Ein Strich durch die Lebensrechnung

Richard Wagners Auseinandersetzung mit »Herrn Parkinson«

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Text: Stefan Moes
Foto: busdriverjens, photocase.de

Ein Mann verliert die Kontrolle über seinen Körper. Mit 51 Jahren erkrankt er an Parkinson. Schüttellähmung hieß die Krankheit, bevor sie den Namen des englischen Arztes erhielt, der die Symptome vor 200 Jahren zum ersten Mal systematisch beschrieb. Der vorzeitige Abbau des Botenstoffes Dopamin im Gehirn führt zum Kontrollverlust: Die Muskulatur macht sich selbständig. Gliedmaßen verkrampfen oder zittern, die Gesichtszüge entgleisen … Dieser Bericht schont weder den Autoren, noch die Leser. Und erst recht nicht den erkrankten Leser. Denn Parkinson stört die Ordnung nicht, er übernimmt sie.

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Männer, mit denen man einen Abend verbringen möchte

Die unaufdringlichen Portraits von Gilles Soubeyrand

Text und Interview: Alexander Bentheim
Fotos: Gilles Soubeyrand
Reihe »Bilder und ihre Geschichte« #4 (slideshow by click on pic)

Nachdenkliche Gesichter, das fällt als erstes auf, wenn man die Männerportraits von Gilles betrachtet – und nicht nur einen kurzen Blick auf sie wirft. Vertieft in sich selbst oder konzentriert auf etwas, mit dem sie in diesem Moment beschäftigt sind. Oder aufmerksam für etwas sind, was außerhalb des Bildes, nicht sichtbar, nicht einmal ahnbar für den Betrachter, gerade zu passieren scheint.
»Ich fotografiere Menschen, keine Kleiderständer. Ich suche natürliche Gesichter mit starker Ausstrahlung«, sagt Gilles im Text seiner SedCard. Und deshalb sehen wir keine Typen, die Überlegenheit verkörpern oder andere ihre Verbitterung spüren lassen – sondern Persönlichkeiten, die authentisch erscheinen, einige fast schüchtern, andere stolz, auch geheimnisvoll, gar weise. Die Spuren des Lebens in ihren Gesichtern so nah betrachten zu können ist ein Glück und liegt nicht zuletzt am Gefühl des Fotografen für den Augenblick.
Gilles portraitiert Männer, mit denen man einen Abend verbringen möchte, bei einem guten Roten, um etwas von ihnen zu erfahren, wie sie die Welt sehen und welchen Rat sie wohl bereit halten würden, fragte man sie nach einem. Ob sie einen geben würden, wissen wir nicht. Aber Gilles kann ich befragen nach seinen Portraits und den Momenten ihrer Entstehung.

Gilles, sind Menschen deine hauptsächlichen Fotomotive?
Ja. Denn Menschen sind so unterschiedlich. Sie sind groß, klein, dick, dünn, haben unterschiedliche Haut- und Haarfarben. Vor allem aber – sie leben. Wenn ich mal vergleiche: Ein Gebäude kann ich mir anschauen. Wenn ich es nochmal sehen möchte, kehre ich dorthin zurück. Durch meine jahrzehntelange Erfahrung in der Fotografie habe ich unbewusst gelernt, Bilder in meinem Kopf zu speichern. Also brauche ich von Gebäuden keine Fotos zu machen.
Dagegen ist das Portrait eines Menschen ein unwiderbringlicher Moment, eine 1/125 Sekunde im Leben eines Menschen. Eine Gesichtsausdruck, ein Augenaufschlag, eine Geste. Das kommt so nie wieder. Ich fotografiere Menschen, weil sie leben.

Wo suchst und findest du die Männer, die du portraitierst?
Ich suche sie nicht, ich finde sie. Ich fotografiere sehr viel auf Jazzkonzerten. Und dies ist nach wie vor eine ziemliche Männerdomäne. Die Portraits sind fast ausschliesslich Live-Momente von Musikern, die mich teilweise schon lange kennen, meine Bilder mögen und Vertrauen zu mir haben. Die spontanen Live-Momente sind für mich viel spannender als arrangierte und gestellte Bilder.
Die meisten Männer, die ich fotografiert habe, sind eher introvertiert. Sie haben es nicht nötig, typisch männliche Merkmale wie Muskeln und Entschlossenheit zur Schau zu stellen. Sie leben aus dem Bauch heraus und haben ein natürliches Selbstbewusstsein. Und genau deshalb werden sie für mich als Fotograf interessant.

