Endlichkeiten als Wegmarken

Ohne Endlichkeiten gibt es keine Übergänge und Entwicklungen. Und wir brauchen Endlichkeiten, um uns orientieren zu können.

Text: Alexander Bentheim
Foto: Sia Panayidou, pexels.com
Schwerpunkt »Endlichkeiten«

 
Ein eigenes Zimmer, endlich, da war ich fast acht Jahre alt, und auch wenn es nur ein kleiner Bereich in einem Flur war, der durch einen Vorhang abgetrennt war. Geschwisterfreie Zone, endlich! Dann eine andere Schule, mit einem anderen Morgenweg, und endlich gab es mal wieder Neues zu entdecken, Umgebungen, Freundschaften, Herausforderungen. Einige Jahre später dann endlich auch das erste selbstverdiente Geld, als Handlanger in einem Sägewerk in den Sommerferien, nun konnte der eine oder andere Wunsch wahr werden, ein neues Keyboard für die Band war drin. Und endlich auch der erste Kuss, der nicht nur aufregend schmeckte, sondern auch erwachsener machte. Und dann endlich 18 und Führerschein, mit neuen Freiheiten: Entschuldigungen für die Schule selber schreiben dürfen, mobil über größere Distanzen sein, wo ein Fahrrad nicht mehr hinreichte, und von der Welt einmal mehr ernst genommen werden; ab jetzt konnte man auch darauf bestehen, gesiezt zu werden, wenn jemand einem zu nahekam. Bald danach auch endlich raus in eine andere Stadt, eigene Wohnung, eigenen Gestaltungsmöglichkeiten, eigene Verantwortungen. Dann irgendwann auch endlich mal fertig mit der Uni, und es gab den ersten Lohn im erlernten Beruf, auch wenn es nur ein Teilzeitjob war, noch dazu befristet … Endlichkeiten waren für mich meist etwas, wo ich ankommen konnte – vorläufig, bis es wieder weiterging. Biografische Wegmarken. Orientierungshilfen. Erfahrungen machen, Kräfte einschätzen, schlauer werden. Bei einigem, das begann, war es gut, dass es wieder endete. Anderes wurde zur angenehmen Erinnerung, wenn es vorbei war. Manches hätte gern weitergehen können, da stand die Endlichkeit nur dumm im Weg. Rückblickend aber hatte alles seinen Ort und seine Zeit. Meine Mutter sagte oft: »Wer weiß, wozu das noch gut sein wird …« und hatte dabei durchaus auch die ungewollten Endlichkeiten im Blick.

Denke ich an Endlichkeiten, dann sogleich auch an Unendlichkeiten. So wie ein Zaun ein Gelände begrenzt, und es dahinter mit Sicherheit weitergeht. Oder eine Frage nach einer Antwort verlangt und zugleich die nächste Frage mitliefert. Oder Menschen Kinder kriegen, die wiederum Kinder kriegen, die dann selbst auch wieder Kinder kriegen, wenn nichts dazwischenkommt. Endliches ist aufgehoben im Unendlichen, ohne Zweifel. Umgekehrt kommen die Vorstellungskräfte schon eher an ihre Grenzen, auch wenn wir noch so neugierig sind: Wo komme ich her, wo gehe ich hin? Was war vor mir, was kommt nach mir? Ist die letzte Antwort wirklich die letzte? Was steckt hinter einer Idee, einer Reaktion? Macht Liebeskummer Sinn und wie lange dauert der Shice? Es gibt keine Endlichkeit an sich, vielleicht nur einen kurzen Stopp, eine längere Unterbrechung, manchmal auch einen sehr langen Aufschub, jedoch immer nur ein selbst- oder fremdgesetztes Ende, kontextuell eingebettet in Überforderung, Langeweile, Ärger, Ermüdung oder Zeitmangel.

Bei kleinen Kindern ist die berühmt-berüchtigte Frage: »Und dann?« bekannt. Sie wollen wissen, was passiert und was danach und was auch dann noch. Es könnte ewig so weiter gehen, wenn nicht der strapazierte Nerv des Erwachsenen dem ein (temporäres) Ende setzt oder das Kind von selbst wieder da rauskommt, wo es mit seiner Frage angefangen hat. Ein Kreisfragen quasi, bei dem es nicht nur um die Antworten geht, sondern auch um das In-Kontakt-gehen und -bleiben mit dem Gegenüber, was ja ebenfalls einer Selbstvergewisserung gleichkommt. Endlich ist die Fragerei, aber unendlich der Kreis. Ein Spaziergang um einen See ist nichts anderes und nur zeitlich überschaubarer als eine Weltumrundung. Endlichkeiten im Unendlichen sind biografische Wegmarken, um sich in den eigenen Entwicklungen räumlich, zeitlich und seelisch verorten und Halt finden zu können.

Zeit und Vertrauen tief fühlen

(…)

Mann mit offenen Armen vor Sonnenaufgang

Text: Martin Verlinden
Foto: Peggy Anke, pexels.com
Schwerpunkt »Endlichkeiten«


Rucksack der Pflichten ablegen, einfach dran vorbeigehen.

Mich den Momenten hingeben, befreit von »unabdingbaren Wünschen und Hoffnungen«.

Momente öffnen in Freiheit. Verweilen, wo ich willkommen bin und jederzeit gehen kann!

Zeitlos wachsen und spüren, wie tief am Nichts alles möglich –
ohne Zerren um eigene und anderer Wünsche.

So knüpf‘ ich Ketten von »JA‘s« in die eigene Seele und entspanne. So lieb ich mit starkem »JA«, das sich mein Gegenüber nicht erst verdienen muss.

Ein unbedingtes »JA«: mutig, entledigt der Ansprüche, selbstbewusst und klar, unabhängig vom Auf und Ab steifer Lebensumstände.
Vertrauend auf alles, was ich bewirken und spüren kann.

