Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Christian Sieling, Dietzenbach b. Frankfurt/M.
Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: Nena2112, photocase.de | Alexander Bentheim
Was war oder ist dein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen-, Männer- und Väterthemen? Was dein politisch-thematischer Zugang?
Über den Zivildienst und persönliche Beziehungen wurde ich zunächst Krankenpfleger und arbeitete in diesem Feld 17 Jahre. Schon in der Ausbildung ca. 1988 initiierte ich eine regionale Krankenpflegeschüler*innen-Selbstorganisation und darin eine Gruppe »Männer in der Krankenpflege“ (dazu gibt es sogar noch ein damals getipptes kurzes Papier mit geschlechtsbezogenen Reflexionen).
Politisch bin ich v.a. seit meiner Darmstädter Zeit ab 1987 in der außerparlamentarischen Linken aktiv, temporär auch in der damaligen »Sonntagsgruppe Darmstadt« mit einer seit 1993 arbeitenden Männerteilgruppe dieser ca. 15-köpfigen politischen Aktivgruppe. Mit drei Männern dieser Gruppe nahm ich 1993 erstmals am Bundesweiten Männertreffen im nahen Bessunger Forst teil, was mich von den Ideen und Erfahrungen her bis heute begleitet.
Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen, Männern und Vätern? Wie hat sich dein Engagement entwickelt, ggf. verändert?
1993 begann ich auch in der wohl ziemlich einmaligen Männerkreistanzgruppe der VHS Darmstadt mitzutanzen, bis heute, jetzt mit Dreierteam aus Teilnehmern, die das Erbe unseres 2021 verstorbenen Tanzlehrers Philipp Mitterle weiterführen. Außerdem begann ich 1993 an der Uni Frankfurt Pädagogik auf Diplom zu studieren, faktisch aber gleich Gender Studies, v.a. im Fachbereich Soziologie. 1995 begann ich dann auch ein über Jahre zusammengewürfeltes Halbjahrespraktikum mit geschlechtsbezogener Arbeit für verschiedene regionale Jugendbildungswerke, meist in geschlechterreflektierten Schulprojekten. Während eines Unistreikes bildeten wir eine 7-köpfige AG »autonomes Tutorium kritische Männerforschung«; persönlich halten wir den Kontakt bis heute. Mein Diplom 1999 war dann eine (nicht veröffentlichte) kritische Auseinandersetzung mit den sexualpädagogischen Diskursen der Jungenarbeit, die ich im Rückgriff auf die Theorien von Michel Foucault kritisch betrachtete.
Gibt es für dich ein nachhaltiges gesellschaftliches/historisches Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Nein. Oder viele, je nachdem. Für mich wichtig ist meine mit jeweiligen Ereignissen verwobene persönlich-politische Entwicklung, das ist in Kürze nicht beschreibbar.
Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deinen privaten oder beruflichen Beziehungen?
Seit August 2000 bin ich Vater, erst von einem Sohn, ab 2009 auch von einer Tochter. Anders als ich es bei meinem Vater als selbstständigem Dachdecker und Vater ab 1963 erlebt habe (ich erinnere z.B. Vater, Onkel und andere erwachsene Männer in den 60ern nur weit vorlaufend vor uns Kindern mit den Müttern), wollte ich dagegen immer auch nah und selbstverständlich begleitend im Alltag bei meinen Kindern sein. Daher habe ich meinen Beruf auf halbtags beschränkt und hatte bis zur Pubertät auch sehr viel gemeinsame Zeit mit meinen Kindern.
Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und/oder Beziehungen zu anderen ausmachen?
Eigenschaften zu benennen finde ich generell nicht offen genug, als kontaktfreudig könnte ich mich aber immer bezeichnen.
Hast du eine Lebensphilosophie, ggf. ein Lebensmotto?
Mein grundlegendes Lebensmotto verdanke ich wohl meiner sehr katholischen Mutter: »Liebe Deinen Nächsten!«. Dazu möchte ich meine Mitmenschen in Begegnungen kennen und verstehen lernen und da sein, wenn ich gebraucht werde und etwas beitragen kann. Lange musste ich aus politischen Reflexionen heraus Abstand zur (Herrschaftsinstitution) Kirche nehmen, seit einigen Jahren fühle ich mich meinem in der Kindheit gewachsenen Glauben wieder sehr verbunden, auch wieder bei Besuchen in Kirchen und Klöstern – da gab es übrigens die ersten vorsichtigen Wiederannäherungen bei den morgendlichen Workshops »Taizé-Lieder singen« im Rahmen der Bundesweiten Männertreffen.
Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deiner Arbeit an?
