Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Alexander Bentheim, Hamburg
Interview: Ralf Ruhl
Fotos: Alexander Bentheim | Ina Graf
Was war dein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen-, Männer- und Väterthemen? Was dein politischer und fachlicher Zugang?
Mein persönlicher Zugang war tatsächlich einer, der Trauer, Ohnmacht und Wut zugleich auslöste: eine enge Schulfreundin sprach eines Tages davon, dass sie als Jugendliche vergewaltigt wurde; ich kann mich noch an die kurzzeitige Blutleere in meinem Kopf erinnern. Ich studierte zu diesem Zeitpunkt und versuchte, Antworten auf meine aufgewühlten Emotionen zu finden. In der Uni-Bibliothek fand ich zum Thema – 1985, deutschsprachig – einige resolute Frauenbücher und zwei viktimologische Untersuchungen, das war alles. Ich wollte aber mehr wissen, gerade auch von Männern, die mit Gewalt nicht einverstanden sind. Weil die meisten Aussagen der Frauenliteratur zu »destruktiven Männern im Allgemeinen« und die Befunde der Kriminalitätsforschung zum »pathologischen Mann im Besonderen« unbefriedigend blieben, weder Generalisierung noch Individualisierung also weiterführten, war damit ein politisch-thematischer Zugang gelegt. In meiner Diplomarbeit beschäftigte ich mich dann für lange Zeit damit, warum Männer (sexualisiert) gewalttätig werden und welche gesellschaftlichen und traditionellen Strukturen dies begünstigen. Als zukünftiger Sozialpädagoge und Erwachsenenbildner wollte ich dann aber auch wissen, was interventiv, aber vor allem präventiv gegen Gewalt von Männern unternommen werden kann. Und was sich für Jungen sozialisatorisch ändern müsste, damit sie als Männer nicht gewalttätig werden.
Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen der Jungen-, Männer- und Väterarbeit? Wie haben sich deine Tätigkeiten hier entwickelt, ggf. verändert?
Meine Themen waren und blieben die Gewaltkontexte, damals Jungen und Männer als Ausübende, heute steht die eigene Gewaltbetroffenheit von Männern eher im Fokus. Beides hängt zusammen, nicht zwingend kausal, aber immer geht es um Fragen der Sozialisation, um Aneignungs- und Bewältigungsstrategien, um Selbstachtung und Selbstwirksamkeit, aber auch um (Rollen)Erwartungen, Hoffnungen, Kommunikation, Respekt, alles zentrale Lebensthemen. Neben der Gewaltfrage hat mich aber immer auch die Berufsorientierung interessiert, insbesondere, was es jenseits der traditionellen Männerberufe zu entdecken gibt und ob z.B. Pflege, Sorge, Kümmern nicht auch männlich aspektiert werden können. Das Thema erschloss sich mir als Pendant zur Gewalt, weil es um Entwicklung, Selbstverwirklichung, Empathie geht. Folgerichtig waren für mich daher auch die Projekte »Boys Day« und »Soziale Jungs Hamburg«, für die ich mich lange engagiert habe.
Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Da gibt es einige. Beispielhaft hervorheben möchte ich die Kampagne »Mehr Respekt vor Kindern« des Bundesfamilienministeriums im Jahr 2000 und unseren öffentlichen Protest dagegen. Flankierend zum »Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung« (§ 1631 BGB) gab es eine bundesweite Plakat-Kampagne mit den Motiven von zwei Mädchen und einem Jungen. In einem Offenen Brief haben wir damals kritisiert, dass der abgebildete Junge nicht nur als Opfer dargestellt wurde, sondern bereits als potentieller Täter. Angesichts der damals schon breit geteilten Erfahrungen über die Folgen von Gewalt an Kindern war das unglaublich danebengegriffen und maximal fahrlässig. Das hat mich über Monate aufgeregt und verärgert! Mir sagte das: die Kampagnenverantwortlichen im Ministerium sind schlicht nicht auf der erwarteten fachlichen Höhe. Unserem Offenen Brief schlossen sich knapp 400 Frauen und Männer an, und erfreulich dabei: auch Kolleginnen aus Opferberatungsstellen und Frauenhäusern beteiligten sich. Angesichts vieler Konflikte in den Jahren zuvor zwischen Männern und Frauen im Themenfeld »Geschlecht und Gewalt« eine sehr angenehme Erfahrung. Die damalige Ministerin Christine Bergmann verteidigte die Aktion und stellte sie, wie das so üblich ist, als Erfolg dar. Renate Augstein, damals Leiterin des Grundsatzreferates Frauenpolitik im BMFSFJ, die ich vom gemeinsamen Forschungsprojekt der Opferhilfe e.V. und Männer gegen Männer-Gewalt Hamburg kannte, räumte in einem persönlichen Gespräch später ein, dass die Vergabe an die Werbefirma und insbesondere die Feedbackschleifen bis zur endgültigen Freigabe des Druckauftrags nicht ganz glücklich verlaufen seien.
Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deiner Arbeit?
Die jährlichen bundesweiten Männertreffen, an denen ich mit wenigen Ausnahmen seit 1986 teilnehme. Das ist immer so ein Mix aus Begegnung, Freizeit, Arbeit, Wohlgefühl, Experiment, Inspiration, Verbundenheit, Kurzurlaub. Da treffe ich Männer wieder, die ich über das Jahr nicht sehe, einfach weil sie zu weit weg wohnen. Schön daran: wir kommen alle mal raus aus unseren Alltagsblasen und erzählen uns, wie es uns über das Jahr ergangen ist. Und weil viele viel voneinander wissen, können wir uns gut tragen und halten, manchmal auch aushalten.
Drei Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit ausmachen?
Neugier, Zuverlässigkeit, Kontinuität.
Was ist für dich »Erfolg« in deiner Jungen-, Männer- oder Väterarbeit? Hast du Beispiele?
Erfolg in meiner Arbeit ist ja relativ und temporär. Wenn eine Entwicklung bei einem Klienten oder in einer Gruppe spürbar wird, im Sinne von Bewegung, gedanklich, emotional, dann würde ich von Erfolg sprechen. Wenn daraus noch Entscheidungen, Handlungen, gar neue Wege entstehen, umso besser. Und wenn meine Arbeit daran einen Anteil hat, durch einen Impuls, eine Begleitung, eine Ermutigung, auch mal eine Konfrontation, freut es mich. Feedback nach Jahren freut mich besonders, wenn da jemand auf mich zukommt und sagt: »Die Gespräche haben mir damals gutgetan, und das hat auch mit dir zu tun«.
Was gibt dir Sinn und Erfüllung in der Arbeit?
Wenn ich spüre, dass gegenseitiger Respekt gelebt wird und keine Worthülse bleibt, z.B. in laufenden Projekten. Da darf auch mal etwas langsamer als schneller vorangehen, Hauptsache, alle Beteiligten sind an Bord und die Schwarmintelligenz kommt zum Zuge. Lieber gründlich als überhastet – ich finde, dass wir uns für die wichtigen Dinge die Zeit zurückholen sollten, die etwas braucht, um zu gelingen, Entschleunigung als Grundrecht – Hetze im Alltag gibt es ohnehin genug. Wenn jemand mit Zeitdruck agiert, werde ich mittlerweile oft sehr gelassen und schaue erst mal, worum es überhaupt geht. Ich hinterfrage gerne behauptete Selbstverständlichkeiten und schaue, ob sie gerade für mich passen. Und ich liebe Kontinuitäten, auch so ein Dimension von Zeit. Wenn ich Kollegen von vor Jahren wiedertreffe und das Gefühl da ist, wir könnten gleich wieder da anknüpfen, wo wir neulich aufgehört haben – das ist der Hit!
