»Das meiste, was ich in der Jungenmedizin gelernt habe, habe ich durch die Jungen und jungen Männer gelernt.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Bernhard Stier, Hamburg

verschmitzt schauender Junge

Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: Alexander Bentheim

 
Was war dein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen-, Männer- und Väterthemen?
Ich stamme aus einem sehr empathischen, patriarchalisch geprägten Elternhaus mit klarer Rollenstruktur. Erst später, in der Auseinandersetzung mit meiner eigenen Vaterrolle und Partnerschaft, erkannte ich auch die »weichen« Seiten meines Vaters und die starke Rolle meiner Mutter, eine Familie mit 4 Kindern und allem, was dazugehört, zusammenzuhalten. Sie war es auch, die für das Thema »Gesundheit« zuständig war, einem Thema, welches mein Vater, zumindest für sich, völlig ausgeklammert hatte. Der Körper musste – vor allem auch in Bezug auf berufliche Anforderungen – »wie selbstverständlich« funktionieren.
Mein frühes Interesse für die Jugendmedizin, als Kinder- und Jugendarzt schon zu Klinikzeiten und später in eigener Praxis, lehrte mich die Erkenntnis, dass Jungen und junge Männer gegenüber Mädchen und jungen Frauen medizinisch und psychisch schlechter versorgt sind. Schnell wurde mir klar, dass dies zum einen mit der nach wie vor bestehenden Vorstellung von Männlichkeit zu tun hat (»Mann und krank geht gar nicht«), wie ich sie in meinem Elternhaus kennengelernt hatte. Zum anderen bestehen aber deutlich schlechtere Versorgungsstrukturen und medizinische Expertise – zumal, wenn scheinbar der Bedarf geringer ist, ausgedrückt etwa in verminderter Inanspruchnahme medizinischer Unterstützung. Im Laufe der Zeit sah ich viele Jungen und Männer mit Erkrankungen, die sich »rein zufällig« bei den Vorsorgeuntersuchungen ergaben und von ihnen »nicht bemerkt worden waren«. Allerdings folgte auch, je mehr ich mich mit »Jungenmedizin« – einem Begriff, den ich 2005 erstmals formulierte – beschäftigte und mir Kenntnisse erwarb, dass die Inanspruchnahme deutlich gesteigert und sehr dankbar aufgenommen wurde. Dies wiederum zeigte mir, dass ein Zuständigkeits- und Expertiseangebot sehr gut in der Lage ist, die medizinische und psychische Versorgungslage zu verbessern. Und dass es dadurch möglich ist, die Vorstellung von »Männlichkeit und Krankheit geht nicht zusammen« zu überwinden.
Im Jahr 2006 folgte daraufhin das erste Jugendmedizin-Lehrbuch (inzwischen in der 2. Auflage 2019) mit einem eigenen Jungenmedizinkapitel und 2013 das erste Handbuch zur Jungengesundheit.

Und dein politisch-thematischer Zugang?
Durch meine Tätigkeit im Netzwerk »Jungen- und Männergesundheit« lernte ich Männer kennen, die sich außerhalb des rein medizinischen Bereichs beruflich mit Jungengesundheit beschäftigen und vielfältige Expertise entwickelt haben. Gleichzeitig wurde mir umso mehr deutlich, dass hierbei in der medizinischen Versorgungsstruktur deutliche Defizite bestanden. Im Gegensatz zur Kinder- und Jugendgynäkologie gab es für Jungen und junge Männer keine vergleichbaren Strukturen und Zuständigkeiten. Als Konsequenz wurde ich zuständig für Jungenmedizin im Netzwerk »Männergesundheit« und war Mitbegründer der Fachgruppe »Jungenmedizin/Jungengesundheit« des Bundesforum Männer. Parallel dazu initiierte ich eine Beauftragung für Jungenmedizin und Jungengesundheit im Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte Deutschlands e.V., dessen erster Beauftragter ich für diese Thematik wurde. Leider kam es bislang nicht zur Gründung einer interdisziplinären Arbeitsgemeinschaft Jungenmedizin/Jungengesundheit – dieses Vorhaben ist aber nicht aufgegeben.

Welche sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen und Männern?
Neben der Jugendmedizin und darin dem speziellen Lebensabschnitt »Pubertät« ist nach wie vor mein zentrales Thema die Verbesserung der medizinischen Expertise und Versorgungsstruktur für Jungen und junge Männer. Dabei sah und sehe ich einerseits meine Aufgabe darin, in zahlreichen Kapiteln zur Jungenmedizin in pädiatrischen Lehrbüchern sowie in vielfältigen Artikeln zu unterschiedlichen jungenmedizinischen Themen in medizinischen Fachzeitschriften im In- und Ausland die jungenmedizinische Expertise zu verbreiten und »in die Fläche« zu bringen. Andererseits helfe ich durch Vorträge und Seminare, das Interesse zum jungenmedizinischen Handeln zu fördern und damit die konkreten Versorgungsstrukturen zu verbessern.
Das meiste, was ich in der Jungenmedizin gelernt habe, habe ich durch die Jungen und jungen Männer, die meinen medizinischen Rat suchten und suchen, gelernt. So ist meine feste Überzeugung, dass es der beste Weg ist, über das Interesse für dieses Gebiet zum Handeln zu kommen. Die Jungen und jungen Männer danken es einem vielfältig!