Ein so umfassendes, tägliches »JA«, wortlos gegeben,
enthält auch Zeiten erfüllenden Alleinseins –
wissend, dass alles möglich bleibt und enden darf.

»Aufhören – ja, warum denn nicht?«

Eine Begegnung und ein Gespräch mit dem Fotografen Klaus Andrews über die Werkstatt seines Vaters, Hubschrauberflüge in der Arktis und warum sein Berufsleben nun für immer endet.

Mann mit Eselswagen vor alter Tankstelle

Text: Frank Keil
Foto: Klaus Andrews
Schwerpunkt »Endlichkeiten«


Ich lerne den Fotografen Klaus Andrews kennen, als ich im Stadtmuseum Schleswig seine Ausstellung besuche. Es geht um Tankstellen in Georgien.
Tankstellen in Georgien?
Er holt mich vom Bahnhof ab. Er trage eine blaue Jacke und stehe auf dem Parkplatz neben einem roten Auto, hatte er mir zuvor gemailt. Und nun steht neben einem roten Auto ein Mann in einer blauen Jacke. Wir fahren zum Museum, im Erdgeschoss (knarrender Holzfußboden, jeder Schritt ist zu hören) sind rundum seine Bilder gehängt.

Klaus Andrews stammt aus Norddeutschland, er hat in Hamburg vor vielen Jahrzehnten an der dortigen HfBK Visuelle Kommunikation studiert, und eine seiner ersten konzeptionellen Arbeiten, er ist damals im dritten Semester, war eine Foto-Serie über stillgelegte Tankstellen im Landkreis Pinneberg.
Ihm seien seinerzeit eines Tages die vielen Tankstellen aufgefallen, die nicht mehr in Betrieb waren und wie sie da verloren in der Landschaft gestanden hätten; er sei damals als junger Mann recht schüchtern gewesen, Leute anzusprechen und mit ihnen zu reden, nicht so sein Ding; da wären Tankstellen, noch dazu stillgelegte, verwaiste, genau das Richtige für ihn gewesen, passend, sozusagen, erzählt er mir während des Rundganges.
Und danach habe er immer wieder Tankstellen fotografiert, auf seinen vielen Reisen, etwa durch die USA, entlang der legendären Routen, die man aus Film und Literatur so gut zu kennen meine (Route 66 und Co). Und zuletzt ging es eben nach Georgien, dort gezielt und ausschließlich Tankstellen fotografieren: stillgelegte, aufgegebene und längst verlassene Tankstellen wie auch die, die unbeeindruckt in Betrieb seien; an die man fahre, um zu tanken, nachts weithin hell erleuchtet.

»Für mich schließt sich mit dieser Ausstellung ein Kreis«, sagt er.
Er sagt: »2600 Kilometer in zwei Wochen.« Und er zeigt auf eine Landkarte von Georgien, das von der Fläche etwa so groß ist wie Bayern.
Denn so viele Kilometer fahren sie (ihn begleitet die Übersetzerin Eto Jincharadse) mit einem Leihwagen kreuz und quer durchs Land; sie besuchen die Hauptstadt Tbilissi, fahren ans Schwarze Meer, reisen ins Grenzgebiet zu Aserbaidschan, zu den weitgehend versiegten Erdölquellen des Landes. Die so genannten abtrünnigen und vom Nachbarland Russland kontrollierten Provinzen Abchasien und Ossetien müssen sie auslassen.

Ich erfahre bei unserem Rundgang viel über die Geschichte Georgiens anhand seiner Tankstellen: dass zu Sowjetzeiten Tankstellen gebaut wurden, wenn immer Material vorhanden war, egal, ob man sie brauchte oder nicht; heute stehen viele von ihnen als zugewachsene Ruinen in der Landschaft herum. Dass mit der Unabhängigkeit des Landes 1991 ein regelrechter Tankstellenboom einsetzte; immer neuere Autos, die man sich vorher nicht leisten konnte, bevölkerten das Land und brauchten unentwegt Benzin. Korruption und Misswirtschaft wie auch Wirtschaftskrisen beendeten dann den Boom, von vormals 4.500 Tankstellen wurden 1.600 wieder geschlossen, heute sind die großen Tankstellenbetreiber in russischer Hand so wie auch die neue, zentrale Autobahn, die einmal quer durch das Land von Ost nach West führt, von chinesischen Investoren gebaut wird, womit China seinen auch politischen Einfluss auf Georgien erheblich ausbaut, während es besonders die junge Bevölkerung nach Europa drängt.

Mir gefallen seine Fotos; ihr schlichter, auf den Punkt gebrachter dokumentarischer Charakter ohne Kunstschnörkelei. Ich habe das alles nicht gewusst, was er mir erzählt, etwa über Tankstellenruinen als Treffpunkte für die Lkw-Trucker, die sich hier zu Konvois zusammenfinden, es wird geschätzt, dass jeden Tag bis zu 1.000 Lkws das Land durchqueren, auf dem Weg nach Russland, in die Türkei, nach Aserbaidschan und das mit ihm verfeindete Armenien; dass man an jeder noch so abgeschiedenen Tankstelle selbstverständlich mit der Bank- oder Kredit-Karte bezahlen kann, dass man aber selbst in der Hauptstadt sein Fahrzeug nicht selbst betanken kann, sondern das ein Tankwart erledigt, und wie er das visuell umgesetzt hat – das ist sehr gelungen.

Und zum Abschied sage ich etwas aufgekratzt: »Sie halten mich auf dem Laufenden, wenn Ihr nächstes Projekt spruchreif ist?«
»Es wird kein nächstes Projekt geben«, sagt er. Denn dies sei seine letzte Ausstellung gewesen, er höre auf zu fotografieren. Und zwar ganz und gar. Er sei jetzt Rentner.
Ich bin irritiert, er bemerkt das. »Aufhören – ja, warum denn nicht?«, sagt er freundlich und reicht mir die Hand.

