Eine Liebesgeschichte

Sich kennen lernen, sogleich verlieben und schon überlegen, den Alltag gemeinsam zu teilen – warum nicht? Nur kommen da zwei Menschen zusammen, die auch je ihr eigenes Leben mitbringen …

zwei Menschen auf einer Wiese

Text: Frank Keil
Foto: n_toy, photocase.de

 
Männerbuch der Woche, 36te KW. – Viktor Funk erzählt in »Bienenstich« gekonnt von den Irrungen, Wirrungen und immer auch tiefen Sehnsüchten von nach Deutschland eingewanderten Menschen, die sich finden und auch wieder nicht.

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Hinter dem Praterstern

Immer geht es weiter, es passiert das nächste und das nächste … Doch was ist mit denen, die nicht können oder wollen, dass das Tempo immer wieder immer weiter anzieht?

Männer in einem Wiener Caféhaus

Text: Frank Keil
Foto: martinsombrero, photocase.de

 
Männerbuch der Woche, 34te KW. – Robert Seethaler bietet mit »Das Café ohne Namen« eine das Heute berührende Zeitreise ins Wien der 1960er-70er-Jahre.

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Oh no »Oh Boy«

Der Berliner Kanon Verlag zieht seine vielgelobte Anthologie »Oh Boy« zurück – auch hier, an diesem Ort, sehr positiv besprochen. Das will erklärt und zuvor beschrieben werden.

Mann mit Stift auf der Nase

Text: Frank Keil
Foto: obeyleesin, photocase.de (Symbolbild)

 
Potzblitz – wie konnte das passieren?! Da erscheint ein Buch zum Thema heutiger Männlichkeit*en und es wird in den Feuilletons dieser Republik sehr anerkennend besprochen und durchweg sehr gelobt; auch hier auf dieser Plattform. Und nun wird es nicht mehr ausgeliefert, der Verlag zieht es zurück. Alle begleitenden Lesungen sind zudem abgesagt. Die Aufregung nicht nur in den Sozialen Medien ist groß.

Es geht dabei ausdrücklich um einen einzelnen Text, nämlich um »Ein glücklicher Mensch« von Valentin Moritz, einem der beiden Herausgeber. Darin umschreibt er einen sexuellen Übergriff gegenüber einer Frau, den er begangen hat. Ziel des Textes sei es, so erfährt man es in dessen zweiten Teil, sich zu bekennen und das Bekennen zu beschreiben, um so zu reflektieren, um so zu lernen, damit es nicht wieder geschieht. Ihm, dem Autoren nicht und anderen Männern auch nicht. Das ist die quasi literaturpädagogische Aufgabe, die sich Moritz gestellt hat.

Nur gibt es da noch etwas Anderes. Die Frau nämlich, die diesen Übergriff erleben und erleiden musste. Und sie – eine reale Frau, natürlich – hat den Autoren zuvor klar aufgefordert, über das Geschehene nicht zu schreiben. Er solle – sozusagen – das Geschehene nicht noch einmal schreiberisch wiederholen; er solle es nicht verdoppeln, er, der schreibende Täter, sich nicht erneut inszenieren, auf dass sie als das beschriebene Opfer zurückbleibt.

Der Autor hat der Bitte dieser Frau, die anonym bleiben möchte und von der paradoxerweise im Fortlauf der Berichterstattung immer mehr bekannt wird, nicht entsprochen. Er hat den Text geschrieben. Und jetzt bewegen wir uns außerhalb des Textes: er hat die Zusammenhänge gegenüber seinem Verlag offengelegt, vor der Drucklegung, wie man so sagt. Er hat sie nicht verschwiegen. Nach Auskunft des Verlages lag zunächst folgende Option auf dem Tisch: Moritz zieht sich von dem Buchprojekt insgesamt zurück. Der Verlag entschied anders. Und der Autor folgte.
Nun gibt sich der Verlag reumütig, ein großer Fehler sei es gewesen, den Text zu veröffentlichen; sollte das Buch neu aufgelegt werden, wird es daher ohne den beanstandeten Text erscheinen. Ich wage mich mal kurz aus dem Fenster: nach dem Wirbel, der nicht nur in den Sozialen Medien zu verfolgen ist, ist eine Neuauflage in gedruckter Form eher unwahrscheinlich.

