, die wohl keiner gerne spürt. Doch als Jungenarbeiter und als pädagogisch Wirkender gehören sie zum Alltag. Damit meine ich nicht, dass man nichts tun könnte. Doch der Anspruch sollte sein, etwas zu tun, was förderlich ist, was einem Jungen in seiner Situation hilft. Und da war ich oft hilflos, weil ich nicht wusste, was jetzt wirklich hilft und nicht nur einer schwierigen Situation ein vorläufiges Ende bereitet.

Ich habe in all den Jahren viele positive Rückmeldungen bekommen und weiß, dass der Arbeitsansatz der KampfESspiele® viele Frauen und Männer in ihrem beruflichen und privaten Sein gestärkt und geprägt und auch den Blick auf Jungen verändert hat.
Ich fand es immer wichtig, dass Jungen unter Jungen sein dürfen. Geschlechtshomogene Arbeit eröffnet einen Schon- und Gedeihraum zum Wachsen. Und in der Jungenarbeit ist das kein reduziertes Männlichkeitsstereotyp, das angeboten wird, sondern ein vielschichtiges, gefühlvolles, individuelles, kraftvolles, herzliches, lebensbejahendes Bild vom Junge- und Mannsein. Leider wird dies durch »moderne« Sichtweisen und Theorien in Frage gestellt und endlose Diskussionen haben mich ermüdet.

Spannend fand ich in all den Jahren die Zusammenarbeit mit der Mädchenarbeit, und die Berührungsängste der Anfangszeiten haben sich längst in eine achtsame, wertschätzende, auch sich ergänzende Akzeptanz entwickelt. Ich war nie der Netzwerker, der sich in lokalen und nationalen Arbeitskreisen wohl gefühlt hat. Ich glaube, ich habe manch einen Kollegen und manch eine Kollegin enttäuscht, wenn ich nach kurzer Zeit mehr oder weniger lautlos nicht mehr erschienen bin.

Der Kooperationspartner, der mich die letzten 20 Jahre am meisten begleitet und inspiriert hat, ist der Schweizer Verein Respect!. Vor allem Urban Brühwiler ist mir ein so geschätzter und freundschaftlicher Kollege geworden, und ich bin dankbar für jeden Tag, den ich mit ihm zusammenarbeiten durfte.

Ich arbeite seit 16 Jahren ehrenamtlich bei Männerpfade mit. Männerpfade unterstützt Männer dabei, ihr wahres Selbst zu entdecken und dem Diktat des Egos zu entkommen. Dort arbeite ich auch seit zwei Jahren in einer Ältesten-Werkstatt mit. Zunächst einmal sprechen wir von Herzen und hören einander mit offenem Herzen zu. Die Wege und Herangehensweisen an das Altern sind so unterschiedlich. Ziel dieser Werkstatt ist es auch, herauszufinden, was das Älteste-Sein in unserer Gesellschaft ist und wie es wirken kann.
Ein intensives und glückliches Leben im Angesicht des körperlichen und psychischen Abbaus, im Angesicht des sicheren Todes und der eventuell vielen Jahre, die Mann nach dem Ende der Erwerbsphase noch zu leben hat.

Ich habe mal einen Satz aufgeschrieben, der mich weiter begleitet: »Wer mehr sein will, muss lassen können.« Darum geht es mir jetzt auch mehr. Loslassen und Dasein. Und durch das Dasein auch ansprechbar sein.
Ich will mir noch viele Fragen anhören und keine Antworten darauf geben, sondern lediglich kleine Bemerkungen, die dazu führen können, dass sich die Frage weiterentwickelt.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
:: Josef Riederle, Jahrgang 1959, Kiel.

»Einfach mal die Klappe halten!«

Ich, mein Vater auf dem Sofa, Till Lindemanns blutunterlaufene Augen und wie hinter mir mal Franz Alt saß – oder: meine Antworten auf den MännerWege Fragebogen

Mann mit kaputtem Blasinstrument

Text: Frank Keil
Fotos: 7inchpixel, photocase.de | privat

 
Drei bis vier Seiten Platz für Antworten auf den MännerWegeFragebogen? Oha! Die bräuchte ich allein, um der ersten Frage des persönlich-biografischen Zugangs zum Männerthema einigermaßen nahe zu kommen. Aber gut.
Mir fällt zu dieser Frage sofort mein Vater ein. Er arbeitete zu viel, er trank zu oft zu viel, er wurde ein unglücklicher Mensch, und ich konnte ihm dabei zusehen. Mir schien das keine gute Idee zu sein, wie man sein Leben verbringen sollte, auch wenn ich noch Kind war, dachte ich das. Besonders eindrücklich waren die Sonntagabende. Wenn er am nächsten Morgen wieder in aller Frühe in die Knochenmühle musste, zu den Idioten. Er saß auf dem Sofa (braun war es und aus Leder und man versank tief, wenn man sich setzte) und er schwieg. Und er schwieg und schwieg, zwischendurch griff er zur Weinbrandflasche. Springer Urvater. Er wurde keine 60 Jahre alt. Doch zwischendurch gab es helle Momente, wo wir uns nahekamen. Wo ich ihn sehr mochte. Und so überfiel mich früh eine Art Ahnung und bald mehr als das, dass etwas nicht so sein muss, wie es ist. Dass man nur den anderen Weg finden muss, den Ausweg. Dass dieser Ausweg als Weg und Lebensweg nicht unanstrengend werden würde, auch das war mir früh klar. Aber es gab da irgendwie das tiefe Wissen: Es wird sich lohnen. Und ich sagte mir so für mich: »Mach das mal. Geh‘ ihn … diesen Weg, später, wenn du groß bist, und das rechtzeitig, und lass dich nicht abbringen.«