Zum Gespräch und mehr Fotos.

Momente in Leichtfüßigkeit

Das Leben kann uns oft an unsere Grenzen führen und unsere Endlichkeit demonstrieren. Wenn wir dem Anspruch auf ewig Beständiges und dem Wunsch nach vertrauter Gleichförmigkeit widerstehen, schreckt uns die Endlichkeit von Momenten, Etappen oder Lebensphasen weniger.

Text: Martin Verlinden
Foto: Alexander Bentheim
Schwerpunkt »Endlichkeiten«


Hunger verzerrt deinen sichernden Geschmack.
Fassade weckt statt Verstehen nur kurzen Appetit.
Suchen überlagert genügsames Glück.

Nicht-Müssen gebärt moralische Freiheit. Den zarten Moment des flüchtigen Zufalls gewähren lassen, lockt zum Glücklichsein mit leichtem Nichts.

Begriffe verschleiern dein klares Erleben.
Anziehung geht Worten voraus – tief in uns und leis.
Abscheu bannt kein wohlgeformter Satz.

Worte verführen schnell den, der wankt.

Verstehen kann nur, wer Stille in sich wachsen lässt.
Sätze sind Schatten, verfliegen wie Nebel vor der Sonne in uns.

Momente des flüchtigen Zufalls gewähren lassen, lockt zum Glücklichsein mit leichtem Nichts und mit ihrem Enden.

Endlichkeit, 5

(…)

leeres Zimmer mit Bett und Stuhl

Text: Ralf Ruhl
Foto: Wendelin Jacober, pexels.com
Schwerpunkt »Endlichkeiten«


Eine Schicht Zeit
Noch unverklärt
Auf den Regalen und
Dem Ohrensessel

Die Zimmer nur Zimmer
Unnötig, auf Befehle
Und Erwartungen zu horchen

Der Rasenmäher arbeitet
Mulch auf, freiwillig,
legt zwischen Frühlingsblumen
eine Schicht Zeit

Endlichkeit, 4

(…)

gebundene Briefe und ein Foto

Text: Ralf Ruhl
Foto: Suzy Hazelwood, pexels.com
Schwerpunkt »Endlichkeiten«


Sterbeurkunde Vater
Sterbeurkunde Mutter
Heiratsurkunde Eltern
Geburtsurkunde Tochter
Geburtsurkunde Sohn
Scheidungsurkunde
Testament
Eröffnungsprotokoll des Nachlassgerichts
Vollmacht Vermögenssorge
Erbschaftssteuer
Grundbuchauszug
Erbschein
Rechnung

Endlichkeit, 3

(…)

alter Mann in Sonne und Schatten sitzt sich auf

Text: Ralf Ruhl
Foto: gregor, photocase.de
Schwerpunkt »Endlichkeiten«


Nur noch Ruhe
Lauschen auf das Zittern
Der rissig kühlen Hand
Die Welle, stockend
Und wässrig durch die Lunge

Ein Blick ohne zu sehen
Ein Blick ohne Hadern

Und der lange Ton
Der silbergrauen Maschine

Werner und die Angst vor dem Tod

»Sehen Sie, man könnte der ganzen Sterblichkeit doch auch mit Humor begegnen. Warum sollen wir uns über etwas ängstigen, das unvermeidlich alle betrifft?«

Mann in einer Telefonzelle

Text: Christoph Rommel
Foto: himberry, photocase.de
Schwerpunkt »Endlichkeiten«


Werner wachte mit einem komischen Gefühl auf, obwohl er am Vorabend keinen Tropfen Alkohol getrunken hatte.
Er machte sich Kaffee und aß ein Joghurt. Dann eine Banane und einen Apfel. Er ging aufs Klo, machte seine Gymnastik gegen Rückenschmerzen und duschte. Erst heiß, dann kalt.
Er saß eine Weile in seiner Wohnung herum. Las in der Zeitung vom Vortag. Aber das alles brachte ihn nicht in die Spur. Das komische Gefühl war immer noch da, aber es hatte eine Gestalt angenommen. War es erst nur nebulös in ihm herumgewabert, so wurde es zunehmend konkreter. Es hatte mit seinem Leben zu tun. Oder mit dem menschlichen Leben ganz allgemein? Nein, es bezog sich auf ihn persönlich, ihn – Werner.

»Das Leben ist endlich«, hörte er sich sagen. Oder sprach jemand anders zu ihm? »Ausgeschlossen, das sind meine persönlichen Gedanken«, stellte Werner trotzig fest. Rein innerlich und zu sich selbst gesprochen natürlich. Er musste sich aus dem Sessel erheben, musste ans Fenster gehen, den blauen Himmel sehen, der aber leider grau war.

Werner begriff, dass er Angst hatte. Tierische Angst. Aber hatten Tiere überhaupt Angst? Das »Tierische« sollte wohl eine besondere Heftigkeit der Angst hervorheben. »Menschliche Angst« hingegen sagte kein Mensch. Vielleicht war die tierische Angst die Angst, die die Tiere vor den Menschen hatten? Werner schwirrte etwas der Kopf. Dieses Nachdenken führte zu nichts.
Er musste das Fenster öffnen und tief Luft holen. Der Bus brauste durch die Straße und wirbelte Straßenschmutz und Dieselfeinstaub zu ihm herauf. Keine Hoffnung.

Natürlich, das Leben ist endlich. Das Leben, jedes Leben, geht zu Ende. Das war selbstverständlich auch Werner nicht entgangen. Er war ja nicht weltfremd. Aber jetzt bohrte sich diese Einsicht in ihn persönlich hinein. Er selbst, Werner, würde mit Gewissheit sterben müssen. Wahrscheinlich hatte das lange in Werner gearbeitet. Unbewusst, aber doch sehr effektiv. Man könnte sagen: nachhaltig. Jetzt war es herausgebrochen und ans Tageslicht getreten.

