Tendenzen einer Entfremdung

Extrem rechte Fußballfans und die Nationalmannschaft des DFB

Hände strecken sich nach einem Pokal

Text: Robert Claus | EM-Special »rund & kantig«
Foto: bernd_05, photocase.de

 
Der Fußball steht inmitten gesellschaftlicher Konflikte um die Themen Migration sowie sexuelle und geschlechtliche Vielfalt. Dabei werden widerstreitende Entwicklungen in den Fanszenen und den Strukturen des DFB sichtbar. Extrem rechte Organisationen nehmen zunehmend Abstand von dem DFB, dessen Vielfaltsmaßnahmen und der Nationalmannschaft. Was lässt sich für die Europameisterschaft 2024 in Deutschland schlussfolgern?

Zum Beitrag

»Bedrohung, Angst, Wut, Hoffnung«

Wie es rechte Parteien und Bewegungen schaffen, vor allem verunsicherte Männer über Affekte zu mobilisieren.

Kriegerdenkmal in Berlin

Text: Thomas Gesterkamp
Redaktion: Alexander Bentheim
Foto: derProjektor, photocase.de

 
Eine Untersuchung über »Affektive Strukturen der neuen Rechten« liegt von Birgit Sauer und Otto Penz vor (beide früher Lehrende an der Universität Wien). In ihrer gemeinsamen Forschungsarbeit suchen sie nach Erklärungen für den Erfolg autoritärer Parteien und Bewegungen in Deutschland und Österreich. Eher ungewöhnlich ist der wissenschaftliche Ansatz von Sauer und Penz, ökonomische und psychologische Analyse zusammenzubringen. Und sie untersuchen die »neoliberale Transformation« vor dem Hintergrund »sich verändernder Geschlechter- und Sexualitätsverhältnisse« – was das Buch interessant und lesenswert macht, auch wenn die Lektüre wegen des ausgeprägt akademischen Duktus manchmal mühsam ist.

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Die Welt, in Stücke zerlegt

Ein gutes Buch, das einen durcheinander wirbelt, muss nicht neu und auf irgendeiner Bestseller-Liste zu finden sein. Gut, das sollte es schon sein. Und manchmal ist es auch mehr als das.

ein Soldat 1915 im Lazarett

Text: Frank Keil
Foto: Archiv Alexander Bentheim

 
Männerbuch der Woche, 22te KW. – Miloš Crnjanski zerlegt in »Tagebuch über Carnojevic« fortlaufend die Welt und baut sie immer wieder neu auf.

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Die Einsamkeit des Anglers

Man(n) kann einen schweren Fehler machen, ja. Doch dann muss man alles daransetzen, ihn zu korrigieren zu versuchen. Wenn nicht, wird es bitter.

Mensch mit Fangnetz und Tauchhelm steht im Fluss

Text: Frank Keil
Foto: Seleneos, photocase.de

 
Männerbuch der Woche, 20te KW. – Matthias Jügler erzählt in »Maifliegenzeit« von einem grund-verzweifelten Angler, der mit dem Sprechen und Offenlegen ringt.

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Wir waren viele, wir sind viele, noch

Hinter sich die Nachkriegsgeneration, vor sich die Millennials: Am Ende angekommen bemerken die Boomer mal erleichtert, mal bedrückt, dass sie auch nur eine Zwischengeneration waren und sind.

Text: Frank Keil
Foto: Archiv Ulrike Steinbrenner

 
Männerbuch der Woche, 11te KW. – Heinz Bude flaniert gekonnt in seinem schmalen wie reichen Buch »Abschied von den Boomern« durch unsere leicht vergangene Gegenwart.

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Abenteuer, Freiheit, Diktatur

Ein Abenteuerroman für Jugendliche – mit Männerbildern, die zu Auseinandersetzungen und Entscheidungen herausfordern.