Ich studierte, endlich großgeworden, Pädagogik; auf Diplom (immer noch Frage 1). Ein völlig nutzloses Fach, wie man mir sagte, als ich an der Uni aufschlug. Mir war das egal, das mit dem Nutzen. Ich war wissbegierig, ich wollte etwas lernen, ich wollte mich erfahren und ausprobieren (genaugenommen hat sich das bis heute nicht groß geändert, Frage 3). Außerdem war ich fast nur unter Frauen, was schlicht angenehm war. Sehr wenig Konkurrenz, sehr wenig Gehabe. Und die wenigen Männer, mit denen ich zu tun hatte, waren wie ich: soft und langhaarig, lesebegierig und durchweg freundlich (gehört teilweise zu Frage 5, oder?).
Neben der Uni ging ich wahnsinnig gerne demonstrieren. Am liebsten Häuser besetzen! Wir waren eine ziemlich wüste Truppe. Schwarze Klamotten, schwarze Motorradhelme. »Gefühl und Härte« war die Parole der hedonistischen Autonomen, denen wir nahestanden (wir sind Anfang der 1980er-Jahre, »Schieß doch, Bulle!« stand auf unseren Lederjacken, das finde ich heute nur noch historisch gesehen witzig). Aber mich interessierte das »Gefühl«. Wie mit Ohnmacht umgehen, mit Verzweiflung, mit Wut und mit Gewalt und mit Hilflosigkeit und wie das alles zusammenhing, so mit unserer Männerrolle. Ich schlug eines Tages vor, eine Männergruppe zu gründen, als Gruppe innerhalb unserer Gruppe. Die Hälfte meiner Gruppe lachte mich aus, die andere Hälfte machte mit (also von den Männern; die Frauen fanden das sowieso gut und fragten immer wieder neugierig nach, was wir da eigentlich machen würden). Jedenfalls: Ich hatte meine erste Männergruppe (ich bin wieder bei Frage 1, ja?).

Diese erste Männergruppe war sehr, sehr kopflastig. Sehr theoretisch ausgerichtet. Wir mühten uns ab, die Konstruktion des Patriachats zu verstehen, wir wollten aber auch persönlich werden, eigentlich. Wir warfen uns Bandwurmsätze an die Köpfe und versuchten dann zu entwirren, wer was wie gemeint hatte. Aber irgendwie machte es auch Spaß. Und wann immer es möglich war, gingen wir am Wochenende ins »Café Tuc Tuc« feiern, ein schwuler Partyladen mit bester Disco-Musik, damals hier in Hamburg in der Oelkersallee (Hausnummer 5). Wir schminkten uns, zogen Fummel an, stock-hetero, wie wir waren. Zum Glück waren die »Tuc Tuc«-Schwulen von der lockeren Fraktion, die ihrerseits wenig Lust hatte auf traditionelle Männlichkeit, nur eben in der schwulen Variante, was es ja nicht besser macht(e). Ich glaube heute, sie fanden uns einfach süß, wie wir da zwischen ihnen herumtanzten wie aufgedrehte Maulwürfe. Und zusammen waren wir so queer, wie heute Queersein sein soll, nur viel, viel entspannter. Man musste sich nicht rechtfertigen damals, sich nicht erklären.

Jedenfalls: Als das Studium zu Ende ging, überlegte ich mir als Diplom-Arbeit das Thema »Männergruppen, Theorie und Praxis«. Mein Professor fiel mir um den Hals, als ich es ihm vorschlug. Endlich mal ein Student, der nicht etwas zu Jean Piaget oder Maria Montessori arbeiten wollte. »Ich habe von Ihrem Thema nicht die geringste Ahnung und kann da gar nicht helfen«, freute er sich. Und wie gut es sei, mal etwas Neues zu lernen. Es wurde eine richtig prima Betreuung; schöne Nachmittage in seinem Büro im vierten Stock, das vollgestellt war mit Büchern und benutztem Teegeschirr, und bald duzten wir uns. »Wie heißt der? Klaus Täwie…?« fragte er, notierte sich den Namen Klaus Theweleit und ließ sich erzählen, was in den »Männerphantasien« so stand und wohin die gedankliche Reise ging. Nachdem ich meine Arbeit abgegeben hatte (ich mixte Claude Leví-Strauss mit Sigmund Freud und Volker E. Pilgrim; ich verknüpfte ethnologische Studien von Malinowski aus der Südsee mit Erfahrungsberichten evangelischer Männer-Gesprächs-Kurse aus dem Münsterland, es wurde eine ziemlich impulsive und assoziative Arbeit, die mich beim Schreiben selbst schwer begeisterte, auch ich hätte mir eine Eins-Plus gegeben), veranstalteten wir zusammen ein Männerseminar, unten im großen Seminarraum des Pädagogischen Instituts, zwei Semester lang. Das war schlicht sehr, sehr cool, und ich fühlte mich sehr, sehr ernst genommen und seitdem bin ich den Männerblick nicht mehr losgeworden. Und einmal auf die Spur gesetzt, machte ich weiter. Bis heute.