Wie hat sich dein Engagement für Jungen, Männer und/oder Väter entwickelt, ggf. verändert?
Das Interesse und die Beschäftigung mit jungenmedizinischen Themen hat sich etwas in Richtung der Thematik »Jungengesundheit« verlagert, ganz im Sinne des Begründers der Salutogenese, dem amerikanisch-israelischen Gesundheitswissenschaftler Aaron Antonovsky (1923–1994), der diese als Gegenbegriff zur Pathogenese eingeführt und in einem komplexen Modell ausformuliert hat. In diesem Zusammenhang sehe ich den Wandel der »Männlichkeit« im Laufe des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts als eines der zentralen Themen an. Das Ringen der Geschlechter um ihre gleichberechtigte Rolle und Verantwortung in unserer Gesellschaft ist nach wie vor geprägt von Verlustangst und Niederlagen. Dabei zeigen sich – während ich diese Zeilen schreibe – z.T. in verheerender Weise die »Fliehkräfte« des Rückschritts in eigentlich überkommen geglaubte Männlichkeitsstrukturen. Und doch hoffe ich, dass sich die Errungenschaften eines gleichberechtigt lernendenden Miteinanders der Geschlechter nicht mehr aufhalten lassen. Jeder und Jede ist dabei gefragt!

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche oder historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Der Fall der »Berliner« Mauer und die Wiedervereinigung war und ist für mich das nachhaltigste Ereignis. Es hat wieder einmal bewiesen, dass (a) alles seine Zeit hat, (b) der Glaube an und der Einsatz für etwas, an das man glaubt, selbst wenn es noch so unwahrscheinlich ist, Erfolg haben kann, (c) Hartnäckigkeit und ein langer Atem – und nicht Mutlosigkeit und Verzweiflung – gefragt sind, und (d) letztlich nicht die Attribute »Feuer und Schwert«, sondern gegenseitiges »Verständnis und Demut« den Erfolg möglich machen. Das gilt gleichermaßen auch für das geeinte Europa – insbesondere das deutsch-französische Verhältnis.

Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deinen privaten und beruflichen Haltungen und Beziehungen?
Durch meine, nun schon seit über zwanzig Jahren währende, Beschäftigung mit der Jungenmedizin und Jungengesundheit hat sich auch meine persönliche Einstellung sehr geändert. So ist Gesundheit für mich nicht mehr selbstverständlich gegeben, sondern erfordert ein Kümmern. Krankheit ist für mich keine Niederlage, kein Manko, kein Stigma, sondern eine Herausforderung, die es entweder zu bewältigen oder anzunehmen gilt. So bin ich im beruflichen wie auch im privaten Leben langsam vom Kämpfer (Typ »lonesome cowboy«) zum Vor- und Nachdenker geworden. Dabei denke ich auch viel über meine Männlichkeitsprägung nach, wohlwissend, dass sich nicht alles so einfach über Bord werfen lässt. Diese Erkenntnisse versuche ich auch an meine Söhne und männlichen Enkel weiterzugeben bzw. sie mit ihnen zu teilen.

Drei Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und Beziehungen zu anderen ausmachen?
Toleranz, Zuverlässigkeit, Verantwortungsbewusstsein.

Was ist für dich »Erfolg« in deiner Auseinandersetzung mit Jungen-, Männer- und Väterthemen? Hast du Beispiele?
Ja, einige. Zum Beispiel, dass die »Jungs« kommen und bei mir Rat suchen; dass Eltern sich an mich wenden, wenn es mit speziellen Jungen-Themen Probleme gibt. Auch dass Kolleg*innen meine Expertise anfragen und ich mit meinem Anliegen das Bewusstsein für Jungenmedizin und Jungengesundheit voranbringe, auch immer wieder gehört und gefragt werde, das ist für mich Erfolg. Ich hoffe sehr, dass das bald auch mein*e Nachfolger*in im BVKJ sagen kann – nichts ist unendlich!

Was gibt dir persönlich Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen?
Eine von Liebe und gegenseitigem Verständnis geprägte Beziehung, eine große und empathische Familie, langjährige Freundschaften, gemeinsame Aktivitäten und geistige Herausforderungen »am Puls der Zeit«. Und nach wie vor meine jungenmedizinische Expertise »an den Mann und die Frau« bringen zu können. Das gilt auch für mein privates Umfeld mit zwei Söhnen und fünf männlichen Enkeln.