Text: Ralf Ruhl
Foto: time., photocase.de

 
Ferne Länder, Segelromantik, Stürme und Schiffbruch – Rachel van Kooijs Buch »Der Kajütenjunge des Apothekers« hat alles, was ein Abenteuerroman für Jugendliche braucht. Und steckt gerade deshalb voller Männlichkeit, von toxisch bis gut gemeint. Was sich folgerichtig zu einem Lehrstück über das Aufkommen einer brutalen Diktatur verdichtet.

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Wenn David nur noch Jude ist

Wer anders ist, das bestimmen die anderen. Das muss der 13-jährige David erfahren, als er sich eher zufällig als Jude outet. Chaos, Liebe, Gewalt, Verrat und Freundschaft – dieser Roman hat alle Zutaten, die ein gutes Jugendbuch braucht. Ein gutes? Mehr als das!

Jugendlicher mit Pfeife hinterm Haus

Text: Ralf Ruhl
Foto: norndara, photocase.de (Symbolbild)

 
David ist Jude. Weiß aber keiner. Also seine Eltern und seine Schwester natürlich, aber niemand in der Schule. Sieht man ja auch niemandem an, ob er arm ist, Krebs hat, gut in Mathe ist oder eben Jude ist. Das will David auch so. Er will nicht angeglotzt werden, angesprochen auf etwas, das für ihn völlig normal und somit gar nicht so wichtig ist, nicht angefeindet werden – und vor allem will er nicht allein sein. Sondern dazugehören. Wie alle pubertierenden Jungen … Danny Wattin’s »Davids Dilemma« ist das Beste, das ich seit Jahren zum Thema Antisemitismus gelesen habe!

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Weiterhin Krieg

Der Krieg in Bosnien? Ja, den gab es. Aber was war da noch mal los? Was hat er mit den Menschen gemacht? Und hätte man daraus vielleicht etwas lernen können?

Text: Frank Keil
Foto: pur, photocase.de

 
Männerbuch der Woche, 3te KW. – Tijan Sila erzählt in »Radio Sarajevo« beeindruckend nah wie nüchtern vom Ende einer Kindheit unter ständigem Beschuss. Es hat seine Zeit gebraucht, bis er sich dieser Lebensphase literarisch nähern konnte.

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Sommer 1944

Engagiert man sich oder schaut man weg? Geht man ein Risiko ein oder hält man die Füße still? Und was hat das jeweils mit dem Leben zu tun, das man zuvor geführt hat? Fragen, auf die Antworten warten.

Horizont Wattenmeer

Text: Frank Keil
Foto: Katinka Tulpenzwiebel, photocase.de

 
Männerbuch der Woche, 50te KW. – Florian Knöppler lässt in »Südfall« einen britischen Piloten zum Ende des Krieges hin auf eine kleine, in sich nicht immer einige Gemeinschaft angewiesen sein.

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»Männer sind durch das Patriarchat nicht unterdrückt, aber beschädigt.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Michael Kimmel, New York

Interview und Übersetzungen: Alexander Bentheim und Marc Gärtner (to the original in english)
Fotos: en.joy.it, photocase.de | privat

 
Wenn es eine Erkenntnis gibt, die meine Arbeit mit Männern und Jungen in den letzten vier Jahrzehnten bestimmt hat, dann ist es diese: Ich habe gelernt, Männer und Jungen nicht dort anzusprechen, wo ich denke, dass sie sein sollten, sondern dort, wo sie sind.

Zu Beginn meines Weges als feministischer Aktivist und Forscher war ich wütend auf Männer. Zumindest habe ich das gedacht. Ich war gegen patriarchalische Herrschaft, gegen Gewalt gegen Frauen und für die Rechte der Frauen. Und ich glaubte, dass es die Männer waren, die die Frauen unterdrückten.