Manchmal dachte ich zwischendurch kurz: »Werd‘ doch Männerexperte!«. Ein Professioneller. So einer, den sie beispielsweise anrufen, vom Fernsehen und vom Radio und der dann erklären soll, warum immer noch Männer ihre Frauen schlagen oder warum sie keine Freunde haben und was überhaupt mit den Männern so los ist. Und ich erkläre das dann in kurzen, knappen Sätzen. Aber irgendwie kam es nie dazu.
Wohl, weil ich immer umgekehrt dachte und denke (das ist jetzt im Umfeld der Frage 3): Ich bin nicht gemacht für das Eine. Mich interessieren viel zu viele Sachen gleichzeitig (Geschichte und Literatur und Soziales und schwer verdauliche Bildende Kunst, auch Theater usw.) Und dann wollte ich – schreiben. Sätze aneinanderreihen, Texte bauen. Das, was ich sehe und was ich dazu denke und was ich dazu erfahren und recherchieren kann – bei aller Vor- und Umsicht und immer dem Eingeständnis, ich kann total falsch liegen – am Ende in Artikel, Essays, Reportagen und Geschichten zu überführen. Und ich sagte nach einigen Jahren der Pädagogik ade, kaufte mir einen Computer und einen Stapel Disketten und legte los, und ich wurde freier Journalist (der gelegentlich über Männerthemen schrieb und schreibt, weil sie mir wichtig waren und sind; hin und wieder, aber nie nur). Überhaupt bin ich mehr so der Beobachter, der sich auch selbst gerne zuschaut. Und entsprechend fremdele ich mittlerweile sehr mit jeder Form von Aktivismus. Weil man da, ob der Dringlichkeit des Anliegens und der Überzeugung der eigenen Sache gegenüber, in Gefahr ist, sehr schnell seinen eigenen Blick zu verengen. Man will ja aktiv sein, etwas bewegen, auch weil man recht hat, und da stellt man nicht gerne kritische Fragen, sondern drückt aufs Tempo.

Jedenfalls stieß ich zwischendurch auf diesem Weg auf das Magazin »Switchboard«, abonnierte es, nahm irgendwann Kontakt auf und lernte Alexander kennen und bald schrieb ich für ihn, also für Andreas und ihn, und irgendwie auch für mich.
Mann, was haben wir für schöne Themenschwerpunkte realisiert, immer leicht spielerisch angelegt. »Männer und Fleisch« und »Männer und Handwerk« und »Männer und Obdachlosigkeit« fallen mir ein. Ihr konntet manchmal sogar ein kleines Honorar zahlen, wenn ich das richtig erinnere. Schon damals stellte ich Bücher vor, die für Männer interessant sein könnten (die Rubrik hieß »MittelStücke«, zum Ende des Heftes hin), wobei keinesfalls klassische Männerbücher verhandelt werden mussten (bloß nichts Plakatives!) und sie durchaus von Autorinnen sein konnten (zuweilen verstehen uns die Frauen ja so viel besser), so wie ich heute das »Männerbuch der Woche« führe, nach dem Prinzip von damals (kurz Frage 3).
Und mit Ralf verbindet mich die Arbeit für sein damaliges Väter-Magazin »Paps« (ja, das war kein toller Titel, das klang immer so nach Vätern, denen man helfen muss, sich die Schuhe zuzubinden). Aber – ein gedrucktes Väter-Magazin, das ist heute kaum noch vorstellbar. Und auch für das Magazin der Evangelischen Männerarbeit habe ich zuletzt geschrieben (»Männerforum« hieß es, auch kein Knaller-Titel, das erst monatlich erschien, dann vierteljährig, dann zwei Mal im Jahr, bis es endgültig sang- und klanglos eingestellt wurde; wahrscheinlich erinnert sich niemand mehr daran, man findet es passenderweise auch nicht im Internet). Weshalb ich, als ich vor ein paar Jahren zur Schweizer »Männerzeitung« stieß und bald zur Redaktion gehörte und die Deutsch-Schweiz ein Teil meines Lebens wurde und es weiterhin ist, erneut überzeugt war und wurde, dass man raus muss aus der Männerecke. Dass man es umgekehrt machen muss: spannende Texte und Geschichten schreiben, all sein Herzblut darein ergießen, ohne Zögern, dafür mit Kraft und Risikobereitschaft – die Männer kommen mit ihren Themen schon von selbst um die Ecke und setzen sich dazu, das wird schon. Und wir machten »ERNST«. Sechs Jahre lang, 24 Ausgaben. Derzeit sind wir dabei uns in ein Publikationsteam zu transformieren. Professionell und freundschaftlich verbunden.

