Endlichkeiten als Wegmarken

Ohne Endlichkeiten gibt es keine Übergänge und Entwicklungen. Und wir brauchen Endlichkeiten, um uns orientieren zu können.

Text: Alexander Bentheim
Foto: Sia Panayidou, pexels.com
Schwerpunkt »Endlichkeiten«

 
Ein eigenes Zimmer, endlich, da war ich fast acht Jahre alt, und auch wenn es nur ein kleiner Bereich in einem Flur war, der durch einen Vorhang abgetrennt war. Geschwisterfreie Zone, endlich! Dann eine andere Schule, mit einem anderen Morgenweg, und endlich gab es mal wieder Neues zu entdecken, Umgebungen, Freundschaften, Herausforderungen. Einige Jahre später dann endlich auch das erste selbstverdiente Geld, als Handlanger in einem Sägewerk in den Sommerferien, nun konnte der eine oder andere Wunsch wahr werden, ein neues Keyboard für die Band war drin. Und endlich auch der erste Kuss, der nicht nur aufregend schmeckte, sondern auch erwachsener machte. Und dann endlich 18 und Führerschein, mit neuen Freiheiten: Entschuldigungen für die Schule selber schreiben dürfen, mobil über größere Distanzen sein, wo ein Fahrrad nicht mehr hinreichte, und von der Welt einmal mehr ernst genommen werden; ab jetzt konnte man auch darauf bestehen, gesiezt zu werden, wenn jemand einem zu nahekam. Bald danach auch endlich raus in eine andere Stadt, eigene Wohnung, eigenen Gestaltungsmöglichkeiten, eigene Verantwortungen. Dann irgendwann auch endlich mal fertig mit der Uni, und es gab den ersten Lohn im erlernten Beruf, auch wenn es nur ein Teilzeitjob war, noch dazu befristet … Endlichkeiten waren für mich meist etwas, wo ich ankommen konnte – vorläufig, bis es wieder weiterging. Biografische Wegmarken. Orientierungshilfen. Erfahrungen machen, Kräfte einschätzen, schlauer werden. Bei einigem, das begann, war es gut, dass es wieder endete. Anderes wurde zur angenehmen Erinnerung, wenn es vorbei war. Manches hätte gern weitergehen können, da stand die Endlichkeit nur dumm im Weg. Rückblickend aber hatte alles seinen Ort und seine Zeit. Meine Mutter sagte oft: »Wer weiß, wozu das noch gut sein wird …« und hatte dabei durchaus auch die ungewollten Endlichkeiten im Blick.

Denke ich an Endlichkeiten, dann sogleich auch an Unendlichkeiten. So wie ein Zaun ein Gelände begrenzt, und es dahinter mit Sicherheit weitergeht. Oder eine Frage nach einer Antwort verlangt und zugleich die nächste Frage mitliefert. Oder Menschen Kinder kriegen, die wiederum Kinder kriegen, die dann selbst auch wieder Kinder kriegen, wenn nichts dazwischenkommt. Endliches ist aufgehoben im Unendlichen, ohne Zweifel. Umgekehrt kommen die Vorstellungskräfte schon eher an ihre Grenzen, auch wenn wir noch so neugierig sind: Wo komme ich her, wo gehe ich hin? Was war vor mir, was kommt nach mir? Ist die letzte Antwort wirklich die letzte? Was steckt hinter einer Idee, einer Reaktion? Macht Liebeskummer Sinn und wie lange dauert der Shice? Es gibt keine Endlichkeit an sich, vielleicht nur einen kurzen Stopp, eine längere Unterbrechung, manchmal auch einen sehr langen Aufschub, jedoch immer nur ein selbst- oder fremdgesetztes Ende, kontextuell eingebettet in Überforderung, Langeweile, Ärger, Ermüdung oder Zeitmangel.

Bei kleinen Kindern ist die berühmt-berüchtigte Frage: »Und dann?« bekannt. Sie wollen wissen, was passiert und was danach und was auch dann noch. Es könnte ewig so weiter gehen, wenn nicht der strapazierte Nerv des Erwachsenen dem ein (temporäres) Ende setzt oder das Kind von selbst wieder da rauskommt, wo es mit seiner Frage angefangen hat. Ein Kreisfragen quasi, bei dem es nicht nur um die Antworten geht, sondern auch um das In-Kontakt-gehen und -bleiben mit dem Gegenüber, was ja ebenfalls einer Selbstvergewisserung gleichkommt. Endlich ist die Fragerei, aber unendlich der Kreis. Ein Spaziergang um einen See ist nichts anderes und nur zeitlich überschaubarer als eine Weltumrundung. Endlichkeiten im Unendlichen sind biografische Wegmarken, um sich in den eigenen Entwicklungen räumlich, zeitlich und seelisch verorten und Halt finden zu können.