Mit welchem Blick schaust du auf Männer, mit welchem auf Frauen – die du ja auch fotografierst? Was ist gleich, was ist anders für dich als Fotograf?
Ein Mann muss Charakter, eine gewisse Weisheit und Intelligenz, kurz: eine Persönlichkeit ausstrahlen, damit er für mich fotografisch interessant wird. Nur ein durchtrainierter Body verbunden mit einem ausdruckslosen Blick reizen mich fotografisch nicht. Übrigens gilt das gleiche im Wesentlichen auch für Frauen. Übertrieben gestylte Frauen in aufreizender Kleidung, aber ohne Ausdruck im Gesicht, lassen mich kalt.
In erster Linie sind sowohl Männer wie Frauen Menschen. Und der jeweilige Mensch als Person muss mich interessieren, bevor ich ihn fotografiere. Dazu reicht bei mir eine ganz kurzer Blick – 1 bis 2 Sekunden – ob dieser Mensch mich interessiert.
Natürlich schaue ich ganz unterschiedlich auf Männer und Frauen. Bei einem Mann achte ich auf das Gesamtbild. Wie bewegt er sich, wie redet er, wie ist seine Mimik und Gestik? Bei einer Frau spielt zusätzlich ein gewisser erotischer Faktor eine Rolle. Hier riskiere ich manchmal einen etwas intensiveren »fotografischen« Blick auf das Gesicht, ohne dieser Frau zu nahe zu treten. Mein Fokus liegt dabei auf den Augen. Der zweite Blick fällt auf die Haare. An diesen beiden Merkmalen bleiben ich dann meist hängen. Wenn bei einer Frau, hier, mein Interesse geweckt ist, dann sind andere körperliche Merkmale wie Oberweite, Taille und Po zweitrangig.

Du fotografierst fast ausschließlich schwarzweiß? Warum?
Meine Originalbilder sind farbig. Beim Bearbeiten der Bilder suche ich geeignete Bilder heraus, die ich dann zusätzlich in Schwarzweiß bearbeite.
Die ganze Welt ist farbig, das Fernsehen ist farbig, die Werbung ist farbig, das Internet ist farbig. Unsere Augen sind von Farben übersättigt, ohne dass wir uns dessen bewusst sind.
Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der das Fernsehen, die Kinofilme und die Fotos noch schwarzweiß waren. Man hat in seiner Phantasie die Farben hinzugefügt. Die großen Fotografen wie Newton, Lindbergh oder Bresson haben meist schwarzweiß fotografiert.
Schwarzweiße Bilder lenken das Auge auf das Wesentliche, das Auge wird nicht abgelenkt durch eine Farbe, die vom eigentlichen Bildinhalt ablenkt. Durch die Bearbeitung eines Farbbildes in Schwarzweiß verschwinden oft auch störende Elemente im Bildhintergrund oder Farbstiche.
Seit der digitalen Fotografie erfährt die Schwarzweißfotografie eine Art Renaissance. Man hat hier die Möglichkeit, aus einem Farbbild unendlich viele Schwarzweiß-Versionen zu machen. Und aus meiner Erfahrung mit über 100 Shootings kann ich sagen: Ausnahmslos jedes meiner Models war von meinen Schwarzweißbildern begeistert.

Wer oder was inspiriert dich in der Fotografie?
Inspiriert werde ich durch schauen, schauen und nochmal schauen. Jeden Tag durchforste ich ganz entspannt Fotoportale im Internet. Und finde dabei teilweise großartige Bilder anderer Fotografen. Diese Bilder bleiben dann ich meinem Kopf hängen, ohne dass ich sie auf meiner Festplatte speichere. Ich habe auch Bildbände bekannter Fotografen und gehe viel in Fotoausstellungen.
Bei meiner eigenen Fotografie versuche ich nicht, andere Bilder zu kopieren. Das geht schief, ist einfach so. Vielmehr warte ich den richtigen Moment bei einem Shooting ab, an dem ich, ohne darüber nachzudenken, meine eigene Interpretation eines Bildthemas finde.

Möchtest du etwas erreichen mit deinen Bildern? Was?
In erster Linie möchte ich meine Sicht der Welt in meinen Bildern wiedererkennen. Darüber hinaus möchte ich anderen interessierten Menschen meine Sichtweise mitteilen.
Ich möchte mit meinen Bildern nicht reich werden, auch nicht zeigen, was ich foto- und bearbeitungstechnisch »drauf« habe, sondern mir und anderen Menschen Freude machen.