Von daher: Was ich gerne noch mal machen würde (Frage 16, ich springe mal), was mich richtig begeistern würde? Weiterschreiben! Unbedingt. Jeden Tag auf meine Weise. Und an meinen Themen dranbleiben, einerseits. Und andererseits immer wieder das Fenster öffnen und schauen, was gerade vorbeigeweht kommt. Verschiedene Buchprojekte wälze ich derzeit immer mal wieder vor mich hin. Gerade fällt mir noch eines ein, ein Buch: »Dicke Männer«. Einen lebensbejahenden und wilden und ausufernden und vor allem ehrlichen und selbstverständlich dicken Bildband über Männer, die füllig sind, die ein paar Kilo mehr auf die Waage bringen (ich muss das mal verfolgen! Ernsthaft …).

Was hat die Männer/* ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast? Ich fürchte, da ist meine Antwort sehr banal: Männer, in deren Beisein ich mich wohl fühle und sicher. Wo ich über unser Verhältnis nicht groß nachdenke; wo ich nicht auf der Hut bin, wo ich nicht zwischendurch denke »Achtung, Frank, gleich wird es heikel«. Wo ich nicht aufpassen muss. Und wo sich im Gegenzug manchmal wie von selbst etwas entwickelt, eine Idee, ein Projekt, das dann ganz anders werden kann als am Anfang geplant. Und das waren und sind – wenn ich jetzt näher nachdenke – oft Männer, die wie ich freiberuflich unterwegs waren oder es sind. Nur sich selbst verpflichtet, mit freier Zeiteinteilung, eher freischwebend, freigeistig, mit Verbindungen zur Literatur, zur Kunst, oft eher knapp bei Kasse. Schlimm – ich übertreibe jetzt mal wieder ein bisschen – waren und sind oftmals Begegnungen mit Menschen (Männern wie Frauen, wobei die Männer meistens einen Härtegrad mehr hatten) aus öffentlichen, aus staatlichen Institutionen wie etwa Behörden. Ich glaube, Alexander, du kannst ein Lied davon singen, ein unschönes. Sobald es generell hierarchisch wird, man(n) meint Positionen sichern zu müssen, wird es finster, auch im Persönlichen. Und eine gewisse Portion Humor, auch Spott ist nicht verkehrt. Das war jetzt Frage 5.

»Das Problem ist nicht«, lese ich heute morgen nach dem Aufwachen noch im Bett auf Instagram, »dass Männer so viel weniger weinen. Das Problem ist, das sie ihre Gefühle oft nicht wahrnehmen können. Sie wissen gar nicht, wie es ihnen geht – und damit natürlich auch nicht, was sie brauchen oder wie es ihnen besser gehen könnte«, ein Ausschnitt, ein Schnipsel aus einem Interview mit dem Männertherapeuten Björn Süfke, den ihr alle kennt. Ich weiß, so teasert man heute ein Interview an, will man für entsprechende Aufmerksamkeit und also Klicks sorgen, und mir ist das einsame, eingestreute »oft« in der Aussage nicht entgangen. Und trotzdem (oder genau deswegen) bringen mich mittlerweile diese pauschalen Aussagen über die Männer schlicht auf die Palme (Frage 3). Nicht das latente Self-Bashing, das darin auch enthaltene, ist es, sondern das so zuverlässig immer wieder und weiter an der trübsinnigen Geschichte gestrickt wird, die Männer bräuchten lebenslangen Nachhilfeunterricht in so ziemlich allem. Also wir natürlich nicht, wir sind super. Aber die anderen … die haben echt noch was zu lernen …
Ich halte das für falsch. Weil es einen in einen ständigen Besserwisser-Modus setzt, der so fest an einem klebt. Mehr aber noch, weil es nicht stimmt: Denn es hat sich so wahnsinnig viel getan, seit ich meinem Vater beim Schweigen und Verstummen zusah, in dieser grauen Zeit, vor Jahrzehnten. Was heute an Lebensentwürfen möglich ist, wie man sein und wie man sich ausprobieren und verändern kann, das ist doch bewundernswert erstaunlich (eben stoße ich auf Facebook auf einen geposteten Schnappschuss, wo unser Verteidigungsminister vor einer Kaserne die Regenbogenfahne hisst; war das zu ahnen, damals?). Also kann man langsam mal locker werden. Einfach in den Tag schreiten, ohne Angst zu haben. So, wie ich glaube (festhalten!), dass man heutzutage ein solider Vater werden kann, ohne ein einziges Väter-Seminar-Wochenende mit Selbstverpflegung besucht zu haben. Weshalb mich entsprechend immer wieder gewisse Ausschreibungen irritieren und dann ärgern, in denen suggeriert wird: also ohne »Vater-Kurs 1«, dann »Vater-Kurs 2« und dem »Vater-Aufbau-Kurs« wird das alles nichts.
Und wo ich gerade am Meckern bin: Mit dem Pseudo-Mythologischen, das zuweilen durch die Männerszene wabert, bin ich nie warm geworden. »Die Kraft des Männlichen entdecken« – um Himmelswillen! In den Wald gehen, um dort (beispielsweise) meinem Vater wieder zu begegnen, das erschien mir immer sehr ausgedacht. Lieber als in eine Schwitzhütte gehe ich in eine Kunsthalle. Und lieber lese ich querbeet ratlos machende Literatur, gerne von Frauen (wie gesagt) als so einen Schmarrn wie »Eisenhans«, was ich zunächst für eine Parodie hielt, als ich es mal in die Hände bekam und darin blätterte (ich weiß, dass gibt jetzt Ärger, aber der gehört dazu).

