Ich, mein Vater auf dem Sofa, Till Lindemanns blutunterlaufene Augen und wie hinter mir mal Franz Alt saß – oder: meine Antworten auf den MännerWege Fragebogen
Text: Frank Keil
Fotos: 7inchpixel, photocase.de | privat
Drei bis vier Seiten Platz für Antworten auf den MännerWegeFragebogen? Oha! Die bräuchte ich allein, um der ersten Frage des persönlich-biografischen Zugangs zum Männerthema einigermaßen nahe zu kommen. Aber gut.
Mir fällt zu dieser Frage sofort mein Vater ein. Er arbeitete zu viel, er trank zu oft zu viel, er wurde ein unglücklicher Mensch, und ich konnte ihm dabei zusehen. Mir schien das keine gute Idee zu sein, wie man sein Leben verbringen sollte, auch wenn ich noch Kind war, dachte ich das. Besonders eindrücklich waren die Sonntagabende. Wenn er am nächsten Morgen wieder in aller Frühe in die Knochenmühle musste, zu den Idioten. Er saß auf dem Sofa (braun war es und aus Leder und man versank tief, wenn man sich setzte) und er schwieg. Und er schwieg und schwieg, zwischendurch griff er zur Weinbrandflasche. Springer Urvater. Er wurde keine 60 Jahre alt. Doch zwischendurch gab es helle Momente, wo wir uns nahekamen. Wo ich ihn sehr mochte. Und so überfiel mich früh eine Art Ahnung und bald mehr als das, dass etwas nicht so sein muss, wie es ist. Dass man nur den anderen Weg finden muss, den Ausweg. Dass dieser Ausweg als Weg und Lebensweg nicht unanstrengend werden würde, auch das war mir früh klar. Aber es gab da irgendwie das tiefe Wissen: Es wird sich lohnen. Und ich sagte mir so für mich: »Mach das mal. Geh‘ ihn … diesen Weg, später, wenn du groß bist, und das rechtzeitig, und lass dich nicht abbringen.«
Ich studierte, endlich großgeworden, Pädagogik; auf Diplom (immer noch Frage 1). Ein völlig nutzloses Fach, wie man mir sagte, als ich an der Uni aufschlug. Mir war das egal, das mit dem Nutzen. Ich war wissbegierig, ich wollte etwas lernen, ich wollte mich erfahren und ausprobieren (genaugenommen hat sich das bis heute nicht groß geändert, Frage 3). Außerdem war ich fast nur unter Frauen, was schlicht angenehm war. Sehr wenig Konkurrenz, sehr wenig Gehabe. Und die wenigen Männer, mit denen ich zu tun hatte, waren wie ich: soft und langhaarig, lesebegierig und durchweg freundlich (gehört teilweise zu Frage 5, oder?).
Neben der Uni ging ich wahnsinnig gerne demonstrieren. Am liebsten Häuser besetzen! Wir waren eine ziemlich wüste Truppe. Schwarze Klamotten, schwarze Motorradhelme. »Gefühl und Härte« war die Parole der hedonistischen Autonomen, denen wir nahestanden (wir sind Anfang der 1980er-Jahre, »Schieß doch, Bulle!« stand auf unseren Lederjacken, das finde ich heute nur noch historisch gesehen witzig). Aber mich interessierte das »Gefühl«. Wie mit Ohnmacht umgehen, mit Verzweiflung, mit Wut und mit Gewalt und mit Hilflosigkeit und wie das alles zusammenhing, so mit unserer Männerrolle. Ich schlug eines Tages vor, eine Männergruppe zu gründen, als Gruppe innerhalb unserer Gruppe. Die Hälfte meiner Gruppe lachte mich aus, die andere Hälfte machte mit (also von den Männern; die Frauen fanden das sowieso gut und fragten immer wieder neugierig nach, was wir da eigentlich machen würden). Jedenfalls: Ich hatte meine erste Männergruppe (ich bin wieder bei Frage 1, ja?).