Als sich meine Arbeit vertiefte und weiterentwickelte, kam ich zu der Überzeugung, dass nicht einzelne Männer das Problem sind, sondern ein institutionelles, soziales, politisches und ideologisches System, das die anhaltende Ungleichheit zwischen den Geschlechtern rechtfertigt. Dieses System, nennen wir es »Patriarchat« oder ganz allgemein »Ungleichheit der Geschlechter«, mag Frauen unterdrücken, aber es umgarnt auch Männer und ermutigt uns zu glauben, dass Ungleichheit irgendwie »natürlich« oder gerechtfertigt sei.

Betrachten wir die Analogie zu »Rasse«. Einzelne weiße Menschen mögen rassistisch sein oder auch nicht, aber Rassismus als System ist nicht einfach eine Reihe von Einstellungen. Es wäre naiv zu glauben, dass, wenn jeder Weiße oder jeder Mann irgendwie eine ausreichende Therapie machen würde, diese Einstellungen verschwinden würden und die Rassen oder Geschlechter endlich Gleichheit erfahren würden. Nein, die Ungleichheit ist tief in unseren Institutionen verankert und unterliegt nicht dem Willen des Einzelnen, »auszusteigen«.

Männer sind durch das Patriarchat geschädigt. Nicht unterdrückt, wohlgemerkt. Aber beschädigt. Wir können nicht wissen, wie es wäre, die Welt ohne diese Brille der Rassen- oder Geschlechterungleichheit zu sehen. Und insofern stehen wir Männer vor der Wahl: Wir können weiterleben, blind für die Folgen dieser Ungleichheiten, oder wir können sie erkennen und uns an die Seite derer stellen, die ausgegrenzt sind.

Meine Arbeit hat eine Wendung hin zu Mitgefühl und Verständnis für einzelne Männer und Jungen genommen, mit den Kämpfen, die sie auf der Suche nach einer authentischen, ethischen und geerdeten Identität haben.

Um es klar zu sagen: So wie der politischen Analyse der Ungleichheit die Körperlichkeit der gelebten Erfahrung fehlt, führt die Annäherung an Männer und Jungen mit Mitgefühl und Verständnis ohne diese politische Analyse zu einer Art unverdienter Vergebung, einem Verzicht darauf, Männer in diese Analyse einzubeziehen, die nicht nur die Privilegien der Ungleichheit, sondern auch die Kosten untersucht. Nicht als falsche Äquivalenz, sondern als ein Gefühl dafür, dass das Patriarchat uns allen schadet, auch wenn es einige von uns gegenüber anderen belohnt.

Die Betrachtung von Männern durch diese Linse hat mich dazu motiviert, Wege zu finden, um Männer und Jungen zu erreichen, die weniger schimpfend, weniger normativ und mehr verbindend, mehr empathisch sind. Ich bin einer von uns. In meiner Arbeit habe ich versucht, dies sowohl mit Humor als auch mit einer soliden soziologischen Analyse anzugehen, um einen Weg zu finden, Männer ohne Abwehrhaltung, ohne Widerstand zu erreichen.

In meiner Forschung und meinem Schreiben habe ich versucht, dieses Engagement für die Geschichte mit meinem Engagement für die Gleichstellung der Geschlechter zu verbinden. Ich habe mich mit »schwierigen« Themen befasst und über antifeministische Männer, Männerrechts- und Väterrechtsaktivisten und Burschenschaftler geforscht sowie versucht, die Geschichte der Idee der Männlichkeit in den USA nachzuzeichnen. Meine jüngste Arbeit befasste sich mit Projekten, die es Männern, welche gewalttätige Extremisten waren – weiße Nationalisten, Neonazis, Islamisten – ermöglichen, aus diesen Bewegungen auszusteigen und ihr Leben zu retten. Diese Männer waren an einem sehr dunklen Ort, in der Welt der Gewalt, des Rassismus und des Antisemitismus, aber sie haben ihren »Weg zum Licht« gefunden. Die Programme, die mit ihnen arbeiten, verlangen Verantwortlichkeit, gehen aber auch mit Einfühlungsvermögen und Verständnis auf diese Männer zu. Sie werden von »Ausbildern« angeleitet, die wissen, dass diese Männer nicht einfach »springen« können ohne zu wissen, dass auf der anderen Seite jemand auf sie wartet. Sie sind keine »schlechten« Männer, auch wenn sie vielleicht einige schlechte Dinge getan haben. Sie werden nicht nur durch ihre Taten definiert, sondern auch durch ihr Ziel und ihre neue Ausrichtung. Sie wurden von der gleichen giftigen Ideologie infiziert, der wir alle unterworfen wurden. In diesem Sinne sind sie vielleicht nicht abweichend, sondern eher überkonformistisch hinsichtlich ihrer Vorstellungen und Demonstration von Männlichkeit. Und durch ihr Verhalten zeigen uns die Giftigkeit dieser Vorstellungen auf.