»Oh Boy« ist eine literarische Anthologie. Die an ihr beteiligten Autoren treten an, um sich dem Erkundungsfeld Männlichkeit*en mit literarischen Mitteln und Formen und zuweilen einer ganz eigenen Sprache zu nähern und es dann zu betreten, und sie folgen damit gerade nicht journalistischen und/oder wissenschaftlichen Standards (wo da genau die Trennlinie zur Literatur verläuft, darüber ließe sich gewiss umfassend streiten). Was berichtet wird, was Erzählstoff ist, hat sich also einerseits nicht so wie beschrieben ereignet – und andererseits eben doch oder anders oder nicht genauso oder nur so ähnlich und auch wieder nicht – und so weiter. Dabei kann man noch so viel verfremden und überschreiben: auch das Erfundene gibt es nur, weil sich zuvor etwas ereignet hat, das anschließend Erzähl-Material wird. Woher sollte dieses sonst kommen?

Ich habe den Text von Valentin Moritz gelesen, bevor ich das Buch besprach, selbstverständlich. Und ich habe diesen Text in meiner Besprechung salopp hintenüberfallen lassen, ich habe ihn einfach nicht weiter erwähnt. Nicht, weil ich schon etwas von dem Kommenden ahnte und so vorbeugen wollte, das wäre ja cool. Sondern: Ich mag diese Art von Selbstbezichtigungstexten grundsätzlich nicht. Sie berühren mich bald unangenehm. Es liegt immer ein Hauch von Eitelkeit in der Luft und zuweilen mehr als das: Ich bekenne mich schuldig und in dem ich mich schuldig bekenne und in dem ich mich selbst in aller Öffentlichkeit an den Pranger stelle, ist die Schuld schon halb abgetragen, wenn nicht weit mehr als das. Mit seiner Schuld – ich bin jetzt mal kurz böse – hausieren zu gehen und sie für sich öffentlich anzunehmen, um daraus ein Thema zu entwickeln, für ein Buch, für einen Film, für was auch immer, ist selbstverständlich ein legitimes Vorgehen. Es ist nur einfach nicht mein Fall. Andere entscheiden da anders. Als Leser*innen und eben als Autor*innen.

Wobei – das meine ich auch jetzt, wo das Buch nochmals aufgeschlagen neben mir liegt und ich in diesen Text noch einmal lesend geschaut habe – mir schien und scheint, als ob dem Autor von Anfang an selbst nicht ganz wohl war bei seinem Besserung-durch-Geständnis-Projekt. Zu unklar, zu verwirrend, vor allem zu abstrakt umschreibt der Text das Geschehene, ohne es in seinem Kern zu berühren, und das macht es einem alles andere als leicht, zu verstehen, um was es ihm eigentlich geht: Es ist schlichtweg unabhängig davon, ob es okay ist, einen solchen Text zu schreiben, er bleibt ein schwacher und zielloser und oftmals auch pathetischer Text, der mich erneut ratlos zurücklässt.

Und nun? Ich will mich um eine Antwort nicht drücken: ja, man darf als Täter (was immer jetzt Täter im Einzelfall ist; es ist auf jeden Fall ein Wort, vor dem wir sofort in die Knie gehen) in literarisierter Form über seine Tat schreiben. Die Frage ist: wie, also in welcher Form? Und die Frage ist: warum, was ist der Zweck? Und drumherum gibt es die Gesetze, denen man sich gegebenenfalls stellen muss, die dann entscheiden und die über jeglichen moralischen Forderungen stehen und werden diese noch so vielfältig über die Sozialen Medien gestellt (die Literaturgeschichte ist voll von Prozessen und Urteilen, ob ein Text oder Buch veröffentlicht werden darf). Und ebenso gilt: Nicht alles, was man darf, sollte man auch tun. Und oft ist man gut beraten, von sich aus zu verzichten.

Und zum anderen Grundsätzlichen. Wie umgehen mit Stoffen, in denen es nun mal angelegt ist, dass mitmenschliche und zwar heftigste Kollisionen ins Zentrum rücken und sich mehr oder weniger deutliche Erkennbare zu Wort melden und für ihr Recht auf Nichterwähnung plädieren: Romane über die Kindheit, Erzählungen über eine gescheiterte Ehe oder Liebe oder Affäre, um kurz das Naheliegendste zu nehmen? Die Literatur ist auch davon voll; sie existiert von ihr. Und so verlangen die Fragen nach den Bedürfnissen und Interessen von Beschriebenen nach literarischen Antworten, die immer wieder neu gestaltet und riskiert werden müssen.