Ich kürze mal ab – Frage 14, wo meiner Einschätzung nach die hartnäckigsten Widerstände gegen Jungen-, Männer- und Väterthemen liegen, warum sich zu der eben skizzierten erfreulichen Entwicklung der wachsenden Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen und nahezu gleichzeitig die Kräfte erstarken und sich langsam in der vielbeschworenen Mitte der Gesellschaft festzusetzen scheinen, die sich über die Wiederauferstehung von Mami und Papi freuen und die mit dem ganzen Gender-Kram aufräumen wollen bzw. dieses stumm hinnehmen, so verstehe ich für mich die Frage. Puh – ich bin da ratlos. Und zwar komplett. Ganz ehrlich. Und ich sehe da eine wachsende Gefahr in einer Dimension, die man (ich!) sich gar nicht anschauen will, seien es die Erfolge der AfD in Ostdeutschland, sei es das allmähliche Zurückweichen der bürgerlichen Kräfte, die offenbar die Fehler der Weimarer Jahre wiederholen möchten. Bleibt nur das das Zurückziehen, die Flucht? So wie unser mittlerweile großes Kind von einer brandenburgischen Kleinstadt nicht nur deshalb nach Berlin gezogen ist, weil dort das Kinoangebot besser ist, sondern weil es sich auf dem Weg vom Bahnhof nach Hause nicht mehr ständig umdrehen wollte, von wegen ob da Nazis hinter ihm hermarschieren und im Ernstfall wohl niemand helfen würde. Und neulich war ich auf Recherche in Sachsen, meine Herren! Was macht aber man mit diesen verstockten Kerlen, die – so höre ich immer wieder – sich gerade als Männer abgehängt fühlen, weil sie sich noch so minimalen Veränderungen im Persönlichen wie Allgemeinen verweigern und so den Anschluss verpassen? Und ich bemerke bei mir ein gewisses Frust- und auch Wutpotential, das ich im Auge behalten sollte.

Vorgestern erst, im Regional-Zug hier durch das idyllische Land hinter Hamburg mit seinen Wiesen und Feldern und Knicks, erging es mir so: Drei Reihen vor mir saß so ein Schrank von Mann, muskulös und tätowiert, wenige, dafür strubbelige Haare und – »Rammstein«-T-Shirt. Till Lindemanns stilisiertes Gesicht erstreckte sich über seine Brust und seinen Bauch, die Augen blutunterlaufen. Und ich war kurz davor, aufzustehen, um ihm meine Meinung zu geigen. Ihm einfach seine albernen Kopfhörer vom Kopf zu reißen und ihn anzubrüllen: »NA, DU ARSCH! BLITZKRIEG MIT DEM FLEISCHGEWEHR! KANNSTE HABEN …« Ich war selbst überrascht von der Heftigkeit meines Gefühlsausbruchs, der mich jetzt – wie ich vor der Tastatur sitze – sehr fasziniert (das meine ich mit »Ich bin mehr so der Beobachter, der sich auch selbst gerne zuschaut«). Was war da in mich gefahren, ich weiß doch, dass es solche Typen gibt, die uns guten Männern das Leben schwer machen und schon immer schwer gemacht haben und die einfach nicht aussterben wollen, egal wie viele Kurse und Seminare angeboten werden, von wegen Geschlechtergerechtigkeit, die eingeübt werden muss (aber das wollen die nicht, sie wollen es einfach nicht, es interessiert sie nicht die Bohne). Zum Glück funktionierte meine Impulskontrolle bald wieder, ich hörte sie regelrecht einrasten, wie wenn man sich beim Autofahren kurz verschaltet. »Komm, Frank, in deinem Alter solltest du keine Schlägerei mehr anzetteln«, sagte mein zweites oder drittes Ich also zu mir, und ich blieb sitzen, nahm den anderen Ausgang, als der Zug an der Station hielt, wo ich aussteigen musste. »Rammstein« – was für eine gottverdammte Scheiße! Jedenfalls …