Diese erste Männergruppe war sehr, sehr kopflastig. Sehr theoretisch ausgerichtet. Wir mühten uns ab, die Konstruktion des Patriachats zu verstehen, wir wollten aber auch persönlich werden, eigentlich. Wir warfen uns Bandwurmsätze an die Köpfe und versuchten dann zu entwirren, wer was wie gemeint hatte. Aber irgendwie machte es auch Spaß. Und wann immer es möglich war, gingen wir am Wochenende ins »Café Tuc Tuc« feiern, ein schwuler Partyladen mit bester Disco-Musik, damals hier in Hamburg in der Oelkersallee (Hausnummer 5). Wir schminkten uns, zogen Fummel an, stock-hetero, wie wir waren. Zum Glück waren die »Tuc Tuc«-Schwulen von der lockeren Fraktion, die ihrerseits wenig Lust hatte auf traditionelle Männlichkeit, nur eben in der schwulen Variante, was es ja nicht besser macht(e). Ich glaube heute, sie fanden uns einfach süß, wie wir da zwischen ihnen herumtanzten wie aufgedrehte Maulwürfe. Und zusammen waren wir so queer, wie heute Queersein sein soll, nur viel, viel entspannter. Man musste sich nicht rechtfertigen damals, sich nicht erklären.
Jedenfalls: Als das Studium zu Ende ging, überlegte ich mir als Diplom-Arbeit das Thema »Männergruppen, Theorie und Praxis«. Mein Professor fiel mir um den Hals, als ich es ihm vorschlug. Endlich mal ein Student, der nicht etwas zu Jean Piaget oder Maria Montessori arbeiten wollte. »Ich habe von Ihrem Thema nicht die geringste Ahnung und kann da gar nicht helfen«, freute er sich. Und wie gut es sei, mal etwas Neues zu lernen. Es wurde eine richtig prima Betreuung; schöne Nachmittage in seinem Büro im vierten Stock, das vollgestellt war mit Büchern und benutztem Teegeschirr, und bald duzten wir uns. »Wie heißt der? Klaus Täwie…?« fragte er, notierte sich den Namen Klaus Theweleit und ließ sich erzählen, was in den »Männerphantasien« so stand und wohin die gedankliche Reise ging. Nachdem ich meine Arbeit abgegeben hatte (ich mixte Claude Leví-Strauss mit Sigmund Freud und Volker E. Pilgrim; ich verknüpfte ethnologische Studien von Malinowski aus der Südsee mit Erfahrungsberichten evangelischer Männer-Gesprächs-Kurse aus dem Münsterland, es wurde eine ziemlich impulsive und assoziative Arbeit, die mich beim Schreiben selbst schwer begeisterte, auch ich hätte mir eine Eins-Plus gegeben), veranstalteten wir zusammen ein Männerseminar, unten im großen Seminarraum des Pädagogischen Instituts, zwei Semester lang. Das war schlicht sehr, sehr cool, und ich fühlte mich sehr, sehr ernst genommen und seitdem bin ich den Männerblick nicht mehr losgeworden. Und einmal auf die Spur gesetzt, machte ich weiter. Bis heute.
Manchmal dachte ich zwischendurch kurz: »Werd‘ doch Männerexperte!«. Ein Professioneller. So einer, den sie beispielsweise anrufen, vom Fernsehen und vom Radio und der dann erklären soll, warum immer noch Männer ihre Frauen schlagen oder warum sie keine Freunde haben und was überhaupt mit den Männern so los ist. Und ich erkläre das dann in kurzen, knappen Sätzen. Aber irgendwie kam es nie dazu.
Wohl, weil ich immer umgekehrt dachte und denke (das ist jetzt im Umfeld der Frage 3): Ich bin nicht gemacht für das Eine. Mich interessieren viel zu viele Sachen gleichzeitig (Geschichte und Literatur und Soziales und schwer verdauliche Bildende Kunst, auch Theater usw.) Und dann wollte ich – schreiben. Sätze aneinanderreihen, Texte bauen. Das, was ich sehe und was ich dazu denke und was ich dazu erfahren und recherchieren kann – bei aller Vor- und Umsicht und immer dem Eingeständnis, ich kann total falsch liegen – am Ende in Artikel, Essays, Reportagen und Geschichten zu überführen. Und ich sagte nach einigen Jahren der Pädagogik ade, kaufte mir einen Computer und einen Stapel Disketten und legte los, und ich wurde freier Journalist (der gelegentlich über Männerthemen schrieb und schreibt, weil sie mir wichtig waren und sind; hin und wieder, aber nie nur). Überhaupt bin ich mehr so der Beobachter, der sich auch selbst gerne zuschaut. Und entsprechend fremdele ich mittlerweile sehr mit jeder Form von Aktivismus. Weil man da, ob der Dringlichkeit des Anliegens und der Überzeugung der eigenen Sache gegenüber, in Gefahr ist, sehr schnell seinen eigenen Blick zu verengen. Man will ja aktiv sein, etwas bewegen, auch weil man recht hat, und da stellt man nicht gerne kritische Fragen, sondern drückt aufs Tempo.
