»Das Aufleuchten einer Erkenntnis in den Augen des Gegenübers«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Georg Paaßen, Mülheim

Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: privat

 
Georg, was war oder ist dein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen-, Männer- und/oder Väterthemen?
Beide Eltern wurden vom Weltkrieg traumatisiert. Das hat sich nur selten gezeigt, war aber (findet mein Ich im Jahr 2023) deutlich zu spüren. Mein Vater war wenig präsent und starb, als ich 11 war, am Alkohol. Mir war klar: Die Männer sind selten glücklich. Im Alltag waren meine Mutter und meine Schwestern viel prägender. Auch andere weibliche Erwachsene in Familie, Kirchengemeinde und Verwandtschaft spielten wichtige Rollen. Meine Alltagserfahrung passte nie zu der Behauptung des Patriarchats, dass nur Männerwelten beachtenswert seien.

Und was ist dein politischer und fachlicher Zugang?
Die Feministinnen der 1970er und 1980er fielen mir auf. Beeindruckt war ich vom anderen Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in Büchern wie »Frauen« von Marilyn French oder »Der Tod des Märchenprinzen« von Svende Merian. Bei einer Organisation, die 18-monatige Freiwilligendienste im Ausland organisiert, war ich um 1987 an den Vorbereitungsseminaren beteiligt, wo wir Sexismus zum Thema gemacht haben.

Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen, Männern und/oder Vätern?
Wir haben, als wir die Initiative »Pfefferprinz – Männernetzwerk und Aktion« gründeten, lange über die Zielformulierungen diskutiert. Hängen geblieben ist mir vor allem »enhancing men’s lives«, das deutsche Wort »bereichern« trifft es aber nicht wirklich. In meinem Engagement geht es mir um Klarheit über die eigenen Wünsche und Bedürfnisse. Dabei denke ich immer mit, dass meine Entwicklung, meine Entscheidungen und meine Zukunft in sozialen Zusammenhängen verlaufen. Ich habe Entscheidungen getroffen: Ich möchte mit meiner Lebenspartnerin alt werden. Ich wollte mit ihr auch Kinder in den Welt setzen, die wir – gemeinsam – ins Leben begleiten. Das wäre mit einer beruflichen Karriere nicht vereinbar gewesen.
Ohne die Begegnungen mit alten Verwandten und im Zivildienst hätte ich mich auch nicht für den »Frauenberuf« Altenpflege entschieden. Auch heute noch, mit 58 Jahren, werde ich für beides schief angesehen.
Mit meinem Lieblingsmenschen, mit den Kindern (beide sind erwachsen) und auch mit Freund*innen, war Ehrlichkeit immer ein zentrales Thema. Dazu gehört auch, soziologische Tatsachen anzuerkennen und diese bei Bedarf zum Thema zu machen und zu hinterfragen. Das Patriarchat ist eine solche soziologische Tatsache. In patriarchalen Machverhältnissen erleben sich Männer immer wieder als »unpassend« und erfahren auf vielerlei Weise Anpassungsdruck. Ich habe noch niemanden kennengelernt, bei dem das ohne Verängstigungen, Verletzungen und spurlos geblieben wäre. Ohne die Begegnung mit bewegten Männern hätte ich nicht Klarheit über meine Wünsche und Bedürfnisse erarbeiten können. Diese Entwicklungen habe ich gern in Männer- und Vätergruppen und bei Männertreffen vorangebracht. So konnte ich zu meinen Entscheidungen stehen und Konflikte im Privat- und Berufsleben durchstehen.
Ich habe viele Pflegeauszubildende begleitet. ich habe in der Palliativversorgung Sterbenden und ihren Angehörigen beigestanden. Ich konnte auch meine Mutter in ihrem Sterben und meine Geschwister in ihrer Trauer begleiten.

Wie hat sich dein Engagement für Jungen, Männer und/oder Väter entwickelt, ggf. verändert?
Ich bin über die Jahre offener und verständnisvoller für die Lebensentwürfe und Prioritäten anderer geworden.