Ich denke, das ist die wichtigste Lektion, die ich in diesen vierzig Jahren der Forschung und des Aktivismus zu lernen versucht habe: die falsche Barriere zwischen »ihnen« und »uns« niederzureißen, zu versuchen, die gemeinsame Menschlichkeit in jedem zu erkennen, und Männern mit der Demut des Schülers und nicht mit der Arroganz des Lehrers zu begegnen.

Ergänzend zu meinem lebens- und arbeitsbezogenen Überblick will ich gern noch einige der Leitfragen beantworten.

Michael, du hast bereits über deinen akademischen Zugang zu Männerstudien und Politik erzählt, aber magst du auch etwas von deinem persönlichen biografischen Zugang zu diesem Thema erzählen?
Ich wurde in der ersten Generation nach dem Zweiten Weltkrieg geboren. Und es war die erste Generation in den Vereinigten Staaten, in der mindestens die Hälfte meiner Abschlussklasse von der High School, die Hälfte der Frauen aufs College ging und Karriere machte, und die andere Hälfte nach Hause kam und Mütter wurden und Familien gründeten. Und ich stamme aus einer Familie, in der meine Mutter zu den Frauen gehörte, die man als die Betty-Friedan-Generation bezeichnen könnte. Sie las »The Feminine Mystique« und erkannte, dass sie unglücklich war. Meine Mutter und mein Vater waren beide berufstätig. Und sie waren beide sehr engagiert in ihren Karrieren. Mein Vater war auch ein sehr engagierter Vater, der sich stark einbrachte. Ich habe sehr gute Erinnerungen an eine sehr enge Beziehung zu meinem Vater, als ich noch sehr jung war. Das machte es für mich schwierig, diese mythopoetische Bewegung zu verstehen, denn diese Männer sehnten sich sehr nach dieser Verbindung zu ihrem Vater. Viele von ihnen projizierten das auf Robert Bly, wie man weiß. Aber ich hatte eine sehr karriereorientierte Mutter und einen fürsorglichen, engagierten Vater. Ich würde sagen, das hat mich dazu gebracht zu erkennen, dass Karriere etwas ist, was Erwachsene tun, nicht etwas, was Männer tun, und dass Fürsorge und Liebe auch etwas ist, was Erwachsene tun. Das heißt, indem sie diese Art von Familie hatten, haben sie Karriere und Familie verentgeschlechtlicht. Das ist also der erste Punkt.
Der zweite Zugang ist: Als ich auf der Graduate School war, arbeitete meine Partnerin in einem Frauenhaus für misshandelte Frauen. Und ich habe in der Zwischenzeit meine akademische Forschung betrieben. Meine Dissertation handelt von der französischen Steuerpolitik des 17. Jahrhunderts, die niemand, der bei Verstand ist, je gelesen hat. Aber sie arbeitete in einem Frauenhaus und wir hatten nur ein Auto, und das hatte ein Schaltgetriebe. In den USA fahren die meisten Leute keine Schaltgetriebe, wie Sie wissen, also bin ich gefahren. Und manchmal fuhren wir zu einem Haus, um die Frau aus dem Haus zu holen. Ich traf also diese Frauen, die verprügelt worden waren. Und ich sagte zu meiner Partnerin: »Ich finde die Arbeit, die ihr macht, so toll, dass ich mich daran beteiligen möchte. Ich möchte mit dir in dem Haus arbeiten.