Was macht dich glücklich in der Fotografie?
Einerseits der intensive Kontakt zu den Menschen, die ich fotografiere. Man kommt einem Menschen sonst kaum näher, selbst nicht in einem stundenlangen Gespräch. Zum anderen die Möglichkeiten, nach Herzenslust mit dem Licht spielen zu können und einen Ausschnitt aus seinem Gesichtsfeld festzuhalten.
Und schliesslich und ganz besonders: Ein gelungenes Bild lange anzuschauen, das Gefühl, ein Bild zu betrachten und dabei zu sagen: »Dieses Bild ist so großartig – kann gar nicht sein, dass ICH das gemacht habe«. Das ist so unglaublich, dass man es selbst erleben muss.

Wen würdest du noch gern portraitieren?
Den Dalai Lama. Und wenn sie noch leben würden: Meinen Vater und Willy Brandt. Dann einige hochinteressante männliche und weibliche Models in der Model-Kartei. Und ja, viele interessante Menschen, die ich täglich auf der Straße, in öffentlichen Verkehrsmitteln und in Cafés sehe.

Gilles Soubeyrand, Jg. 1957, lebt und arbeitet in Berlin. Er fotografiert seit über 40 Jahren. Zu finden sind er und seine Bilder unter seinem Model-Kartei-Account gilles und bei Facebook.

Die portraitierten Männer (in der Slideshow von Beginn): Mike Basden, Sopran-Saxophonist aus New York, im Oktober 2013 während einer Session. | Uri Gincel, Jazz-Pianist aus Tel Aviv, während einer Session in Berlin. | Guitar Crusher, Blues-Gitarrist und Sänger, der trotz seiner 84 Jahre noch regelmäßig auftritt; im August 2014 während eines Konzerts im Jazz-Club »A Trane« in Berlin. | Sigi, Ex-Bauunternehmer, Schauspieler, Videofilmer, Lebenskünstler, am Rande einer Foto-Version des Bildes »Susanna im Bade« des Fotografen Andreas Maria Kahn, Berlin. | Michael Clifton, Schlagzeuger, Comedian und Entertainer aus Denver, ebenfalls seit 1979 in Berlin lebend, während einer Session. | Ludovico Fulci, Pianist und Komponist aus Italien, während eines Konzerts in Berlin. | Kenneth Dahl Knudsen, Kontrabassist aus Dänemark, während eines Outdoor-Shootings. | Kelvin Sholar, Pianist aus Detroit, im »A Trane« Berlin. | Joel Holmes, Jazz-Pianist aus New York, der in Berlin, Kiew und Rom lebt, während einer Jam-Session. | Günter »Baby« Sommer, Schlagzeuger vom »Zentralquartett« und Free-Jazz-Legende aus der DDR, während einer Probe im Mai 2014. | Eric Vaughn, Jazz-Schlagzeuger aus Geogia (USA), der von Gilles bisher meist fotografierte Mann, während einer Jazz-Session in Berlin. | Dwight Thompson, Jazz-Sänger aus den USA, in Berlin lebend, im Dezember 2012 im »A Trane«. | DOWL, Fotograf und Male Model, in natürlichem Fensterlicht in einer Theaterkantine. | Gilles, der Fotograf.

Von einer Frau und einem roten Notizbuch

Antoine Laurain versucht mit »Liebe mit zwei Unbekannten« nicht nur das Rätsel von Frauen und ihren Handtaschen zu lüften.

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Text: Frank Keil
Foto: ohneski, photocase.de

Männerbuch der Woche, 30ste KW. – Rätselhaft, geheimnisvoll, aufregend: eine Archäologie der anderen Art ist Antoine Laurains Geschichte um ein rotes Notizbuch und der Versuch, dessen Besitzerin zu finden. Nach den vergangenen »Männerbüchern der Woche« um eine schwierige Kindheit, einen Vater, der sich erschießt, und eine Reise nach Auschwitz – die zugegeben eher nicht vor Freude und guter Laune sprühten – kommt diesmal die ganz alltägliche Liebe zu ihrem Recht.

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»Es kann gefährlich werden.«

Ein Gespräch mit Björn Klauer über die bevorstehende zweite Expedition mit seinem Team in die Arktis.

Expeditionsteilnehmer

Interview: Frank Keil
Foto: Björn Klauer

Björn Klauer, Hamburger Skandinavien-Auswanderer und mit seiner Lebensgefährtin Betreiber einer Huskyfarm in Nordnorwegen, veranstaltet dort nicht nur Hundeschlittentouren, sondern geht zuweilen mit seinem Team und seinem Sohn auch auf Expeditionsreisen. Eine solche steht wieder unmittelbar bevor – genauer: heute, am 14. Juli, geht es los. Nach Spitzbergen, um Zeugnisse einer dort vor über 100 Jahren verschollenen Expedition zu suchen. Mit welchen Gedanken, Vorbereitungen und früheren Erfahrungen – ja, auch mit Eisbären – man sich da beschäftigt, davon erzählt der Expeditionsleiter im Interview.