Was ist dir (mit) gelungen, worauf bist du (zusammen mit anderen) stolz?
Dass ich an der ersten offiziellen Bestandsaufnahme zur Beziehungsgewaltarbeit in Deutschland beteiligt war. Dass wir fast 25 Jahre »Switchboard« gestaltet und herausgegeben haben, angefangen bei der geklammerten Lose-Blatt-Sammlung bis hin zum grafisch gestalteten Heft. Dass ich die »Sozialen Jungs Hamburg« fortgeführt habe, obwohl nach sechs Jahren das Budget halbiert wurde. Und dass ich mich mit meinen Sichten auf Jungen- und Männerarbeit oft verstanden fühle.
Mit welchen Institutionen und Personen hast du gerne zusammengearbeitet oder tust es noch?
Personen gibt es viele, Frauen wie Männer. Sicher sind dies die nahen Kollegen, mit denen mich eine lange berufliche, teils auch persönlich intensive Zusammenarbeit und Freundschaft verbindet. Es sind aber gar nicht so sehr Institutionen, sondern vielmehr Orte, an denen Begegnungen stattgefunden haben, die mir etwas bedeuten und die ich nicht missen will. Auch wenn es sie so nicht mehr gibt, wie z.B. die HVHS »Alte Molkerei« Frille. Dort bin ich mit der Jungenarbeit Mitte/Ende der 1980er Jahre beruflich großgeworden, hab gestritten, gelernt und sie ein Stück weit auch mitgestaltet. Und dann waren und sind – noch einmal – die kleinen und großen Männertreffen wichtige wechselnde Orte, für den persönlichen, aber auch fachlichen Austausch.
Was hat die Männer ausgemacht, mit denen du am liebsten zusammengearbeitet hast?
Im Wesentlichen waren und sind das die, die mir gedanklich, seelisch oder auch ganz pragmatisch in der Arbeit ähnlich sind, das macht vieles leichter, wenn die Zeiten und Themen gerade nicht so einfach sind. Aber ich fühle mich auch beschenkt, wenn Kritisches echt und zielführend rüberkommt. Das inspiriert und bereichert mich.
Hast du eine Lebensphilosophie?
Neugierig bleiben für das, was noch kommt.
Wo siehst du Brüche in deiner Arbeit? Wodurch wurden die verursacht?
Brüche als zeitliche und damit auch inhaltliche Unterbrechungen gab es immer dort, wo Vorhaben in der Jungen-, Männer- und Väterarbeit nur projektiert und befristet waren, und eben nicht oder kaum institutionalisiert und also auf Dauer gefördert wurden – obwohl sie von allen Seiten stets als wichtige Vorhaben eingestuft wurden. Das habe ich oft erlebt, auch bei Kollegen. Wie kann da langfristig etwas Nachhaltiges entstehen, wenn nach wenigen Jahren alles wieder auf null gestellt wird? Wenn die Kollegen abwandern (müssen), um ihren Lebensunterhalt zu verdienen und damit Expertise verloren geht? Politik und Verwaltung möchten sich oft gern profilieren, aber nicht verbindlich werden, das ist ein systemisches Problem. Würde Jungen-, Männer- und Väterarbeit so ernst genommen werden wie viele gesellschaftliche Akteur*innen sich hier ein echtes geschlechterdemokratisches Engagement wünschen, sähe es vermutlich anders aus. Nachhaltigkeit gibt es aber nicht zum Spartarif.
Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis von Jungen-, Männer- und Väterarbeit?
In misstrauischen Politiken und schwerfälligen Verwaltungen gegenüber allem, was deren selbst geschaffene Sicherheiten bedroht. Aber natürlich auch bei Männern und Frauen, Vätern und Müttern selbst: Ängste, Klischees, Scham, Gleichgültigkeit.
Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deiner Arbeit an?