Eine grundlegende Motivation liegt wohl in meinem Mut zur Selbstheilung, auch wenn mich als Dachdeckersohn z.B. extreme Höhenangst begleitet. In Kindheit und Jugend habe ich manche Ohnmachtserlebnisse mit bzw. durch andere Jungs durchleben müssen, als Kind auch in Krankenhäusern, damals gab es nur sehr eingeschränkte, nicht mal tägliche Besuchszeiten. In der abgesicherten beruflichen Rolle brauche ich eigentlich nicht übermäßig viel Mut, wie es Außenstehende hinsichtlich meiner Zielgruppen manchmal vermuten, aber schon ein zuversichtliches, selbstbewusstes, angstfreies und offenes Zugehen auf Menschen und ein klares Angebot zur (Arbeits)Beziehung. Wenn dann erfolgreich wertschätzende Resonanz kommt, hat das letztlich auch viel geheilt (und da habe ich übrigens auch einige Kollegen in der Jungenarbeit mit ähnlichen Erfahrungen in ihrer Jugendzeit kennen gelernt).
Und schließlich ganz zentral ist, vermutlich auf christlichen Fundament, mein Sehnen nach einer gerechteren Welt, auch für zukünftiges Leben, und auch aus dem Schmerz heraus beim Betrachten jetziger und geschichtlicher Ungerechtigkeiten und Zerstörungen. Als entscheidende Entwicklungsschritte sehe ich dabei das radikale, selbstreflexive Öffnen und Engagieren für lebbare Vielfalt – auch eben in politisch, fachlichen Diskursen, weg von den damals jugendlichen Kämpfen für das vermeintlich klar identifizierte »Gute« (was in den 90er Jahren der westdeutschen Linken für mich im Nachhinein erschreckend viel ideologische Begrenztheit, auch männlich-patriarchale bedeutet).
Was ist für dich »Erfolg« in deiner Auseinandersetzung mit Jungen-, Männer- und Väterthemen? Hast du Beispiele?
Meine Jugendbildungsarbeit, die sich auf Beziehungsarbeit stützt, wirkt m.E. wegen punktueller und zeitlich befristeter Impulse und Projekte über dann nachhaltig in Erinnerung bleibende Lernerlebnisse an außerschulischen Lernorten. Das sind z.B. das »Blindenmuseum«, besondere Ausstellungen, Reisen … die selbst explizit Geschlechterthemen als Impulse anbieten können, aber nicht müssen, auf jeden Fall in der Gruppe aber geschlechtsbezogen reflektiert werden. Daneben wirkt das Sich-umeinander-kümmern in der Gruppe und mein Part der Fürsorge für das Rahmenprogramm einschließlich Organisation, An- und Abreise, Verpflegung, Unterkunft … bei aller Hinführung zu selbsttätigen Lernerlebnissen darf dies als Basiserfahrung nicht unterschätzt werden, nicht zuletzt auch in Verantwortung und angemessener Offenheit für ein gutes Wieder-voneinander-Abschied-nehmen.
Wo siehst du Brüche in deinen beruflichen oder freundschaftlichen Beziehungen? Wodurch wurden diese verursacht?
Ehrlich gesagt habe ich sehr große Privilegien in meiner Arbeit im Jugendbildungswerk, als einer in sich geschlossenen kleinen Einheit in der Kreisjugendförderung, denn bis heute können wir unsere Projekte zu dritt auf zwei Vollzeitstellen selbst gestalten und durchführen. Nicht einen einzigen Arbeitsauftrag zum reinen Abarbeiten habe ich bis jetzt von der Leitung erhalten. Allenfalls das Budget ist für manche Teilvorhaben zu begrenzt – bezogen auf meine Projekte stehen nur ca. 7.000 bis 8.000 Euro Veranstaltungsmittel bei ca. 40-50 Veranstaltungseinheiten pro Jahr zur Verfügung. Und das kooperierende System Schule passt nicht immer zu meinen Projekten, lässt mich aber in der Regel gerne selbstverantwortlich machen, insbesondere mit den als »problematisch« angesehenen Jungs. Viel Anerkennung erinnere ich da, und eigentlich keine wirklich blockierenden Widerstände.
Mit welchen Institutionen und Personen warst du gerne beruflich oder privat verbunden oder bist es noch?
Neben der fachlichen Wertschätzung von erfahrenen Kolleg*innen, die mir ebenso wichtig ist wie die elementaren Kooperationen in der kommunalen Jugendbildungsarbeit auf Landkreisebene (welche zentral von Wertschätzung und Verlässlichkeit leben), gibt es für mich immer wieder berührende Momente im Miterleben von Lernprozessen bei den Jugendlichen.