Ein Beispiel, um das Feld kurz zu erkunden: In letzter Zeit ist dankenswerterweise ein Schwung von Romanen und Erzählungen jüngerer Autor*innen mit migrantischen Wurzeln und entsprechenden Lebensgeschichten erschienen. Die dort beschriebenen Väter und Mütter kommen nicht immer gut weg. Manchmal kommen sie gar nicht gut weg. Werden zuweilen sehr drastisch und konsequent und deutlich in ihrer Unfähigkeit beschrieben, ihren damaligen Kindern eine Orientierung zwischen den verschiedenen Lebenswelten zu bieten, in denen sie sich zurechtfinden mussten. Literarisch wird das erzählt, wird angeklagt, wird auch gewütet und geschimpft, literarisch wohlgemerkt. Aber eben auf Grundlage persönlicher Erlebnisse und Erfahrungen und auch Verletzungen, aus denen Textdateien wurden.
Ältere werden sich an die so genannte Väter-Literatur der 1980er-Jahre erinnern, was wurden da die Väter der Kriegsgeneration von ihren 1968er-Kindern literarisch verdroschen! In den letzten Jahren erst weitete man den Blick, und zwar auf die Traumatisierungen hin, die diese Väter selbst erlebt hatten, auf ihre womögliche Unmöglichkeit, die erlebte Gewalt in Erziehung und Krieg und Alltag einigermaßen zu verarbeiten, statt sie mehr oder weniger linear an ihre Kinder und besonders an ihre Söhne als eine Art Double weiterzugeben, die sich nun damit abmühen mussten und dabei zur Schreibmaschine fanden. Viel Zeit, auch Nachdenkenszeit musste vergehen, damit dieser zweite Blick, der Blick auf das Dahinter möglich wurde. Heute ist man auch literarisch schlauer – und empfindsamer und gnädiger und also weit weniger rigoros.

Ich schaue nochmal in den Text von Valentin Moritz, lese, blättere weiter, lese; zwei-, dreimal habe ich den Satz »Das ist doch eher ein Sturm im Wasserglas« hingetippt und besser wieder gelöscht. Kein Frauenname fällt, kein Ort wird beschrieben, in dem jener Übergriff geschah. Wir Lesende werden in keine Wohnung geführt, kein Bett steht in irgendeinem Raum mit Schreibtisch, Pflanzen und Bücherregal, noch sonst etwas. Was wir über den Übergriff erfahren, der doch der Grund für diesen Text ist, ist rein Gedankliches und dieses Gedankliche ist fast ausschließlich selbstreflexiv und tendenziell selbstgefällig: »Ich rede noch immer um den heißen Brei herum. Dabei glüht der ganze Text längst vor Schamesröte«.
Oh, nein, der Text glüht nicht vor Schamesröte. Der Autor mag beim Schreiben geglüht haben, das glaube ich gerne und sofort. Doch es hat ihn offensichtlich nicht herausgeführt aus einem inneren und kalten Durcheinander von Anspruch und Wirklichkeit, das eingefasst ist von einer Rahmenhandlung, wo junge Männer irgendwo am Strand von Usedom Frisbee spielen. Wenn man dem Text eine inhaltliche Unangemessenheit vorwerfen muss, dann wohl eher die, dass der Autor einen körperlichen Übergriff gegen eine Frau in ein selbstbezogenes Gedankenspiel während eines heiteren Sommermoments überführt, wo junge, unbedarft wirkende Männer einer Plastikascheibe hinterherrennen wie junge Hunde. Führt dieser Weg irgendwohin?

