Endlich unendlich!?
Text und Foto: Bernhard Stier
Schwerpunkt »Endlichkeiten«
Etwas wackelig stieg er aus, zog den Gürtel seines Regenmantels nochmals fester und schaute in die Dunkelheit. Albrecht Jedermann war angekommen. Endlich. Es war ihm so unendlich lang vorgekommen. Das Ende einer langen Reise. Der Regen hatte aufgehört und einem klaren Nachthimmel Platz gemacht. Über Jedermann breitete sich das unendliche Universum aus.
Jedermann war ergriffen. Wo fing es an, wo hörte es auf? Er war ergriffen und doch verängstigt zugleich – unfassbar! Im Laufe seines Lebens hatte er einige Erfahrungen mit Gefühlen der Unendlichkeit gemacht – unendliche Weiten der Wüste, schier unendlich anmutende Weiten der Steppen, der Urwälder, der sich in tausenderlei mäandernden Flüssen erstreckenden Deltas von Flusslandschaften. Immer war er ergriffen von der Großartigkeit, doch gleichzeitig in seiner demgegenüber verlorenen Winzigkeit betroffen und verängstigt. Wie wenn man sich mit geschlossenen Augen in einem großen Raum befindet und nirgendwo eine Grenze – eine Endlichkeit – erspüren und ertasten kann. Er ließ sich kurz auf das »Was wäre, wenn …« einer solchen Situation ein. Das Gefühl der Unendlichkeit vermittelt offenbar eher eine Art von Hilflosigkeit und führt einem die Unbedeutsamkeit des eigenen Ichs vor Augen. Dieser Gedanke kam ihm als erstes.
Und dann war da noch die »unendliche« Liebe. Wie vieles Andere im Laufe seines Lebens, hatte auch diese »Unendlichkeit« sich als Endlichkeit erwiesen.
Doch wie steht es dann um die Endlichkeit? Vermag sie das Gefühl zu vermitteln, geborgen und umfangen zu sein, mit sicheren abschreitbaren Leitlinien, wissend das – egal was kommen mag – zumindest die Sicherheit der Endlichkeit des eigenen Selbst besteht? Die Möglichkeit seinen Raum, wie auch immer, zu füllen – und doch sich nicht in der Unendlichkeit verlieren zu können. Ist es nicht so – wie auch jetzt – auf eine lange Reise zurückblicken zu können und gleichzeitig zu wissen, dass es weitergeht – aber eben nicht unendlich. Wäre Unendlichkeit, würden Fragen nach dem »Was kommt morgen« / »Was kommt übermorgen…« völlig an Bedeutung einbüßen bzw. sich in unendlichen Schleifen verlieren. Er musste unwillkürlich schmunzeln bei dem Gedanken, unendlich durch Raum und Zeit fortzuschreiten – auch mit der ewigen Möglichkeit »Was nicht heute kommt, kommt morgen oder in …«?
Nein, dann doch lieber Endlichkeit spüren, dabei aber in einem quasi endlichem Raum Gestaltungsmöglichkeiten zu bekommen. Wie auch jetzt, wo er angekommen war, spürte er, dass die voranschreitende Zeit nicht etwas Unbarmherziges, sondern vielmehr etwas Erlösendes haben kann. Heißt es nicht »Alles hat seine Zeit«? Dafür will sie zwar unterschiedlich gefüllt sein, aber sie steht einem auch für Unterschiedliches zu Verfügung. Die Endlichkeit begrenzt die Gefahr, sich zu verlieren in endlosen Ausschweifungen. Ist es nicht ein »sozusagen: kommen wir zur Sache»?.
Er schaute zum inzwischen unendlich weiten Sternenhimmel. Es hat doch etwas sehr Beruhigendes, sich angesichts dieser Unendlichkeit klein und unbedeutend zu empfinden. Nimmt den Druck der Wichtigkeit, lässt zwar leider die guten Momente des Lebens, aber auch die unguten zu Momentaufnahmen verkümmern. Nur die Endlichkeit vermag es offensichtlich, dem Ganzen eine persönliche Färbung zu geben. Sie gibt einem selbst als Individuum wieder eine, wenn auch eben nur begrenzte, Bedeutung zurück. Werden wir nicht schon mit diesem Wissen geboren? Selbst wenn die Sehnsucht in manchen Momenten besteht, es möge nie aufhören, so ist doch immer das Bewusstsein auf Endlichkeit gerichtet. Alles hört wieder auf und macht neuem Platz. Immer wieder gab es schier »unendliche« Momente der Glückseligkeit und der Trauer, mit eben dann doch einem Ende und Abschied, gefolgt von einem »fortan«. Eben nicht das »immer weiter so«, sondern »irgendwann kommt alles zum Ende«. Und während er die ersten Schritte tat hinein in die Dunkelheit, sah er schon das Licht. Und wenn es so wäre, dass man herunterschaut aus der Unendlichkeit? Herunter schaut auf das, was dort geschieht, in der Welt der Endlichkeit?
Er erinnerte sich an Khalil Gibran’s »Die Menschheit ist ein Fluss des Lichtes, der aus der Endlichkeit zur Unendlichkeit fließt.«