« Und sie sagte: »Das kannst du nicht, das ist nur für Frauen. Der einzige Grund, warum du weißt, wo das Frauenhaus ist, ist, dass ich nicht mit diesem Schaltgetriebe fahre.« Und ich sagte: »Nun, ich möchte mich da wirklich engagieren«, und sie sagte: »Ich habe eine gute Idee: Warum sprichst du nicht mit den Männern, die die Frauen verprügeln?« Und ich sah sie an, als wäre sie verrückt. Ich sagte: »Bist du verrückt? Ich will nicht mit ihnen reden. Sie verprügeln die Frauen! Sie sind böse. Ich will mit den Frauen reden!« Und sie sagte etwas, das ist jetzt 50 Jahre her, das für mich immer noch nachklingt: »Du gehörst zur Bevölkerungsgruppe der anderen Hälfte der Menschheit. Geh und sprich mit ihnen.« Das war also mein Einstieg in die Arbeit mit Männern. So kam ich zur Anti-Gewalt-Arbeit in Kalifornien, in Berkeley, wo ich lebte, und später in Santa Cruz, wohin ich zog, als ich meinen Doktorarbeit abschloss. Und dann engagierte ich mich in dieser nationalen Organisation, bekannt als NOMAS, der Nationalen Organisation für Männer gegen Sexismus. Ich engagierte mich in Kalifornien in dieser Organisation, und als ich nach New York zog, um meine erste Stelle als Hochschullehrer anzutreten, blieb ich in dieser Organisation. Ich verließ die direkte Arbeit mit den Männern, um mich mehr politisch in der NOMAS zu engagieren. Und auch akademisch, indem ich sagte: Was sind wir? Was lesen wir? Wie denken wir über dieses Thema? Bei meiner ersten Lehrtätigkeit unterrichtete ich den ersten Kurs im Staat New Jersey mit dem Titel »Die Soziologie der männlichen Erfahrung«. Und ich war verzweifelt. Ich wusste nicht, was wir lesen sollten. Wir haben schließlich Literatur gelesen, weil es keine sozialwissenschaftliche Forschung gab, auf die ich damals verweisen konnte. Es gab ein bisschen Psychologie, die wir benutzten. Es gab also eine Lücke in der akademischen Forschung, die sich mit Männern befasste, und ich kam aus einer pro-feministischen Perspektive dazu, wie wohl die meisten der frühen Männerforscher, wie Raewyn Connell oder Jeff Hearn, Vic Seidler, ich selbst und andere. Wir alle kamen aus einer Position der Unterstützung des Feminismus, als wir mit unserer Arbeit begannen. Die Idee der Men’s Studies war also Teil eines politischen Projekts, sie war nicht einfach nur akademisch. Sie war Teil eines politischen Projekts, das darauf abzielte, eine Literatur zur Verfügung zu stellen, die die Erkenntnisse der Frauenforschung, des akademischen Zweigs des Feminismus, aufgreift und diese Erkenntnisse auf Männer anwendet.