Wenn Ärger und Frust am Ende doch noch in Kreativität und Hartnäckigkeit verwandelt werden können. Seit ich erfahren habe, dass Jungen-, Männer- und Väterarbeit alternativlos ist, will ich nicht mehr dahinter zurück.
Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest? Und was möchtest du gegen Ende deines beruflichen Lebens erreicht haben?
Ich würde gern ein Archiv der Männerbewegung und Männerarbeit mitgestalten, Materialien und Dokumente dazu habe nicht nur ich reichlich. Es braucht aber Leute, die so etwas finanzieren, und weitere Leute, die das Archivieren richtig gelernt haben, damit es auch nutzbar gemacht werden kann für Interessierte, vielleicht auch für die nächste Generation. Ich kann da nur beratend und etwas einordnend gedankliche Fäden zusammenführen.
Eine nicht gestellte Frage, die du aber dennoch gerne beantworten möchtest?
Tatsächlich die Frage nach dem Reichtum, den es an männlichen Ausdrucksformen jenseits der üblichen Sprache noch oder immer wieder zu entdecken gibt, etwa in Tanz und Bewegung, Bildern und Filmen, auch Musik, Handwerk, Naturerleben und in der Kochkunst. In meinem Fall ist das die Fotografie, sie verschafft mir die Möglichkeit, Widersprüche, Botschaften und Stimmungen auszudrücken, wofür es nicht zwingend der gesprochenen Worte bedarf. Ich ziehe dafür alleine oder mit Freunden und der Kamera los. Die Fotografie setze ich auch in Portrait-Workshops mit Männern ein, mit wirklich schönen Ergebnissen zur Selbstfindung der Teilnehmer. Ich denke, dass diese »Sprachen« männerkulturelles Leben sehr bereichern und unendlich wichtige Beiträge zum gegenseitigen Wahrnehmen und Verstehen leisten können.
:: Alexander Bentheim, Jg. 1959, ist Dipl.-Pädagoge und ist seit 1986 in einem Mix aus Anstellung und Freiberuflichkeit als pädagogischer und wissenschaftlicher Mitarbeiter, Fortbildner, Lehrbeauftragter und Projektentwickler in der Männer-, Väter- und Jungenarbeit aktiv. Er war beteiligt an Forschungs- und Modellprojekten auf Bundes- und Länderebene zu den Themen Jungen/Männer und Gewalt (Täter, Opfer). Er arbeitete über 20 Jahre als Autor, (technischer) Redakteur, Mitherausgeber und Verleger von »Switchboard. Zeitschrift für Männer und Jungenarbeit«, gründete den Verlag, später auch die Agentur »MännerWege« mit und war in diesem Rahmen zusammen mit seinem langjährigen Kollegen Andreas Haase u.a. verantwortlich für den Aufbau des Väterportals NRW. Mit der Agentur war er auch Gründungsmitglied des »Bundesforum Männer« und dort in der »Fachgruppe Jungen und junge Männer« aktiv. Er war Beiratsmitglied im bundesweiten BMFSFJ-Projekt »Neue Wege für Jungs« während dessen Pilotphase, organisierte über viele Jahre ein »Praxistreffen Jungenarbeit« für Kolleg*innen der Offenen Arbeit in Hamburg, koordinierte 17 Jahre lang den Hamburger Boys Day (»Was für Jungs!«) und leitete 13 Jahre das berufsorientierende Förderprojekt »Soziale Jungs Hamburg«. Seit 2020 ist er im Beratungsteam NRW des Männerhilfetelefon, engagiert sich darüber hinaus zusammen mit Frank Keil für das online-Portal »MännerWege« und arbeitet in eigener Praxis als Berater, Coach und Supervisor. Er lebt in Hamburg und ist nebenbei auch gern als Fotograf und Kleingärtner unterwegs. Über seine fotografische Arbeit kann man mehr erfahren auf den Portalen photocase, times-magazine und Instagram.