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche/historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Ein einzelnes Ereignis fällt mir nicht ein. Aber Entwicklungen, etwa dass in der Zeit meiner Entwicklung zum erwachsenen Mann HIV und AIDS aufkamen, und damit auch eine Enttabuisierung des Sprechens über homosexuelle Lebensweisen. Oder diese Entwicklung: Wenige Jahre vor unseren Kindern wurde das Elterngeld eingeführt, das seitdem auch mehr und mehr Väter in Anspruch nehmen. Elterngeld war möglich, weil die »Erziehungsleistungen« gesellschaftlich zum Thema gemacht werden konnten. Die Rolle von Vätern wurde damit ebenfalls in den Blick genommen. In meinem Umfeld gehörte ich in den 1990er Jahren zu sehr wenigen Vätern, die vor der Kita standen oder (ohne Frau) beim Kinderarzt waren. (Uns mit Kinderfahrradanhänger zu sehen, war für viele in unserer Stadt auch eine Premiere.) Schließlich: Die vielen Jahrzehnte, in denen wir um gendergerechte Sprache ringen. Es ist viel besser geworden. Gefühlt werden die Auseinandersetzungen mit Ignoranten (und wenigen Ignorant*innen) leider nicht seltener.

Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deinen privaten und/oder beruflichen Beziehungen?
Eine reicht nicht, da gibt es mehrere, zum Beispiel die 17jährige, die mir um 1984 sagte: »Der Feminismus hat sich erledigt. Wir sind gleichberechtigt.« Und die Angst des schwulen englischen Freundes vor homophoben Gewalttätigkeiten auf offener Straße. Und die gemeinsame Entscheidung: Wir möchten zusammen Kinder und sie aufwachsen sehen, ebenso dann die gemeinsame Entscheidung, dass wir nicht noch mehr Kinder möchten und in der Folge meine Vasektomie. Auch das berufliche Scheitern einer 25jährigen Kollegin, die sich als Pflegefachperson in nur wenigen Jahren in die Berufsunfähigkeit gearbeitet hatte. Und ein Workshop über Männerkörper, auch mit Anfassen, und selbstverständlich mit Haydar Karatepe (1957-2011), damals beim Männertreffen 1994. Wie ebenso ein Bauer in Lederkluft, der sein schwules Coming-Out jenseits des 60. Geburtstages auch auf dem Männertreffen genoss. Und nicht zuletzt viele offene Gespräche mit Männern in single/komplizierten/schwulen/getrennten/verwitweten-Beziehungen, ohne und mit Kindern, in denen wir immer wieder Gemeinsamkeiten in unseren Lebensentwürfen entdecken konnten.

Drei Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und/oder Beziehungen zu anderen ausmachen?
Offenheit, Ehrlichkeit, …

Was gibt dir persönlich Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen?
Das Aufleuchten einer Erkenntnis in den Augen des Gegenübers.

Was ist dir (mit) gelungen, worauf bist du (zusammen mit anderen) vielleicht auch stolz?
Zuerst: »Unsere« beiden Kinder leben ein glückliches Leben. Da gerade Mai 2023 ist: Mir ist sehr präsent, dass ich einen, wenn auch sehr kleinen, Anteil daran habe, dass in Deutschland kein Atomstrom mehr produziert wird. Ich habe von einigen Erlebnissen bei den Männertreffen geschrieben; ich habe Grund zu der Annahme, dass ich manche Männer ermutigt habe, sich selbst zu erkennen. Ich bin Altenpfleger, und weil der überwiegende Anteil der pflegebedürftigen Alten Frauen sind, konnte ich vielfach Geschlechtervorurteile entkräften und Vertrauen erwerben. Ich hoffe auch, dass ich vielen Auszubildenden Stolz auf den Pflegeberuf vermitteln konnte – das war nicht einfach, weil ich als Praxisanleiter überwiegend mit weiblichen Auszubildenden zu tun hatte.