Oh je, die vier Seiten sind längst um. Und also eine Episode zum Schluss, die für mich auf den Punkt bringt, um was es mir geht, was mich antreibt und mich beschäftigt in Sachen Männer (das wäre jetzt Frage 8): Wir waren mal wieder unterwegs zu unserem Lieblingsstrand an der Ostsee. Unterwegs halten wir immer bei einem Bioladen mit Café, decken uns ein, trinken Kaffee. Ich saß da und hinter mir setzten sich zweie an den nächsten Tisch: eine junge Frau, ein älterer Mann, den Stimmen nach; ich drehte mich nicht um (ich bin ja höflich). Seine Stimme kam mir sofort vertraut vor, eine prägnante Stimme, eine Fernsehstimme, und dann wusste ich: das ist Franz Alt! Hinter mir sitzt Franz Alt, wir saßen Rücken an Rücken.
Er redete und redete (er hatte am Abend zuvor hier einen Vortrag über die Klimakrise gehalten, deshalb war er hier, wie ich später beim Rausgehen auf einem Plakat las; er hatte wohl hier übernachtet, das Café hat auch Gästewohnungen). Ohne Unterlass redete er: von seinen Dreharbeiten, welchen Bundespräsidenten er dann doch vor die Kamera bekommen hatte und was alles schiefzugehen drohte und was dann doch geklappt hatte und wie man von Seiten der Chefredaktion ihn immer wieder kaltstellen wollte, was nicht gelungen war, er lasse sich doch nicht den Mund verbieten, er nicht! Anfangs versuchte die junge Frau noch etwas anzumerken, auch eine Frage zu stellen, aber sie ließ es schnell. Sie hörte stumm zu, wie er sein Fernsehleben vor ihr ausbreitete, ohne Pause, ohne Komma, mit immer lauter werdender Stimme, wie ein evangelikaler Prediger. Und über dem Kopf der Frau schwebte in einer Wolke ein Gedanke: »Hoffentlich kommt bald das Taxi!«

Was mich bis heute beschäftigt, ist weniger, dass hier ganz klassisch ein so genannter alter, weißer und bekannter Mann so rücksichtslos eine junge Frau zutextete, dass es zum Fremdschämen war. Sondern weit mehr, welche wunderbare Chance der Franzl verpasste: sich mal von (in diesem Fall) einer jungen Frau erzählen zu lassen, wie sie und ihre Generation gerade die Welt sieht, um die es ja geht. Was ihr Sorgen macht, was ihr Hoffnung gibt, woran sie zweifelt und was vielleicht ihre eigenen Pläne für die nächste Zukunft sind, wenn sie das erzählen mag. Einfach zuhören. Einfach sich zurücklehnen und freundlich neugierig werden. Etwas erfahren, was man noch nicht weiß. Und dafür einfach mal die Klappe halten (Frage 12, nach meinem Lebensmotto). Ich hoffe sehr, dass mir diese Begegnung präsent und bewahrt bleibt; gelingt mir das, ist das schon viel wert – und das ist sozusagen mein Altersprojekt (noch mal Frage 16, richtig?).
 
 
 

 
 
 
 
 
 
:: Frank Keil, geboren 1958 in Hamburg. Hat diese Stadt nie wirklich verlassen. Verheiratet, ein Sohn. Kleingärtner. Überzeugter Freier Journalist, für den Rente keine Option ist. Unterwegs für verschiedene Medien, Mitbetreiber dieser Plattform. Schreibt derzeit an seinem Roman-Projekt »Ich weiß nichts über meine Familie, suche sie aber trotzdem«, für das er im letzten Jahr einen der Hamburger Literaturpreise erhielt (wie gesagt, »Hamburg«, das passt schon).

»Ich habe stets für Differenzierung plädiert und lehne die pauschale Entlarvungsattitüde ab.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Thomas Gesterkamp, Köln

Menschen in einer Bahnhofshalle
Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: PixelClown, photocase.de | Alexander Bentheim

 
Was war dein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen-, Männer- und Väterthemen?
Meine erste Männergruppe hatte ich schon Ende der 1970er Jahre in meiner Heimatstadt Münster, da war ich 19 oder 20 Jahre alt. Unter Freunden haben wir über unsere Beziehungen zu Frauen, über Gefühle, Verunsicherung und sogar über Sexualität geredet, das war damals sehr ungewöhnlich. »Basisliteratur« war ein schmales Bändchen mit lustigen Zeichnungen, »Männergruppen« von Helmut Rödner, der Untertitel lautete: »Versuche einer Veränderung der traditionellen Männerrolle«.