Jedenfalls stieß ich zwischendurch auf diesem Weg auf das Magazin »Switchboard«, abonnierte es, nahm irgendwann Kontakt auf und lernte Alexander kennen und bald schrieb ich für ihn, also für Andreas und ihn, und irgendwie auch für mich.
Mann, was haben wir für schöne Themenschwerpunkte realisiert, immer leicht spielerisch angelegt. »Männer und Fleisch« und »Männer und Handwerk« und »Männer und Obdachlosigkeit« fallen mir ein. Ihr konntet manchmal sogar ein kleines Honorar zahlen, wenn ich das richtig erinnere. Schon damals stellte ich Bücher vor, die für Männer interessant sein könnten (die Rubrik hieß »MittelStücke«, zum Ende des Heftes hin), wobei keinesfalls klassische Männerbücher verhandelt werden mussten (bloß nichts Plakatives!) und sie durchaus von Autorinnen sein konnten (zuweilen verstehen uns die Frauen ja so viel besser), so wie ich heute das »Männerbuch der Woche« führe, nach dem Prinzip von damals (kurz Frage 3).
Und mit Ralf verbindet mich die Arbeit für sein damaliges Väter-Magazin »Paps« (ja, das war kein toller Titel, das klang immer so nach Vätern, denen man helfen muss, sich die Schuhe zuzubinden). Aber – ein gedrucktes Väter-Magazin, das ist heute kaum noch vorstellbar. Und auch für das Magazin der Evangelischen Männerarbeit habe ich zuletzt geschrieben (»Männerforum« hieß es, auch kein Knaller-Titel, das erst monatlich erschien, dann vierteljährig, dann zwei Mal im Jahr, bis es endgültig sang- und klanglos eingestellt wurde; wahrscheinlich erinnert sich niemand mehr daran, man findet es passenderweise auch nicht im Internet). Weshalb ich, als ich vor ein paar Jahren zur Schweizer »Männerzeitung« stieß und bald zur Redaktion gehörte und die Deutsch-Schweiz ein Teil meines Lebens wurde und es weiterhin ist, erneut überzeugt war und wurde, dass man raus muss aus der Männerecke. Dass man es umgekehrt machen muss: spannende Texte und Geschichten schreiben, all sein Herzblut darein ergießen, ohne Zögern, dafür mit Kraft und Risikobereitschaft – die Männer kommen mit ihren Themen schon von selbst um die Ecke und setzen sich dazu, das wird schon. Und wir machten »ERNST«. Sechs Jahre lang, 24 Ausgaben. Derzeit sind wir dabei uns in ein Publikationsteam zu transformieren. Professionell und freundschaftlich verbunden.
Von daher: Was ich gerne noch mal machen würde (Frage 16, ich springe mal), was mich richtig begeistern würde? Weiterschreiben! Unbedingt. Jeden Tag auf meine Weise. Und an meinen Themen dranbleiben, einerseits. Und andererseits immer wieder das Fenster öffnen und schauen, was gerade vorbeigeweht kommt. Verschiedene Buchprojekte wälze ich derzeit immer mal wieder vor mich hin. Gerade fällt mir noch eines ein, ein Buch: »Dicke Männer«. Einen lebensbejahenden und wilden und ausufernden und vor allem ehrlichen und selbstverständlich dicken Bildband über Männer, die füllig sind, die ein paar Kilo mehr auf die Waage bringen (ich muss das mal verfolgen! Ernsthaft …).