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Zurückbleiben – und zurückfinden

Saskia Jungnikl’s Bericht »Papa hat sich erschossen«

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Text: Frank Keil
Foto: tosini, photocase.de

Männerbuch der Woche, 27ste KW. – Es gibt Buchtitel, bei denen man unwillkürlich stehen bleibt und innehält und nicht weitergeht, weil mit ihnen alles gesagt ist: »Papa hat sich erschossen« – was braucht es jetzt noch? Nicht: »Vater hat sich erschossen«, was etwas ganz anderes wäre, irgendwie nicht ganz so schlimm, nicht ganz so himmelschreiend entsetzlich und nicht mehr zu ändern, sondern distanzierter, abgeklärter, sachlicher. Aber Papa statt Vater – und sofort ist alles Schutzlose und Bedürftige der Kindheit da, mit einem Schlag. Und nun hat sich Papa erschossen.

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Mysterien im Reihenhaus, Mysterien im Partykeller – Mysterien überall

Andreas Maier’s Roman »Der Ort«

Ein Foto mit einer Frau die eine rote Handtasche schwenkt

Text: Frank Keil
Foto: suschaa, photocase.de

Männerbuch der Woche, 26ste KW. – Ein großes Projekt der Erzählung einer Kindheit und dann einer Jugend, die so eigen-einzigartig wie auch idealtypisch ist, in den Reihenhäusern, den Wohnungen und den Kellern der hessischen Provinz, in denen es immer wieder um die Frage geht: Was hat es mit diesem Leben auf sich, in das wir hineinwachsen und das wir leben sollen oder müssen oder wollen? Und wer ist eigentlich verrückt?

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Eine etwas andere Geburtstagsfahrt

Philip Meinhold‘s »Erben der Erinnerung«

Ein Bild von des KZ Auschwitz

Text: Frank Keil
Foto: Denise-Sophie, photocase.de

Männerbuch der Woche, 25ste KW. – Ein besonderer Wunsch zum 70. Geburtstag, vielleicht was sie in ihrem Leben noch erleben möchte? Ja, sagt die Mutter, mit ihrem Sohn, den Kindern und Enkelkindern nach Auschwitz fahren und dort gemeinsam die Gedenkstätte be­suchen … Ein berührendes, ein nachge­hendes Buch, das von den Vorbereitun­gen und am Ende auch von der Reise selbst erzählt.

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Beklemmende Migrationsgeschichte

Großartig und beklemmend: Davide Cali‘s »Mein Vater der Pirat«

Ein schwarzer Vogel  unter Wolken

Text: Ralf Ruhl
Foto: particula, photocase.de

»Söhne vergöttern ihre Väter. Bis – naja, bis sie merken, dass auch Papa Fehler macht und nicht alles kann.« Eine Vater-Sohn-Geschichte für die frühen Jahre, zum Vorlesen und Selbergucken.

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Fußball ist unser Leben

Ein Spielbericht

Eine alte Schwarz-Weiß Fotografie einer Fußballmannschaft

Text: Thomas Gesterkamp
Foto: sergey2, photocase.de

»Freitagabende sind heilig, andere Verabredungen nahezu unmöglich. Denn um 19 Uhr treffen wir uns jede Woche beim ESV Olympia, dem traditionsreichen Eisenbahnersportverein in Köln-Nippes«. Über die Fußballbegeisterung alter Herren, Auswahlregeln und »Kleingemüse«, das sich hocharbeiten muss.

Zum gesamten Spielbericht

Wir sind die Beklopptesten von allen

Christoph Schröder‘s Fußballbuch »ICH PFEIFE!«

Ein männliches Dekollete mit Trillerpfeifenkette

Text: Frank Keil
Foto: sör alex, photocase.de

Männerbuch der Woche, 23ste KW. – Ein äußerst unterhaltsames Buch, ein faktenreiches, ein auch mal plauderiges, das Fußballgeschichte erzählt und jede Menge Fußballgeschichten, von unten auf dem Platz. Das subjektiv ist, so wie der Autor zugleich generell Wissenswertes über die Schiedsrichterei berichtet, auch über den Fuß­ball generell, und auch über Jürgen Klopp.

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