Darum war Werner mit seinen Gedanken auch noch lange nicht fertig. Die Evolution hat uns verkehrt ausgestattet, dachte Werner vorwurfsvoll. Angst vor dem Tod ist zu nichts nütze. Wenn wir uns die Tiere anschauen, da will jedes Tier leben. Ist es in Lebensgefahr, läuft es davon oder es kämpft. Aber kein Zebra sitzt depressiv grübelnd in der Savanne herum, weil es vielleicht mal von einem Löwen gefressen werden könnte. Ein altes, schwaches Tier legt sich zum Sterben nieder und stirbt. Ohne Philosophie, ohne Religion.

Werner hoffte, auf dem richtigen Weg zu sein mit seinen Ideen. Das menschliche Denken, Forschung und Wissenschaft kreisen anders als in der Tierwelt immer nur um die Frage: wie kann ich besser und länger leben? Warum lebe ich überhaupt? Das Ergebnis ist eine Zivilisation mit den sattsam bekannten Zivilisationskrankheiten.

Meine Fresse, dachte Werner, das haben natürlich schon andere Großdenker festgestellt.
Ich komme auf die Schnelle auch zu keiner neuen und einleuchtenden Lösung! Muss man auch nicht, denn … es ist alles schon einmal gedacht worden. Du kannst grübeln und lesen, wieder grübeln und nochmals lesen und so weiter. Vielleicht bist du irgendwann grübelmüde und denkst: Es ist, wie es ist, lass gut sein. Aus solch einer philosophischen Erschlaffung heraus ergibst du dich in dein Schicksal. Vielleicht kommst du nach der ganzen Gehirnakrobatik zu dem Schluss, es wird schon alles irgendwie seinen Sinn haben. Und wenn nicht, dann eben nicht.
Das war ganz gut gedacht von Werner, aber mental war er einfach noch nicht so weit, so gelassen, so abgehangen, so wurschtig.
»Der Moment wird kommen, und wenn er da ist, wirst du staunen, wie schnell es soweit ist, Werner.« Nun, Selbstgespräche waren keine Lösung. Eher im Gegenteil. Selbstmitleid ja wohl auch nicht. Vielleicht sollte er sich von jemand anderem bemitleiden lassen. Fragte sich nur, wer zu solch selbstlosem Tun bereit wäre.

Er ging in die Küche, wo auf der Ablage eine Flasche Whisky stand. Also Selbstbetäubung! Er merkte, dass er die Flasche eine ganze Weile angestarrt hatte. Sein letzter Rausch war schon lange her. Er schüttelte den Kopf. Alkohol war keine Lösung. Aber eine Erlösung.
Werner war wie gefangen in dem Gedanken, dass der Tod die einzige große Gewissheit in seinem Leben sein sollte und diese Gewissheit ihn langsam aber sicher lähmen würde. Alles, was noch kam, hatte keinen Sinn mehr.
Oben auf dem Altpapierstapel lag ein Prospekt, eine Flugschrift, die Werner von einem jungen Mann auf dem Wochenmarkt angenommen hatte. Der war so freundlich, höflich und zurückhaltend gewesen, dass Werner ihm zuliebe das Papier angenommen, aber keinen Blick darauf geworfen hatte. Werner nahm das Blatt in die Hand.

»Die Bibel hilft auch dir«, stand groß und breit darauf. »Die Bibel ist aber zu dick«, sagte Werner vor sich hin.

Er hatte ja schon versucht, Proust und Joyce zu lesen, hatte aber nach jeweils zweihundert Seiten aufgegeben. Gescheitert, aus dem Kelch der großen Literatur zu trinken und Wohlgefallen zu empfangen. Bei Werner hatte sich nur eine große Langeweile eingestellt. Was heißt nur. Zweihundert Seiten lang keine Antwort auf die Frage zu finden, warum Proust und Joyce die Großschriftsteller des 20. Jahrhunderts seien, war eine harte Prüfung gewesen. Und Werner hatte sie nicht bestanden. War durchgefallen. Hatte versagt.
An diesen peinigenden Gedanken schlossen sich zu Werners Leidwesen einige Fragen an: Habe ich meine Lebenszeit genutzt oder habe ich sie vertan, vertrödelt? Was habe ich im Laufe meines Lebens verpasst und was kann ich jetzt noch erreichen?

Werner wollte – vor allem jetzt, da er unter einem gewissen Stress stand – all diese schweren Fragen zügig beantworten, wenn sie denn überhaupt zu beantworten waren.

Was heißt denn: die Lebenszeit nutzen? Welche Dinge konnte, nein, wollte oder musste er noch erreichen, was war denn wichtig? Überhaupt: wer verlangte denn irgendetwas von ihm?
Genauso die Frage, was er verpasst hatte. Die Besteigung des Mount Everest, Sex mit der jungen Brigitte Bardot, die Verleihung des Nobelpreises … Werner musste meckernd lachen, so absurd waren die Gedanken und unsinnig, ja lebensfremd und lebensfeindlich zugleich.

»Rufen Sie uns einfach an«, stand auf dem Flugblatt, das Werner immer noch in der Hand hielt. Einen wildfremden Menschen anrufen, um diese Zeit? Es war noch nicht einmal Mittag.
Telefonseelsorge kam es ihm urplötzlich in den Sinn. Dort kannte er natürlich auch niemanden. Aber der Begriff der Telefonseelsorge war ihm doch irgendwie bekannt. Das stellte er sich professionell und vielleicht auch neutral vor. Das Flugblatt hatte dagegen so einen missionarischen Anstrich. Nachher hatte er noch den Herrn vom Wochenmarkt am Apparat. Dem müsste er dann erklären, warum sein Flugblatt ungelesen beim Altpapier gelandet war.