Mit welchen Institutionen und Personen warst du gerne beruflich oder privat verbunden oder bist es noch?
Mit Alexander Bentheim von der Agentur MännerWege, mit dem »Rundbrief antisexistischer Männer« (erschien von 1988 bis 1992 in Berlin) und mit der Zeitschrift »Moritz« (erschien von 1993 bis 1997 ebenfalls in Berlin), außerdem mit dem Friedenszentrum Martin-Niemöller-Haus. Wenn das bundesweite Männertreffen und das Herbst-Männertreffen als Institutionen gelten, dann auch diese 😉

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis vom Umgang mit Jungen-, Männer- und/oder Väterthemen?
In den patriarchalen Machtstrukturen … aber das ist zu allgemein. Versuch der Präzisierung (1): Faulheit und Angst scheinen es vielen Männern fast unmöglich zu machen, eigene Verhaltensweisen und Eingrenzungen zu hinterfragen. Neue Erfahrungen sind dann nicht eine Einladung zu lernen und zu wachsen, sondern werden bedrohlich empfunden. Bis hin zu frauen- oder schwulenfeindlichen Gewalttaten. Versuch der Präzisierung (2): Wieder und wieder muss ich erleben, dass Menschen, statt die gesellschaftlichen Verhältnisse zu hinterfragen, ersatzweise einzelne Mitmenschen ins Visier nehmen. So werden Verhaltensweisen, die nicht-konformistisch sind, zu persönlichen Angriffen stilisiert und es wird zum persönlichen »Gegenangriff« geblasen.

Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deiner Arbeit an?
Viele freudige menschliche Begegnungen.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest? Und was möchtest du gegen Ende deines Lebens erreicht haben?
Ich habe das Wichtigste schon erreicht, dem Rest des Lebens sehe ich gelassen entgegen. Mit fast 60 Jahren kann ich überlegen, was ich mir für die Rentnerjahre vorstelle. Da denke ich als erstes an die Klimakatastrophe. Als zweites: Ich habe beruflich in der Pflege viel Wissen und Erfahrung erworben. Wahrscheinlich wäre es der verantwortlichste Umgang, mich in der Palliativversorgung zu engagieren. Was auch offene Begegnungen mit Menschen verspricht.
In der dritten Lebensphase werden Männer neu mit Fragen nach dem Lebenssinn konfrontiert. Auch die Sorge für andere und Situationen, in denen wir selbst auf Hilfe angewiesen sind, spielen eine größere Rolle. Mal sehen, was ich vor diesem Hintergrund, mit meinen Lebenserfahrungen, tun kann.

Eine nicht gestellte Frage, die du aber dennoch gerne beantworten möchtest?
Ich begann die Welt zu entdecken, bevor es das Internet gab. Deshalb waren und sind Bücher für mich wichtig. Ein Frauenbuch, das ich Männern gern empfehle: »Die Töchter Egalias« von Gerd Brantenberg (1977, Verlag Frauenoffensive, ISBN 388104163X).
2023 kollidieren Männer in ähnlicher Weise mit Rollenerwartungen wie 1993. Wenn das Rad nicht wieder und wieder neu erfunden werden soll, dann braucht es Kontinuitäten und Menschen, die die »Basisarbeit« machen: Prozesse und Konflikte dokumentieren, Männer vernetzen, Projekte aufbauen und deren Arbeit öffentlich machen. »MännerWege« aus Hamburg hat dazu sehr wichtige Arbeit geleistet. Ich freue mich, dass ich das unterstützen konnte.
 
 
 

 
 
 
 
 
 
 
 
:: Georg Paaßen, geb. 1964, aufgewachsen im Ruhrpott, Männergruppen in Glasgow und Berlin, Vätergruppe im Ruhrpott, Teilnahme an diversen Männertreffen.