Gibt es ein sehr nachhaltiges, wichtiges soziales oder historisches Ereignis, das dein Denken in Bezug auf Gender und Männlichkeit im Kontext deiner Arbeit geprägt hat?
Es gibt zwei Ereignisse, die miteinander zusammenhängen. In den späten 60er, frühen 70er Jahren stand ich politisch links. Und links zu sein bedeutete für mich, gegen den Krieg in Vietnam zu sein. Das erste Ereignis war, als ich 13 Jahre alt war. Ich ging 1964 zu einer Demonstration gegen den Krieg. Es war eine der frühen Demonstrationen gegen den Krieg und eine Zeit, in der es genauso viele Leute an den Straßenrändern gab, die uns anschrieen, wie es Leute gab, die demonstrierten. Wir marschierten in Manhattan, New York City. Plötzlich schrie jemand: »Geh doch zurück nach Russland, du Kommunist!« Und da ich 13 war, bin ich natürlich sofort dazwischen gegangen und habe gesagt: »Nein, das ist patriotisch, man sollte sich von seiner Regierung distanzieren, wenn man mit ihr nicht einverstanden ist«, und einiges mehr. Wie gesagt, ich war 13 Jahre alt. Und er schrie mich weiter an: »Fick dich, du kommunistische jüdische Schwuchtel!« Ich hatte mit 13 nicht die Geistesgegenwart zu sagen: »Na ja, einer von dreien.« Dann versuchte ich, mir das zu erklären: Was ist die Verbindung von Kommunismus, Judentum und Homosexualität? Alle drei sind keine echten Männer, richtig? Juden sind keine echten Männer. Sie vergraben sich in Bücher, sind schwach und so weiter. Schwule sind keine richtigen Männer, in der öffentlichen Meinung jedenfalls. Und Kommunisten wollen alles teilen. Sie wollen nicht, dass man behält, was man hat. Alle drei sind also in der öffentlichen Meinung feminisiert. Das war so verblüffend für mich, dass es mich erschütterte. Ich erinnerte mich daran, wie ich immer wieder darüber nachdachte: Warum gerade diese drei? Was hatte es damit auf sich? Und dann war ich in meinen Teenager- und auch in meinen 20er-Jahren in der Anti-Kriegs-Bewegung sehr sichtbar und in Organisationen involviert, und natürlich hat meine Freundin meine Reden getippt. Und es ist mir nie in den Sinn gekommen, dass sie damals vielleicht selbst eine Rede halten wollte. Ich war Anführer, verstehst du? Und dann fingen feministische Frauen an, die Männer der Anti-Kriegs-Bewegung zu kritisieren. Und sagten: »Moment mal, ihr behandelt uns auf eine Weise, die ihr jetzt öffentlich anprangert!« Das hat mich ebenso wirklich erschüttert. Und mir wurde klar, dass sie recht haben. Was sollten wir jetzt tun? Ich würde ab nun meine eigenen Reden schreiben, und das Ganze war wirklich eine Offenbarung für mich. Ein Teil davon war, mich ab nun in diesen Diskussionen zu engagieren. Die historischen Ereignisse sind wohl die Kritik der Frauen an dem, was ich zu dieser Zeit tat. Und die zweite Frauenrechtsbewegung hat die Kritik am Sexismus innerhalb der Bürgerrechtsbewegung und der Antikriegsbewegung wirklich auf den Weg gebracht.

Was gibt dir persönlichen Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen? Gibt es etwas, das mit der Arbeit zusammenhängt, die du getan hast oder die du tust?
Ich habe versucht, die Art von engagiertem Vater zu sein, wie es mein eigener Vater mit mir war, als ich klein war. Und dass ich meine Karriere nicht immer an die erste Stelle setze. Ich habe wirklich hart daran gearbeitet, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen. Jetzt, wo ich im Ruhestand bin und mein Sohn ausgezogen ist – er ist jetzt berufstätig und hat die Universität abgeschlossen – bin ich der Familienkoch. Das macht mir Spaß. Ich koche jeden Abend für meine Frau und mich, und ich habe wirklich das Gefühl, dass wir eine Partnerschaft haben.