Besondere Erlebnisse waren für mich, auch ganz persönlich, sechs jährliche Geschichtswochenendreisen mit der Jungengruppe eines Jugendraumes. Diese kam zunächst mit dem eigenen Anliegen, ein KZ zu besichtigen, was dann zu Fahrten nach Buchenwald, Verdun, Leipzig, Bremerhaven, Berlin und auch in den Geburtsort meines verstorbenen Vaters nach Bischofferode im Eichsfeld führte, mit jeweils vielen geschichtsbezogenen und persönlichen Erlebnissen. Und genauso hatte ich auch unvergessliche Erlebnisse mit Jungengruppen in den Tagen, als meine Mutter 2018 starb, von der mich erreichenden Todesnachricht mitten im Projekt bis zum Austausch über Trauererlebnisse während der Gruppenarbeit.
Was gibt dir persönlich Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen? Was ist dir (mit) gelungen, worauf bist du (zusammen mit anderen) vielleicht auch stolz?
Das immer wieder berührende Feedback der Jungen. Ein besonderes Beispiel, das mich im Frühjahr tief durchatmen ließ und welches ich nicht vergessen werde: ein Junge, 8. Jahrgang Gesamtschule, verblieb mit zunächst Widerständen beim Wochenschulprojekt »Soziale Jungs«. »Wir sind die, die kein Sozialpraktikum hinbekommen haben«, sagte er, und der Direktor merkte an: »Ich hoffe, Sie überleben die Jungs«. Mein Ansatz war jedoch: »Was heißt für uns überhaupt sozial?«. Immer startend mit einem gemeinsamen Frühstück und morgendlichen offenem Tischgespräch: dass die Nutella plötzlich verschwunden war, kam hier respektvoll und auf Augenhöhe »auch auf den Tisch« – ebenso wie dann ein Besuch im Blindenmuseum, das gemeinsame Schauen der Filme »Masel Tov Cocktail« und »Ziemlich beste Freunde« mit gegenseitiger Assistenzübung »Cola anreichen«. Nach dem Abschied am Freitagmittag im Raum im 1. Stock rief mich der Junge aus der 8. Klasse unten vom Schulhof aus der sich entfernenden Gruppe heraus noch mal ans Fenster: »Herr Sieling, Herr Sieling … es war so geil, wir haben so viel gelernt, Herr Sieling, ich habe von Ihnen gelernt, wie man mit Menschen umgeht – ich rufe Sie mal in zwei Jahren an.« Das hat mich sehr berührt.
Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest? Und was möchtest du gegen Ende deines Lebens erreicht haben?
Was ich mir mit Blick auf meinen Abschied von beruflicher Arbeit und letztlich vom Leben wünsche: den Abschied annehmen und Danke sagen können für all das geschenkte Leben, und das direkt den Menschen oder in nachfühlenden erinnernden Gedanken und im Gebet.
Konkret, auch um den Kreis beruflicher Tätigkeit zu schließen, ein Praktikum in einem Hospiz in der Pflege, vielleicht wenn ich 65 bin. Sterbebegleitung in der Pflege war für mich eine gleichermaßen umfassende und tiefgreifende Tätigkeit, denn begonnen habe ich nach der Krankenpflege-Ausbildung damals bewusst auf der AIDS-Station der Frankfurter Uniklinik. In meinen Rentenzeiten kann ich mir ein Ehrenamt im Hospiz-Bereich durchaus vorstellen, zum Lernen, Annehmen und Geben. Dann würde ich auch ein Abschiedsjahr 2029/30 im Jugendbildungswerk planen, vielleicht mit einem Fachtag, den ich zum Thema »Abschied in der Arbeit mit Jugendlichen« anbiete. Und noch viele bundesweite Männertreffen, Kreistänze, meine Kinder ins Leben gehen sehen, zuversichtlich sein bis zum 80. Geburtstag und gerne auch darüber hinaus …
:: Christian Sieling, ich bin Jg. 1963 und wohne in Frankfurt/M. zusammen mit meiner Familie und Hund seit 16 Jahren. Ich arbeite seit 2000 als Jugendbildungsreferent für das kommunale Jugendbildungswerk des Kreises Offenbach mit dem auch damals so ausgeschriebenen Schwerpunkt »Jungenarbeit und Geschlechterseminare« auf meinerseits gewollter 0,5-Teilzeitstelle. Seit 2000 mache ich auch mit bei der informellen »Fachgruppe Jungen*arbeit Hessen«, die seit ca. 2009 einen jährlichen Fachtag anbietet.