Und dein politischer und fachlicher Zugang?
Der kam viel später. Anfang der 1980er Jahre habe ich mich auf mein Studium der Soziologie, Pädagogik und Publizistik konzentriert. Schon in der Unizeit war ich Mitarbeiter eines lokalen Stadtmagazins, nach dem Examen dort auch zwei Jahre festangestellt als Redakteur. Danach habe ich mich selbständig gemacht als freier Journalist und mit vier Kolleg:innen eine Bürogemeinschaft in Köln gegründet. Schwerpunkte waren wirtschafts- und kulturpolitische Themen, Geschlechterfragen spielten zunächst keine große Rolle. Das änderte sich Anfang der 1990er Jahre durch die Geburt meiner Tochter und das eigene Vatersein, und durch die Kooperation mit Dieter Schnack, mit dem zusammen ich mein erstes Buch »Hauptsache Arbeit – Männer zwischen Beruf und Familie« veröffentlicht habe.

Was waren damals und sind heute deine zentralen Themen?
Indirekt waren die ersten Jahre meiner journalistischen Tätigkeit schon verknüpft mit Gender-Themen. Ich habe viel über die Arbeitswelt berichtet, über Betriebsrats- oder Gewerkschaftskontakte ergab sich die Möglichkeit, zahlreiche Unternehmen von innen zu sehen. Schon früh hat mich dabei die Frage beschäftigt, warum Männer eigentlich so viel und so lange arbeiten, warum ihnen die Rolle des Ernährers so wichtig ist – und welche Folgen das hat für ihre privaten Interessen, für ihr Leben mit Frauen und Kindern.

Wie haben sich deine Tätigkeiten entwickelt und verändert?
Das Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie aus Vätersicht hat mich lange beschäftigt. In meinem zweiten Buch »gutesleben.de«, das nach dem Internet-Hype um die Jahrtausendwende erschien, lote ich aus, welche Chancen digitale Techniken bieten, damit Männer eine weniger eindimensionale, nicht nur auf den Beruf beschränkte Identität entwickeln können. »Die Krise der Kerle« war dann eine leicht popularisierte Version meiner Promotion über »Männliche Arbeits- und Lebensstile in der Informationsgesellschaft«. Hier ging es mir vor allem um die »double loser«, wie sie im Englischen heißen, die doppelten Verlierer: Männer, die erwerbslos sind oder sehr prekär arbeiten – und deshalb auch keine Partnerin finden, weil sie deren Erwartungen nicht erfüllen können.

Was war für dich im Rückblick das nachhaltigste Ereignis im Kontext deiner Arbeit?
Im Kontext der Väterdebatte sicher der ungeheure Schub, den das Elternzeitgesetz ab 2007 ausgelöst hat. Die Quote der männlichen Beteiligung stieg binnen weniger Jahre von 3,5 auf rund 40 Prozent. Es war für die meisten Männer eine ganz neue Erfahrung, plötzlich zeitweise allein für ein Kleinkind verantwortlich zu sein. Und selbst wenn die Mehrheit, was die Frauenpolitik regelmäßig kritisiert, nur zwei Monate pausiert, ist das etwas gänzlich anderes als null Monate. In meinem Buch »Die neuen Väter zwischen Kind und Karriere« beschreibe ich diesen Kulturwandel als »Papawelle«: alle Institutionen, die sich mit Familie und Erziehung beschäftigen, also etwa Krippen, Kitas, Schulen, Gerichte, Arztpraxen oder Bildungsstätten, müssen sich seither mit aktiveren Vätern auseinandersetzen. Erst recht gilt das für die Situation am Arbeitsplatz: Männer kommen durch die Elternzeit vielleicht auf den Geschmack, fordern anschließend mehr Teilzeit- oder Homeoffice-Angebote.

Was ist für dich »Erfolg« in deiner Männerarbeit?
Meine Form der Männerarbeit ist ja eher die Männerpublizistik. Ich hoffe, dass ich mit der schriftlichen wie mündlichen Verbreitung meiner Gedanken einen nicht ganz unwesentlichen Beitrag geleistet habe zu dem, wo emanzipatorische Männerpolitik heute steht.

Was gibt dir persönlich Sinn und Erfüllung in deiner Arbeit?
Wie alle Autoren sehe ich mich gerne gedruckt. Und ich vertrete auch gerne öffentlich meine Meinung, mag es auf der Bühne zu stehen, ob als Moderator, Vortragsredner oder Podiumsgast.

Mit welchen Institutionen und Personen hast du gerne zusammengearbeitet oder tust es noch?
Ich habe über die Männerarbeit zum Beispiel gelernt, die christlichen Kirchen mehr wertzuschätzen. Denn die hatten schon Männergruppen, als es noch gar keine Männerbewegung gab. Diese Gesprächskreise waren vorwiegend spirituell und weniger politisch orientiert, das gilt im Kern bis heute. Ich schätze auch die Arbeit der Parteistiftungen im Gender-Bereich, ein klares Profil hat hier allerdings nur die grüne Heinrich-Böll-Stiftung. Zudem gab und gibt es in vielen Städten regionale Foren von männerpolitischen Akteuren, mit denen ich regelmäßig kooperiert habe, in einigen war ich zeitweise auch aktives Mitglied. Im letzten Jahrzehnt hat sicher das Bundesforum Männer als Dachverband an Bedeutung gewonnen. Nicht zu vergessen selbstverständlich meine langjährige und immer sehr angenehme Zusammenarbeit mit der Zeitschrift »Switchboard« und ihrem Online-Nachfolger »MännerWege«.