Was macht die Männer aus, mit denen du gerne arbeitest oder deine Zeit verbringst?
Die Beziehungen, die für mich am nachhaltigsten waren, waren die zu anderen Männern, die auch positive Beziehungen zu ihren Vätern hatten, zu anderen Männern. Die Männer, zu denen ich die engsten Beziehungen pflege, sind Männer, die auch viel Liebe für andere Männer empfinden. Und bezogen auf meine Arbeit mit Männern, die viel Verletzungen und Schmerz erlebt haben, zunächst dies: Ich habe so viele von ihnen Dinge sagen hören wie »Ich habe mein ganzes Leben darauf gewartet, dass mein Vater sagt: ich bin stolz auf dich, mein Sohn« oder dass mein Vater sagt »Ich liebe dich«, nur einmal, und sie haben es nie gehört. Meine frühere Wut auf Männer verwandelte sich mit der Zeit in Empathie, wenn sie bereit waren, sich auf unsere Arbeit einzulassen. Weil ich weiß, dass viele durch eine enorme Krise ihrer psychischen Gesundheit gehen, dass es Depressionen und Todesfälle aus Verzweiflung gibt, dass es viele Männer gibt, die sagen, dass sie keine guten Freunde haben, oder dass ihre Netzwerke so brüchig sind, dass sie nichts haben, was ihnen Halt gibt. Wir können nicht einfach sagen: »Nun, seht euch an, was ihr getan habt.« Wenn wir wollen, dass sie zu diesem Schluss kommen, müssen wir empathisch sein und uns um die Tatsache kümmern, dass sie Schmerzen haben.

Welches Projekt würdest du gerne noch realisieren, wenn du die Möglichkeit dazu hättest? Gibt es etwas, das du noch machen möchtest? Und was würdest du gerne am Ende deines Lebens erreicht haben?
Wenn ich einen Zauberstab schwingen könnte, dann wäre die weltweite Gleichstellung der Geschlechter und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie mein Wunsch gewesen. Es gibt aber nicht noch das eine große Projekt. Ich habe die Arbeit, die ich in verschiedenen Bereichen geleistet habe, sehr genossen. Es gab neben der Universität, der akademischen Arbeit und dem Schreiben drei Bereiche in meinem öffentlichen Leben. Einer davon war die Arbeit mit Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen (NRO), um mit Menschen zusammenzuarbeiten, die an der Förderung der Gleichstellung der Geschlechter interessiert sind, z.B. Männer finden, die ein Männernetzwerk aufbauen, oder Unternehmensführer zu inspirieren, eine Politik der Gleichstellung der Geschlechter zu entwickeln, Dinge, über die ich in meinem TED Talk spreche. Das zweite war die Zusammenarbeit mit Regierungsprojekten zum gleichen Thema, z.B. in Norwegen, Schweden, Dänemark, Island, und das hat mir wirklich viel Spaß gemacht. Und drittens habe ich direkt mit Jungen gearbeitet, vor allem in Jungenschulen in Südafrika, Australien, Neuseeland und natürlich auch in den USA. Eine Arbeit mit den Jungen darüber, was es bedeutet, männlich zu sein – das war sehr erfreulich. Und im Moment bin ich in einige neue Projekte involviert, die weniger mit Forschung und Schreiben zu tun haben, auch weniger mit Männern und Jungen. Ich arbeite an einer Art Familiengeschichte, und das macht mir sehr viel Spaß.