Was hat die Männer/* ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast? Ich fürchte, da ist meine Antwort sehr banal: Männer, in deren Beisein ich mich wohl fühle und sicher. Wo ich über unser Verhältnis nicht groß nachdenke; wo ich nicht auf der Hut bin, wo ich nicht zwischendurch denke »Achtung, Frank, gleich wird es heikel«. Wo ich nicht aufpassen muss. Und wo sich im Gegenzug manchmal wie von selbst etwas entwickelt, eine Idee, ein Projekt, das dann ganz anders werden kann als am Anfang geplant. Und das waren und sind – wenn ich jetzt näher nachdenke – oft Männer, die wie ich freiberuflich unterwegs waren oder es sind. Nur sich selbst verpflichtet, mit freier Zeiteinteilung, eher freischwebend, freigeistig, mit Verbindungen zur Literatur, zur Kunst, oft eher knapp bei Kasse. Schlimm – ich übertreibe jetzt mal wieder ein bisschen – waren und sind oftmals Begegnungen mit Menschen (Männern wie Frauen, wobei die Männer meistens einen Härtegrad mehr hatten) aus öffentlichen, aus staatlichen Institutionen wie etwa Behörden. Ich glaube, Alexander, du kannst ein Lied davon singen, ein unschönes. Sobald es generell hierarchisch wird, man(n) meint Positionen sichern zu müssen, wird es finster, auch im Persönlichen. Und eine gewisse Portion Humor, auch Spott ist nicht verkehrt. Das war jetzt Frage 5.
»Das Problem ist nicht«, lese ich heute morgen nach dem Aufwachen noch im Bett auf Instagram, »dass Männer so viel weniger weinen. Das Problem ist, das sie ihre Gefühle oft nicht wahrnehmen können. Sie wissen gar nicht, wie es ihnen geht – und damit natürlich auch nicht, was sie brauchen oder wie es ihnen besser gehen könnte«, ein Ausschnitt, ein Schnipsel aus einem Interview mit dem Männertherapeuten Björn Süfke, den ihr alle kennt. Ich weiß, so teasert man heute ein Interview an, will man für entsprechende Aufmerksamkeit und also Klicks sorgen, und mir ist das einsame, eingestreute »oft« in der Aussage nicht entgangen. Und trotzdem (oder genau deswegen) bringen mich mittlerweile diese pauschalen Aussagen über die Männer schlicht auf die Palme (Frage 3). Nicht das latente Self-Bashing, das darin auch enthaltene, ist es, sondern das so zuverlässig immer wieder und weiter an der trübsinnigen Geschichte gestrickt wird, die Männer bräuchten lebenslangen Nachhilfeunterricht in so ziemlich allem. Also wir natürlich nicht, wir sind super. Aber die anderen … die haben echt noch was zu lernen …
Ich halte das für falsch. Weil es einen in einen ständigen Besserwisser-Modus setzt, der so fest an einem klebt. Mehr aber noch, weil es nicht stimmt: Denn es hat sich so wahnsinnig viel getan, seit ich meinem Vater beim Schweigen und Verstummen zusah, in dieser grauen Zeit, vor Jahrzehnten. Was heute an Lebensentwürfen möglich ist, wie man sein und wie man sich ausprobieren und verändern kann, das ist doch bewundernswert erstaunlich (eben stoße ich auf Facebook auf einen geposteten Schnappschuss, wo unser Verteidigungsminister vor einer Kaserne die Regenbogenfahne hisst; war das zu ahnen, damals?). Also kann man langsam mal locker werden. Einfach in den Tag schreiten, ohne Angst zu haben. So, wie ich glaube (festhalten!), dass man heutzutage ein solider Vater werden kann, ohne ein einziges Väter-Seminar-Wochenende mit Selbstverpflegung besucht zu haben. Weshalb mich entsprechend immer wieder gewisse Ausschreibungen irritieren und dann ärgern, in denen suggeriert wird: also ohne »Vater-Kurs 1«, dann »Vater-Kurs 2« und dem »Vater-Aufbau-Kurs« wird das alles nichts.