Was hat die Männer ausgemacht, mit denen du gerne gearbeitet hast?
Es tut einfach immer wieder gut, Männer zu kennen und zu treffen, die wie ich selbst ein anderes Männlichkeitsbild vertreten und repräsentieren als das herkömmliche.

Hast du eine Lebensphilosophie, ein Motto?
Leute auf keinen Fall ohnmächtig zurücklassen, sie immer auch ermutigen. Das Positive nicht aus dem Blick verlieren, humorvoll und selbstironisch sein.

Wo siehst du Brüche in deiner Arbeit? Wodurch wurden diese verursacht?
Überrascht haben mich die heftigen Reaktionen auf meine Recherche »Geschlechterkampf von rechts«, die ich 2010 für die Friedrich-Ebert-Stiftung erstellt habe. Antifeministische Männerrechtler inszenierten im Internet einen hasserfüllten Shitstorm gegen meine Person. Der Titel der Broschüre führte offensichtlich zu Missverständnissen, weil das Wort »rechts« in Deutschland immer gleich mit »Nazi« assoziiert wird. Klar, es gibt tatsächlich faschistoide Maskulinisten wie den norwegischen Massenmörder Anders Breivik. Aber es war nie meine Absicht, Akteure pauschal in eine bestimmte Ecke zu stellen. Ich habe stets für Differenzierung plädiert, lehne die pauschale Entlarvungsattitüde ab – zu der leider auch das linke Antifa-Milieu neigt.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis von Männerarbeit?
Im leider sehr beharrlichen Fortbestehen des Patriarchats, der hegemonialen Männlichkeit im Sinne von Raewyn Connell. Und in Institutionen, die dies durch blockierende Rahmenbedingungen stützen. Man denke nur an das Ehegattensplitting, das immer noch die Hausfrauenrolle steuerlich subventioniert und damit auch die männliche Emanzipation behindert.

Was treibt dich trotz manchmal widriger Umstände weiter in deiner Arbeit an?
Ich habe schon so etwas wie eine »Mission«. Ich wünsche mir, dass mehr Männer ein facettenreiches »gutes Leben« führen können.

Welches Projekt würdest du gern noch umsetzen, wenn du die Möglichkeit dazu hättest?
Eine größere Veranstaltung über Männer und Krieg. Mich irritiert sehr, wie viele ehemalige Pazifisten die Seite gewechselt haben, plötzlich Waffenlieferungen in Krisengebiete unterstützen oder gar die Wehrpflicht wieder einführen wollen. Die Pflicht zum Soldatentum war schon immer eine besonders brisante Form der geschlechtsspezifischen Diskriminierung. Auf merkwürdige, meist unausgesprochene Weise herrschte aber gesellschaftlich Konsens, den männlichen Kriegsdienst mit der weiblichen Care-Arbeit zu verrechnen. Die neue »Wehrhaftigkeit«, die sich jetzt auch Sozialdemokraten oder Grüne wünschen, hat keineswegs zufällig zuerst der AfD-Rechtsaußen Björn Höcke gefordert. Damit will ich nichts zu tun haben, das ist ein extremer Rückfall in alte Rollenbilder.
 
 
 

 
 
 
 
 
 
:: Thomas Gesterkamp, Jahrgang 1957, lebt mit seiner Frau in Köln und ist Vater einer erwachsenen Tochter. Er ist promovierter Politikwissenschaftler und arbeitet als freier Journalist. Seit drei Jahrzehnten beschäftigt er sich mit geschlechterpolitischen Themen aus männlicher Perspektive. Er schrieb fünf Sachbücher und veröffentlichte hunderte von Beiträgen im Hörfunk, in Zeitungen, Fachzeitschriften und Sammelbänden zu männerpolitischen Fragen. Seine Recherchen hat er auf über 700 öffentlichen Veranstaltungen im deutschsprachigen Raum sowie in zahlreichen europäischen Ländern präsentiert. Ehrenamtlich engagierte er sich beim »Männer-Väter-Forum«, Köln, und beim »Forum Männer in Theorie und Praxis der Geschlechterverhältnisse«, Berlin; zudem war er Mitbegründer des »Väter-Experten-Netz Deutschland«. Weitere Infos sind auf seiner Homepage hinterlegt, und erleben kann man ihn auch im biografischem Podcast-Interview mit Hagen Bottek vom »PROJEKT A4 – Männerberatung in Thüringen«.