Werner staunte über die Absurdität dieses Gedankens, und seine Stimmung wurde nicht besser.
Im Regal lag eine altes, zerfleddertes Telefonbuch. Wurde so etwas heute überhaupt noch gedruckt?
Werner blätterte.

Seelsorge – wohl auch eine kirchliche Sache, dachte er. Sorge um die Seele. Sorge allein war aber auch nicht wirklich gut, Sorgen hatte er ja schon reichlich. Seelenhilfe wäre besser, zielführender. Er musste an die vielen Psychologen denken, an seine eigene Psychotherapie.

Innerlich wechselte er ruckartig das Thema: zurück zur Seelsorge. War vielleicht besser als gar nichts. Er brauchte jetzt dringend Hilfe. Oder war es Mitgefühl, Mitleid und Trost? Schnell die Nummer wählen, die im Telefonbuch stand.

»Hier ist die Telefonseelsorge …«, ertönte eine angenehme Frauenstimme.
Werner legte los. »Guten Tag, ich habe folgendes Problem«, begann er, musste dann aber feststellen, dass die angenehme Frauenstimme ungerührt weitersprach: »… bei welchem Anliegen können wir Ihnen weiterhelfen? Bei Partnerschafts- und Familienproblemen wählen Sie die 1. Haben Sie finanzielle oder berufliche Sorgen, dann bitte die 2. Für gesundheitliche und psychische Angelegenheiten die 3. Für alle anderen Themen werden Sie mit einer der Seelsorger*innen verbunden, sobald ein Platz frei ist.«

Im Hörer ertönten Töne. Vielleicht eine Art Musik, sagte sich Werner. Er kam sich vor wie im Fahrstuhl. Ob Fahrstuhlmusik aufwärts eine andere war als abwärts? Sinnvoll wäre es ja, technisch machbar sicher auch. Wahrscheinlich scheiterte so etwas an den Kosten.
»Die Telefonseelsorge, wie kann ich Ihnen helfen?« Ah, da war nun jemand, ein Mann, wohl nicht mehr so ganz jung. Werner musste gedanklich schnell aus dem Fahrstuhl heraus und möglichst intelligent in sein Problem hinein.
»Ja, ich brauche Hilfe«, begann er. »Ich bin ratlos. Nein, ich habe Angst, vielleicht manchmal sogar Panik. Der Gedanke an den Tod macht mich regelrecht verrückt.« So, das war jetzt mal raus.
»Sind Sie krank?«, fragte der Seelsorger.
»Wie meinen Sie das?«
»Sind Sie verängstigt, weil sie eine schwere Krankheit haben?« Die Männerstimme klang ruhig und sogar ein wenig mitfühlend. Das tat Werner gut.
»Nein. Meine letzte Routineuntersuchung war ganz okay. Kein Befund und die Werte sind so weit in Ordnung.«
»Das hört sich schon mal gut an. Seit wann haben Sie denn diese Angst?«
»Ganz ruckartig heute Morgen. Unerwartet und daher auch so verwirrend, oder besser gesagt: verunsichernd. Es ist so ein Gefühl des Ausgeliefert-Seins, der völligen Machtlosigkeit. So, als wenn jetzt mein ganzes Leben keinen Sinn mehr hätte. Wird so oder so alles im Sarg enden.«

Werner musste Luft holen. Er wusste nicht, ob er sich hatte verständlich machen können. Er wusste noch nicht einmal, ob er wirklich das gesagt hatte, was ihn so verstörte. So verstört war er.
»Dann möchte ich Sie etwas fragen. Glauben Sie, dass Sie der einzige Mensch sind, der solche Gefühle hat?«
Werner musste nicht überlegen. »Die meisten Menschen scheinen mit ganz anderen Dingen beschäftigt zu sein. Zeugen Kinder, bauen Häuser, machen Karriere, häufen aberwitzig viel Geld an. Aber wozu? Ist doch alles Illusion. Das letzte Hemd hat keine Taschen. Nicht einmal die Erinnerung bleibt. Die Enkel der Enkel werden von uns nichts mehr wissen. Es sei denn, man hat sich als Massenmörder oder Religionsstifter irgendwie verewigt.«
»Sie haben recht. Von den meisten Menschen früherer Zeiten wissen wir nicht einmal, dass sie überhaupt gelebt haben.«
»Sehen Sie«, warf Werner ein, »die Pyramiden von Gizeh wurden gebaut, damit Cheops den Menschen in Erinnerung bleibt. Was für ein Aufwand. Ich hätte dafür kein Geld. Vielleicht eine Pyramidenbaugenossenschaft? Ach, Unsinn.«
Der Herr am anderen Ende der Leitung sagte: »Sehen Sie, man könnte der ganzen Sterblichkeit doch auch mit Humor begegnen. Warum sollen wir uns über etwas ängstigen, das unvermeidlich alle betrifft?«
In Werners Hörer knackte und knisterte es laut und deutlich. Von seinem Gesprächspartner war nichts mehr zu hören.
Werner wählte die Nummer noch einmal. Das Besetztzeichen ertönte.

Der Tag verging mit dem Wechsel von Stimmungen und Gefühlen, Lesen und Fernsehen, einem kleinen Spaziergang und dem notwendigen Einkauf von Lebensmitteln.
Werner war froh, wenn ihn die Gefühle, die ihn am Morgen bedrängt und ihn das Telefongespräch hatten führen lassen, jetzt etwas in Ruhe ließen. Er merkte aber, dass sie nicht ruhten, nur rasteten.
Werner ging bald zu Bett und war rasch eingeschlafen. Fernsehen war als Ablenkung und Abtötung von misslichen Empfindungen nur sehr bedingt tauglich. Es gab in diesem Medium mit gefühlt tausenden von Kanälen überhaupt nichts zu entdecken, was in irgendeiner Weise interessant oder wenigstens witzig gewesen wäre. Er war ja schon bereit, seine Schwelle zur Belustigung auf das niedrigst mögliche Niveau abzusenken. Aber, Fehlanzeige. Was witzig sein sollte, war es einfach nicht.