Und wo ich gerade am Meckern bin: Mit dem Pseudo-Mythologischen, das zuweilen durch die Männerszene wabert, bin ich nie warm geworden. »Die Kraft des Männlichen entdecken« – um Himmelswillen! In den Wald gehen, um dort (beispielsweise) meinem Vater wieder zu begegnen, das erschien mir immer sehr ausgedacht. Lieber als in eine Schwitzhütte gehe ich in eine Kunsthalle. Und lieber lese ich querbeet ratlos machende Literatur, gerne von Frauen (wie gesagt) als so einen Schmarrn wie »Eisenhans«, was ich zunächst für eine Parodie hielt, als ich es mal in die Hände bekam und darin blätterte (ich weiß, dass gibt jetzt Ärger, aber der gehört dazu).
Ich kürze mal ab – Frage 14, wo meiner Einschätzung nach die hartnäckigsten Widerstände gegen Jungen-, Männer- und Väterthemen liegen, warum sich zu der eben skizzierten erfreulichen Entwicklung der wachsenden Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen und nahezu gleichzeitig die Kräfte erstarken und sich langsam in der vielbeschworenen Mitte der Gesellschaft festzusetzen scheinen, die sich über die Wiederauferstehung von Mami und Papi freuen und die mit dem ganzen Gender-Kram aufräumen wollen bzw. dieses stumm hinnehmen, so verstehe ich für mich die Frage. Puh – ich bin da ratlos. Und zwar komplett. Ganz ehrlich. Und ich sehe da eine wachsende Gefahr in einer Dimension, die man (ich!) sich gar nicht anschauen will, seien es die Erfolge der AfD in Ostdeutschland, sei es das allmähliche Zurückweichen der bürgerlichen Kräfte, die offenbar die Fehler der Weimarer Jahre wiederholen möchten. Bleibt nur das das Zurückziehen, die Flucht? So wie unser mittlerweile großes Kind von einer brandenburgischen Kleinstadt nicht nur deshalb nach Berlin gezogen ist, weil dort das Kinoangebot besser ist, sondern weil es sich auf dem Weg vom Bahnhof nach Hause nicht mehr ständig umdrehen wollte, von wegen ob da Nazis hinter ihm hermarschieren und im Ernstfall wohl niemand helfen würde. Und neulich war ich auf Recherche in Sachsen, meine Herren! Was macht aber man mit diesen verstockten Kerlen, die – so höre ich immer wieder – sich gerade als Männer abgehängt fühlen, weil sie sich noch so minimalen Veränderungen im Persönlichen wie Allgemeinen verweigern und so den Anschluss verpassen? Und ich bemerke bei mir ein gewisses Frust- und auch Wutpotential, das ich im Auge behalten sollte.
Vorgestern erst, im Regional-Zug hier durch das idyllische Land hinter Hamburg mit seinen Wiesen und Feldern und Knicks, erging es mir so: Drei Reihen vor mir saß so ein Schrank von Mann, muskulös und tätowiert, wenige, dafür strubbelige Haare und – »Rammstein«-T-Shirt. Till Lindemanns stilisiertes Gesicht erstreckte sich über seine Brust und seinen Bauch, die Augen blutunterlaufen. Und ich war kurz davor, aufzustehen, um ihm meine Meinung zu geigen. Ihm einfach seine albernen Kopfhörer vom Kopf zu reißen und ihn anzubrüllen: »NA, DU ARSCH! BLITZKRIEG MIT DEM FLEISCHGEWEHR! KANNSTE HABEN …« Ich war selbst überrascht von der Heftigkeit meines Gefühlsausbruchs, der mich jetzt – wie ich vor der Tastatur sitze – sehr fasziniert (das meine ich mit »Ich bin mehr so der Beobachter, der sich auch selbst gerne zuschaut«). Was war da in mich gefahren, ich weiß doch, dass es solche Typen gibt, die uns guten Männern das Leben schwer machen und schon immer schwer gemacht haben und die einfach nicht aussterben wollen, egal wie viele Kurse und Seminare angeboten werden, von wegen Geschlechtergerechtigkeit, die eingeübt werden muss (aber das wollen die nicht, sie wollen es einfach nicht, es interessiert sie nicht die Bohne). Zum Glück funktionierte meine Impulskontrolle bald wieder, ich hörte sie regelrecht einrasten, wie wenn man sich beim Autofahren kurz verschaltet. »Komm, Frank, in deinem Alter solltest du keine Schlägerei mehr anzetteln«, sagte mein zweites oder drittes Ich also zu mir, und ich blieb sitzen, nahm den anderen Ausgang, als der Zug an der Station hielt, wo ich aussteigen musste. »Rammstein« – was für eine gottverdammte Scheiße! Jedenfalls …