Gibt es eine Frage, die nicht gestellt wurde, die du aber trotzdem gerne beantworten würdest?
Ich würde gern eine Frage beantworten, mit der ich meiner Meinung nach enden sollte. Und das ist die Frage nach der Schaffung von Ressourcen für jüngere Männer. Zunächst möchte ich sagen: Ich bin sehr optimistisch, ich bin schon vom Temperament her ein Optimist. Und ich denke, dass jeder, der sich für sozialen Wandel und soziale Gerechtigkeit einsetzt, von seinem Naturell her ein Optimist sein muss, denn man muss daran glauben, dass Veränderungen möglich sind. Deshalb bin ich optimistisch, und ich denke, es ist wichtig für uns ältere Männer, das zu erkennen. Ich glaube, dass junge Menschen heute etwas vorleben, das mich extrem optimistisch stimmt, und das hat mit geschlechtsübergreifenden Freundschaften zu tun. Ich glaube, das ist eine der größten Veränderungen, im Leben junger Menschen. Ich schaue mir das Leben meines Vaters an. Ich schaue mir das Leben der Männer dieser Generation an. Sie hatten Freunde in der Highschool, im College und am Arbeitsplatz. Aber am Ende bestand ihr Freundschaftsnetz aus den Ehemännern der Schulfreunde meiner Mutter. Die meisten unserer Freundschaften sind eher für Männer meines Alters und älter. Sie sind in der Regel nach Geschlechtern getrennt. Die meisten von uns haben keine guten weiblichen Freunde. Die meisten Männer im Umfeld meiner Mutter hatten nie gute männliche Freunde. Die jungen Leute von heute sind mit geschlechtsübergreifenden Freundschaften aber sehr zufrieden. Fragt irgendeinen Teenager: »Hast du irgendwelche guten Freunde des anderen Geschlechts?« Und sie werden alle mit Ja antworten. Als ich anfing zu unterrichten, wurde ich oft gefragt: »Wie viele von euch haben einen guten Freund oder eine gute Freundin des anderen Geschlechts?« Als ich vor 40 Jahren mit dem Unterrichten begann: vielleicht 10%. Jetzt gehe ich in eine Klasse und frage: »Hat jemand keinen guten Freund des anderen Geschlechts?« Ich sehe nie eine gehobene Hand. Denkt also einen Moment über die Politik der Freundschaft nach. Mit wem schließt ihr Freundschaften? Seid ihr mit Leuten befreundet, die über euch stehen oder unter euch? Nein, das Wort, das wir verwenden, um unsere Freunde zu beschreiben, lautet: Gleiche, Gleichwertige, Peers. Junge Menschen haben heute mehr Erfahrung mit der Gleichstellung der Geschlechter in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen als jede andere Generation zuvor. Ich denke, das kann nur gut sein, denn sie können diese zwischenmenschlichen Erfahrungen mit der Gleichstellung der Geschlechter auf ihren Arbeitsplatz übertragen. Sie wissen, wie sie bessere Kollegen sein können. Sie wissen, wie man kollegial miteinander umgeht, ohne dass es problematisch wird. Ich denke, wir Älteren sollten von ihnen lernen. Ich denke auch, dass es für Unternehmen sehr klug wäre, ein Reverse-Mentoring-Programm einzuführen. Nicht ältere Männer sagen jüngeren Männern, was sie tun sollen oder wie sie es tun sollen, sondern jüngere Männer sagen es älteren Männern: »Wo ist der neue Arbeitsplatz?« Und ich bin optimistisch, dass sie diese Haltung in ihren Freundschaften nicht nur an ihren Arbeitsplatz bringen, sondern auch in ihre Ehen und in ihr Familienleben. Ich glaube, dass die Grundlagen dafür vorhanden sind. Und die jungen Leute wissen, wie es sich anfühlt.

 

 
 
 
 
 
:: Michael Kimmel, geboren 1951, lebt in Brooklyn/NYC und ist Professor für Soziologie an der Stony Brook University in New York. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Männerforschung, Gender Studies und Sexualität sowie politische und soziale Bewegungen. Er ist Mitherausgeber der »International Encyclopedia of Men and Masculinities« und des »Handbook of Studies on Men and Masculinities«, außerdem Sprecher der »Vereinigung Nationale Organisation für Männer gegen Sexismus« (NOMAS). Seit 2013 leitet er ein Zentrum für die Forschung zu Männern und Männlichkeiten, aktuell mit einem Masterstudiengang »Masculinity Studies«. Einige seiner Bücher sind »Manhood in America« (1996), »Guyland« (2008), »The Gendered Society« (2000), »Angry White Men« (2013), »Misrepresenting Men« (2010) und »Healing from Hate« (2017). – Weitere Infos und Kontakt: www.michaelkimmel.com | Twitter: MichaelS_Kimmel