Das Telefon läutete, Werner hatte tief geschlafen. So tief, dass ihm etwas schwindelig war, als er sich in den Wachzustand hinüberquälte.
Er meldete sich und hörte die männliche Stimme vom Vormittag sagen: »Hier ist noch einmal Ihre Telefonseelsorge. Unser interessantes Gespräch wurde unterbrochen und da ich jetzt eine Pause mache, dachte ich, wir könnten uns noch ein wenig unterhalten. Passt Ihnen das?«
Werner sah auf die Uhr. Es war kurz vor drei. Der Mann hatte jetzt eine Pause? Was waren das für Arbeitszeiten? Ach, was ging ihn das an. Inzwischen war er klarer im Kopf und sagte: »Sie hatten
vom Humor gesprochen, mit dem man der unvermeidlichen Sterblichkeit begegnen sollte.«
Der am anderen Ende lachte. »Wie sonst? Alle Menschen wollen glücklich sein, warum sind sie es aber nicht?«
»Das ist mir zu viel Philosophie mitten in der Nacht. Die guten Ideen entstehen doch in ausgeruhten Köpfen, wenn ich nicht irre.«
Aber der andere ließ nicht locker: »Der gute Gedanke kann sich zu jeder Tages- und erst recht zu jeder Nachtzeit einstellen. Nehmen sie sich selbst nicht so wichtig, das ist mein erster Tipp für den Umgang mit Ihren Ängsten. Diese Ängste hat jeder, mehr oder weniger.«
Werner wurde etwas wütend, soweit seine Müdigkeit dies zuließ. »Es geht aber um mich ganz persönlich und allein. Wenn ich tot bin, gibt es mich nicht mehr. Dieser Gedanke, nicht mehr da zu sein, den habe doch nur ich.«
»Das meine ich eben. Wie fast alle Menschen sind Sie zu sehr in ihr Bewusstsein verliebt. Von einer großen Liebe verabschiedet sich niemand gerne. Nun ja, über den Verlust einer geliebten Frau kann man sich fast eine Ewigkeit grämen. Aber über den Verlust Ihres Bewusstseins werden Sie mit Sicherheit keinen Gedanken verschwenden, wenn es dann verschwunden ist.«

Es knackte in der Leitung. Ein unangenehmer Pfeifton schwoll an. Werner drückte auf den Knopf, mit dem man das Gespräch beendete. Ihm fiel ein, dass es früher immer geheißen hatte, man legte auf, wenn das Gespräch beendet wurde. Aber das war nur noch ein dummer Spruch. Die Sprache hinkte der rasanten technischen Entwicklung hoffnungslos hinterher.
Müdigkeit übermannte Werner und er schlief ein, bevor er darüber nachdenken konnte, warum es »übermannen« hieß.

Werner hatte ziemlich lange geschlafen. Er schlief in der Regel gerne lange, weil er eben glaubte, die guten Gedanken entstünden nur in ausgeruhten Köpfen. Wenn das nicht stimmte, war es immerhin ein angenehmer Irrglaube.
Ihm fiel das nächtliche Telefonat wieder ein. Das Telefon lag immer noch auf dem Fußboden neben seinem Bett. Der kleine Tisch, der ihm als eine Art Nachttisch diente, war hoffnungslos mit Büchern überbelegt.
Er schaute auf die Anrufliste seines Telefons und wählte die Nummer, die dort als letzte stand. Kein Ton. Dann eine freundliche Stimme, die ihm sagte, dass die gewählte Nummer nicht vergeben sei.
»So musste es ja kommen«, brummte Werner. »Ich hab das ja nicht geträumt«, rechtfertigte er sich vor sich selbst.

Aber er wollte nicht so schnell aufgeben. Er wählte die Nummer der Telefonseelsorge aus der Liste der gewählten Nummern. Der bekannte Sermon begann und endete, die musikähnlichen Geräusche erklangen. Nach einer Weile stellte sich eine weiche Frauenstimme als Frau Maria Helferich vor und fragte, wie sie Werner helfen könnte.
»Also, ich habe Sie gestern schon einmal angerufen, nicht Sie, sondern einen Kollegen von Ihnen«, sprudelte Werner los. »Das ganz seltsame und eigentlich Unglaubliche war dann, dass der Mann in der Nacht dann mich angerufen hat. Mich. Um kurz vor Drei. Macht man das bei Ihnen öfter. Naja, ich wollte mich nicht wirklich beschweren, obwohl die Zeit doch ein bisschen … ich würde nur gerne zu einer anderen Tageszeit das Gespräch fortsetzen, weil die Leitung plötzlich unterbrochen war.«
Werner war außer Atem geraten. Die freundliche Dame schwieg und sagte dann: »Wie hieß der Kollege denn?«
»Das hat er nicht gesagt.«
»Sehr ungewöhnlich. Alle Mitarbeiter stellen sich mit vollem Namen vor. Sind Sie sicher, dass Sie mit unserer Einrichtung verbunden waren?«
»Ganz sicher«, betonte Werner, wie um sich selbst zu überzeugen, »Ich habe Sie doch jetzt mit der Wahlwiederholung erreicht.«
Einen Moment herrschte Schweigen von beiden Seiten.
Dann sagte die Frau: »Ich kann mir das jetzt nicht erklären. Auf der Liste der gestern eingegangenen Anrufe steht Ihre Nummer …«
»Können Sie nicht feststellen, von welchem Apparat mein Anruf angenommen wurde«, platzte Werner dazwischen. Er war ungeduldig und ratlos.
»Das würde ich gerne, aber so ausgetüftelt ist die Technik bei uns nicht. Ist ja auch eine Kostenfrage. Wir müssen ein wenig auf´s Geld schauen.«
Wieder trat eine Gesprächspause ein.
»Kann ich Ihnen mit Ihrem Problem denn weiterhelfen. Was hatten Sie denn besprochen?«
»Ja … äh. Nein. Die Gespräche waren ganz interessant. Ich rufe an, weil ich weiter mit dem Herrn sprechen möchte.«
»Ich fürchte, da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Mir fällt nur noch ein, dass wir hier häufig Praktikanten haben, Leute, die mal probieren wollen, ob ihnen diese ehrenamtliche Tätigkeit als Telefonseelsorger*in liegt. Der Kollege, der sich darum kümmert, hat sich heute krankgemeldet. Ich kann und möchte seine Unterlagen jetzt nicht durchstöbern. Das wäre ihm sicher nicht recht.«
Es trat eine weitere Pause ein.
Dann fuhr Frau Helferich fort: »Sie können sich gerne wieder an uns wenden. Ich wünsche Ihnen alles Gute.«
Damit war das Gespräch beendet.