Oh je, die vier Seiten sind längst um. Und also eine Episode zum Schluss, die für mich auf den Punkt bringt, um was es mir geht, was mich antreibt und mich beschäftigt in Sachen Männer (das wäre jetzt Frage 8): Wir waren mal wieder unterwegs zu unserem Lieblingsstrand an der Ostsee. Unterwegs halten wir immer bei einem Bioladen mit Café, decken uns ein, trinken Kaffee. Ich saß da und hinter mir setzten sich zweie an den nächsten Tisch: eine junge Frau, ein älterer Mann, den Stimmen nach; ich drehte mich nicht um (ich bin ja höflich). Seine Stimme kam mir sofort vertraut vor, eine prägnante Stimme, eine Fernsehstimme, und dann wusste ich: das ist Franz Alt! Hinter mir sitzt Franz Alt, wir saßen Rücken an Rücken.
Er redete und redete (er hatte am Abend zuvor hier einen Vortrag über die Klimakrise gehalten, deshalb war er hier, wie ich später beim Rausgehen auf einem Plakat las; er hatte wohl hier übernachtet, das Café hat auch Gästewohnungen). Ohne Unterlass redete er: von seinen Dreharbeiten, welchen Bundespräsidenten er dann doch vor die Kamera bekommen hatte und was alles schiefzugehen drohte und was dann doch geklappt hatte und wie man von Seiten der Chefredaktion ihn immer wieder kaltstellen wollte, was nicht gelungen war, er lasse sich doch nicht den Mund verbieten, er nicht! Anfangs versuchte die junge Frau noch etwas anzumerken, auch eine Frage zu stellen, aber sie ließ es schnell. Sie hörte stumm zu, wie er sein Fernsehleben vor ihr ausbreitete, ohne Pause, ohne Komma, mit immer lauter werdender Stimme, wie ein evangelikaler Prediger. Und über dem Kopf der Frau schwebte in einer Wolke ein Gedanke: »Hoffentlich kommt bald das Taxi!«
Was mich bis heute beschäftigt, ist weniger, dass hier ganz klassisch ein so genannter alter, weißer und bekannter Mann so rücksichtslos eine junge Frau zutextete, dass es zum Fremdschämen war. Sondern weit mehr, welche wunderbare Chance der Franzl verpasste: sich mal von (in diesem Fall) einer jungen Frau erzählen zu lassen, wie sie und ihre Generation gerade die Welt sieht, um die es ja geht. Was ihr Sorgen macht, was ihr Hoffnung gibt, woran sie zweifelt und was vielleicht ihre eigenen Pläne für die nächste Zukunft sind, wenn sie das erzählen mag. Einfach zuhören. Einfach sich zurücklehnen und freundlich neugierig werden. Etwas erfahren, was man noch nicht weiß. Und dafür einfach mal die Klappe halten (Frage 12, nach meinem Lebensmotto). Ich hoffe sehr, dass mir diese Begegnung präsent und bewahrt bleibt; gelingt mir das, ist das schon viel wert – und das ist sozusagen mein Altersprojekt (noch mal Frage 16, richtig?).
:: Frank Keil, geboren 1958 in Hamburg. Hat diese Stadt nie wirklich verlassen. Verheiratet, ein Sohn. Kleingärtner. Überzeugter Freier Journalist, für den Rente keine Option ist. Unterwegs für verschiedene Medien, Mitbetreiber dieser Plattform. Schreibt derzeit an seinem Roman-Projekt »Ich weiß nichts über meine Familie, suche sie aber trotzdem«, für das er im letzten Jahr einen der Hamburger Literaturpreise erhielt (wie gesagt, »Hamburg«, das passt schon).