Was ist dir (mit) gelungen, worauf bist du (zusammen mit anderen) vielleicht auch stolz?
Dass die »Jungenmedizin« inzwischen zu einem feststehenden Begriff geworden ist und zunehmend mehr in den Fokus genommen wird. Allerdings ist eine gleichwertige medizinische Versorgung der Geschlechter noch (lange) nicht erreicht. Dranbleiben ist die Devise.

Mit welchen Institutionen und Personen warst du gerne beruflich oder privat verbunden oder bist es noch?
Hier ist als erstes meine seit 35 Jahren bestehende Ausbildungstätigkeit in pädiatrischer Ultraschalldiagnostik zu nennen. Dieses seither bestehende Team aus fünf Männern stellt für mich den Idealtypus einer intensiv gelebten Männerfreundschaft dar. Diese Freundschaften haben mir sehr viele Erkenntnisse auch zur »Männergesundheit« geliefert und sind auch eine wesentliche Basis meiner beruflichen Tätigkeit. In diesem Zusammenhang ist mir auch die Verbreitung und Ausbildung sonografischer Expertise in der Jungenmedizin, und generell in der Kinder- und Jugendgynäkologie, bei jungen Kolleg*innen ein wichtiges Anliegen.
Das Netzwerk »Jungen und Männergesundheit«, allen voran Gunter Neubauer und Reinhard Winter, war(en) und sind immer noch wichtige Ideengeber, um mit meinen jungenmedizinischen Themen über den Tellerrand zu schauen.
Meine Tätigkeit im BVKJ e.V. und meine interdisziplinären Symposien zur Jungenmedizin bei den DGKJ-Kongressen – zusammen mit Maximilian Stehr, Wolfgang Bühmann und Manfred Endres.
Last but not least Alexander Bentheim, mit dem sich immer wieder trefflich über diese Themen diskutieren lässt.

Was hat die Männer/* ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast?
Die Zusammenarbeit hat mir – neben fachlichem Input – vor allem die vielfältigen Seiten des »Mannseins« immer wieder deutlich gemacht. Man ist nicht nur einfach Mann, sondern hat vielfältige, auch für die soziale Gemeinschaft wertvolle Facetten, die es weiterzuentwickeln gilt. Es ist schön, ein Mann zu sein, aber auch immer wieder Aufgabe und Herausforderung. Diese Facetten haben mir diese Männer in unterschiedlicher Art in zahlreichen Gesprächen und Diskussionen, aber auch und gerade im Beisammensein und gemeinsamen Erleben, z.B. bei Segeltörns, nahegebracht.

Hast du eine Lebensphilosophie, ggf. ein Lebensmoto?
»Solange wir das Leben haben, sollen wir es mit den uns eigenen Farben der Liebe und der Hoffnung malen« (Marc Chagall).

Wo siehst du Brüche in deinen beruflichen oder freundschaftlichen Beziehungen? Wodurch wurden diese verursacht?
Im »Alpha-Tier«-Gehabe, welches auch ich zeitweilig gelebt habe. Aber das Alter macht milde und nachdenklicher. Ich versuche, diese Nachdenklichkeit, Milde und Toleranz auch meinen Söhnen und Enkeln zu vermitteln – eine nicht immer leichte Aufgabe.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis vom Umgang mit Jungen- und Männerthemen?
»Zwei Dinge pflegen den Fortschritt der Medizin aufzuhalten: Autoritäten und Systeme« (Rudolf Virchow). Das musste ich leider immer wieder erfahren in meinem Begehren, die Jungenmedizin und Jungengesundheit voranzubringen.

Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deinem Engagement an?
Dass eine medizinische Gleichberechtigung und gute gesundheitliche Versorgung, unabhängig vom Geschlecht, noch (lange) nicht erreicht ist. Meine Veröffentlichungen, Seminare und Vorträge sollen entsprechend auch dabei helfen, die hegemoniale Männlichkeit zu überwinden.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest? Und was möchtest du gegen Ende deines Lebens erreicht haben?
Eine interdisziplinäre AG-Jungenmedizin/ Jungengesundheit.

Eine nicht gestellte Frage, die du aber dennoch gerne beantworten möchtest?
Die Frage fällt mir gerade nicht ein, aber die Antwort wäre: »Die stärkste Musik ist die, die man macht, weil man sie mit anderen teilen will.« (Herbie Hancock)

 

 
 
 
 
 
 
:: Bernhard Stier, Arzt, Autor, Referent zu den Schwerpunktthemen Jungengesundheit, Pubertät, Jungen- und Jugendmedizin, Sonografie, lebhaft in Hamburg. Mehr zu mir gibt’s hier.