Es überraschte Werner nicht im Geringsten, dass in der folgenden Nacht kurz vor Drei das Telefon klingelte.
Es war der Herr der Seelsorge, der sich diesmal mit Namen vorstellte: »Guten Morgen, Werner«, meldete er sich gut gelaunt. Hier ist Aitz, Jens Aitz. Ich hoffe, ich bin nicht ganz ungelegen.«
Werner war wie stets, wenn er aus dem Tiefschlaf geweckt wurde, wie betäubt. Aber, wenn er ehrlich zu sich selbst war, so hatte er mit dem Anruf gerechnet und eigentlich war er ganz froh darüber. Immerhin hatte er einen Gesprächspartner für seine Probleme, die ihn beunruhigten.

»Na, dann bin ich mal gespannt, Herr Aitz. Schießen Sie los.« Werner hatte sich das Kissen in den Nacken geschoben.
»Wollen wir uns nicht duzen, Werner. Unsere Gespräche sind doch sehr persönlich und werden vielleicht noch persönlicher. Solche sprachlichen Barrieren erschweren die Kommunikation.«
»Na gut, Jens«, stimmte Werner ihm zu.
»Hast du schon mal daran gedacht, dir deine Ängste abkaufen zu lassen, Werner?«
Der Angesprochene war sprachlos. »Wer will denn so was haben? Und dann noch dafür bezahlen?«
»Denk nicht nur an Geld, Werner. Es gibt auch einen Handel mit anderen Werten.«
»Das verstehe, wer will.« Der so Angesprochene schüttelte sich und die Bettdecke zurecht, denn es war nicht gemütlich warm im Zimmer.
»Das ist ein ganz einfacher Deal. Du wählst eine der großen – oder meinetwegen kleinen –Weltreligionen und erarbeitest dir einen festen Glauben an den Sinn von Leben und Tod.«

Werner war etwas irritiert. »Wo ist da der Deal? Religionen bieten Lebenssinn an wie sauer Bier?«
Im Telefon war ein ironisches Lachen zu hören. »Der Preis ist doch recht hoch, wenn du nicht gläubig bist. Du musst alle deine kritischen Fragen, dein bohrendes Nachforschen, deine ewigen Zweifel aufgeben und dich der Gewissheit des unverrückbaren Glaubens überantworten. Wenn dir dieses Kunststück gelingt – und es ist sehr, sehr schwer – dann bist du auf der sicheren Seite. Dann hast du das Rundum-sorglos-Paket mit Ewigkeitsgarantie. Möglich ist das schon, dafür gibt es historische Beispiele. Schau dir mal …«

Natürlich, wie hätte es auch anders sein können, in diesem Moment war das nervige Geräusch wieder im Hörer. Werner ließ das Telefon sinken und blieb eine Weile versonnen liegen. Er hörte wie von Ferne ein Zischeln, Knistern und Säuseln aus der Leitung, dann beendete er das Gespräch und schlief ein.

Am nächsten Tag rief Werner bei der Telefonseelsorge an. Er hatte ja nun einen Namen. Es meldete sich die Dame, mit der er am Vortag gesprochen hatte. Er fragte nach Jens Aitz. Die Dame schwieg einen Moment. Dann sagte sie: »Ich darf Ihnen, wie gesagt, über Mitarbeiter und Praktikanten keine Auskünfte geben. Und der Kollege, der sich um diese Angelegenheiten kümmert, ist leider ganz plötzlich verstorben.« Sie schluckte einige Male.
»Das tut mir sehr leid«, sagte Werner. Etwas Besseres fiel ihm nicht ein.

Zur schon gewohnten Nachtstunde klingelte bei Werner das Telefon. Ohne Begrüßung legte er sofort los: »Hör mal, was ist da los bei der Telefonseelsorge? Was hast du damit zu tun. Ich habe heute gehört, dass ein Mitarbeiter plötzlich gestorben ist.«
»Ja, so was passiert. Wir beide reden ja seit einiger Zeit darüber. Ich selbst bin organisatorisch nicht sehr eng mit der Telefonseelsorge verbunden, aber eben irgendwie doch. Lassen wir es dabei. Das muss reichen.«

Eine Weile herrschte Stille. Dann begann Jens Aitz wieder zu sprechen: »Du hattest nach Gewissheiten gefragt, mein Lieber. Ich kann dir schon mal eine verraten. Demokratie, und zwar in Vollendung.«
»Was soll das nun wieder heißen«, fragte Werner unwillig.
»Tja, der Tod ist der große Demokratisierer, der Gleichmacher, auch ein Befreier. Tote haben keinen Hunger, zahlen keine Steuern, werden nicht krank, begehen keine Straftaten und werden auch niemals verurteilt. Ist doch genau das, was so ein 68er wie du sich erträumt haben dürfte. Demokratie funktioniert, Demokratie ist möglich.«

Werner wurde wütend. »Kann ja wohl nicht dein Ernst sein. Du nimmst mich auf den Arm. Jeder Mensch hat das Recht auf ein gutes Leben. Alle politischen Forderungen, die wir aus guten Gründen gestellt haben, sollten durch den Tod gelöst sein? Die Frage lautet: Gibt es ein Leben vor dem Tode?«
Jens Aitz lachte verhalten. »Ich möchte dich nicht auf den Arm nehmen, Werner. Aber sei mal ehrlich. Hunger, Krankheiten, Krieg habt ihr seit 1968 nicht abgeschafft. Gute Bildung für alle Menschen? Davon sind wir noch weit entfernt. Dann haben wir inzwischen auch noch die Klimakrise, die Umweltverschmutzung, Ressourcenverknappung …«
»Danke, danke, danke«, Werner war gegen seine Absicht laut geworden. »Soll ich jetzt die Hände in den Schoß legen? Bis an mein Lebensende werde ich für alle diese Ziele, gegen alle diese Missstände kämpfen.«
»Sollst du ja auch, sollst du.« Jens Aitz bemühte sich um einen begütigenden Tonfall. »Ich will dir das alles nicht ausreden. Weitermachen. Vielleicht nützt es etwas, vielleicht auch nicht. Jedenfalls kommst du auf andere Gedanken und lässt das Grübeln.«

Werner war still geworden. Nicht aus Müdigkeit. Im Gegenteil, er kam sich hellwach vor. Das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, war von Werner gewichen. Er fühlte fast so etwas wie Trost. Fast. Es war wohl noch ein mehr oder weniger langer Weg bis dorthin.

Jens Aitz hatte eine Weile geschwiegen. Dann fuhr fort: »Es gibt nur wenige Dinge, die ich mit meinem Verstand für eindeutig klar und offenbar richtig halte. Vielleicht helfen sie dir altlinkem Gewissheitssucher. Erstens: Du suchst den Sinn des Lebens? Ganz einfach. Er besteht darin, zu leben. Nicht mehr und nicht weniger. Leben lebt, Leben will und soll leben. Das zu verstehen und danach zu leben, ist schon schwierig genug. Und Zweitens: Es gibt die Tatsache, dass jeder Mensch gelebt hat. Das klingt banal, scheint mir aber eine der ganz wenigen, wenn nicht die einzige unumstößliche Gewissheit zu sein, die wir haben. Das ganze Rätsel des Universums, des Lebens und des Todes – du warst dabei. Reicht dir das?«

Das musste Werner erst mal verdauen, besser gesagt verstehen und begreifen. War das wirklich eine Sache des Verstandes oder doch viel mehr eine des Gefühls?

Nun, es war unmöglich, Antworten auf manche Fragen zu geben. Entweder gab es die Antwort einfach nicht. Oder die Frage war falsch gestellt. Werner erinnerte sich an einen Lehrer aus seiner Schulzeit, der immer gesagt hatte, dass es keine dummen Fragen gäbe, nur dumme Antworten. Das war für die Schule wohl richtig. Aber galt es auch für das Leben? Und für den Tod?

Aus dem Telefon ertönte ein leiser Summton. Gar nicht mal unangenehm. War Werner wach oder schlief er schon? Wo war er und wo war die Angst?

»Love me gender«

Eine persönliche Momentaufnahme

junger Mann mit Gitarre

Text: Marc Melcher
Foto: Pavel Danilyuk, pexels.com
Schwerpunkt »Endlichkeiten«


Diesen Song habe ich während meiner Weiterbildung zum Genderpädagogen beim Bayrischen Jugendring in Gauting 2007 geschrieben. Zwischen intensiven Gesprächen, Perspektivwechseln und kollektiven Aha-Momenten entstand der Text – wie ein Echo auf das, was da zwischen uns in der Gruppe passierte. Ich habe mich erinnert: an das Ringen um Begriffe, an das Loslassen alter Muster, an das Wachsen in Vielfalt.
Damals lief viel Blumfeld in meinen Kopfhörern – die »Hamburger Schule« hat meinen Blick auf‘s Schreiben und Fühlen geprägt. Diese Mischung aus poetischer Klarheit und emotionaler Wucht hat mich inspiriert, mich selbst in Sprache aufzulösen.
Jetzt, Jahre später, fühlt es sich richtig an, diesen Text zu teilen. Vielleicht, weil das Thema aktueller ist denn je. Vielleicht, weil ich heute klarer sehe, was damals schon angelegt war: ein Song zwischen Denken und Fühlen, zwischen Konstruktion und Sehnsucht. – Hier ist er:

[#1]
Teil eines Ganzen
dazu verdammt, dich zu lösen
von Ideologien & Verstand
von Mustern & Rollen
von der Realität ins Niemandsland

[Refrain]
Love me gender, hier und jetzt
immer wieder
ins Unendliche vernetzt

[#2]
den Sinn der Vielfalt zu verstehen
das Ganze zu begreifen
ohne Ende zu sehen

[Refrain]
Love me gender, hier und jetzt
immer wieder
ins Unendliche vernetzt

[Bridge]
die Komplexität des Wahnsinns trifft mich wie ein Pfeil
am Ende zieht gar nichts – nur jemand schreit
die Geschlechter vereint und trotzdem verloren
wie es scheint

[Refrain / Outro]
Love me gender, hier und jetzt
immer wieder
ins Unendliche vernetzt
Love me gender…
immer wieder…
ins Unendliche vernetzt…