Vielleicht hätte Moritz es bei seinem Projekt der Enttarnung unangenehmer bis schä(n)dlicher Männlichkeit einfach eine Nummer kleiner angehen lassen sollen. Bescheidener, zurückhaltender und in der Themen-Beispiel-Wahl demütiger. Warum musste es – ich bin mal kurz zynisch – ausgerechnet eine der Königsdiziplinen der toxischen Männlichkeit sein: der sexualisierte Übergriff? Wie viel erhellender wäre es gewesen, für uns, für ihn, wenn er sich die Frage gestellt hätte: »Warum muss ich mich unbedingt so in mein Thema verbeißen?« Wenn er sich als Mann gefragt hätte: »Warum kann ich nicht sagen: Okay, dann geht das eben nicht; dann kann ich die Geschichte nicht so, wie von mir gewünscht, schreiben.« Die Welt ist voll von Männern, die nicht aufhören können: ob sie nun bis spät in die Nacht das Bad neu fliesen, ob sie noch am Geschäftsbericht sitzen, obwohl die Sonne aufgeht und ob sie die Strecke Berlin-Adria in einem Rutsch zu fahren sich vorgenommen haben und das dann auch tun.

Tja. Noch mal: Was fangen wir nun an mit dem Schlamassel? Da fällt mir – Kunstgriff – noch ein Buch ein, dass ich vor einigen Jahren hier auf den MännerWegen besprochen und empfohlen habe, 2017 war das, so lange ist das her? Egal. »Ich will dir in die Augen sehen« von Thordis Elva und Tom Stranger führt dem oben Beschriebenen gegenüber nun wirklich in das Zentrum eines Sturms, mit anfangs ungewissen Ausgang: Eine Frau trifft nach Jahren den Mann wieder, der sie einst vergewaltigt hat, und es folgt das Protokoll einer Wiederbegegnung, damit man am Ende für immer auseinander gehen kann. Ich schaue schnell mal nach: Oh, es ist noch erhältlich

PS: Und Valentin Moritz? In was hat er sich da nur reingeritten und warum hat ihn sein Verlag – offenbar – so wenig bis falsch beraten? Ich jedenfalls wünsche ihm an dieser Stelle hier von Herzen, dass er das alles gut übersteht: die berechtigte Kritik, wohl auch die Scham, die nicht ausbleiben dürfte; die Anwürfe, die Beschimpfungen auch, die es bestimmt gibt, und er heil dabei bleibt. Das fällt uns Männern nämlich gar nicht so leicht: einzugestehen, dass so etwas passieren kann und dann daraus zu lernen, im nun endlich eigenen Tempo.

Nachrichten von Carola und andere Unglücke

Sommer. Ruhe. Ausspannen. Nur was liest man, das einerseits nicht allzu anstrengt, andererseits doch solide Kopfnahrung bietet? Vier Titel bieten sich an.

Mann und Frau lesend Rücken an Rücken am Strand

Text: Frank Keil
Foto: owik2, photocase.de

 
Männerbücher der Woche, 32te und 33te KW. – Heinz Strunk schaut nach einem gelben Elefanten, Kerstin Ekman lässt in »Wolfslichter« einen Mann in eine Lebenskrise stürzen, die Literaturanthologie »Hamburger Ziegel« widmet sich (nicht nur) den Vätern und Thilo Krause bezaubert mit seinen (gleichfalls nicht nur) erzgebirgischen Gedichten.

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Alles ist zu viel

Ein Brief von Herrn H., die Nachwirkungen von Corona und warum wir alle so dünnhäutig sind.

viele Keulen, Ringe, Pömpel und eine Puppe aus der Sesamstraße werden in den Himmel geworfen

Text: Frank Keil
Foto: pylonautin, photocase.de

 
Herr H. hat mir geschrieben, er schreibt mir einmal im Jahr, stets zwischen Ende Juli und Anfang August. Seinem Brief liegt dann die von ihm abgezeichnete rote Zählerkarte und die Abrechnung bei, wie viel für Strom ich ihm diesmal überweisen muss, die Beträge schwanken zwischen 15 und maximal 30 Euro. So viel an Strom habe ich dann in dem betreffenden Jahr verbraucht, für den elektrischen Rasenmäher, für die elektrische Heckenschere, für ein wenig Licht am Abend, wenn es Herbst wird oder noch nicht Sommer ist, für meinen Laptop, denn in meinem zugewucherten Kleingarten im Norden der Stadt fahre ich gerne und am liebsten zum Schreiben. Es gibt dort kein Wlan, der Handy-Empfang ist schlecht, ich habe meine Ruhe und kann an meinen Sätzen feilen oder auf der Suche nach Eingebung kreativ in den Himmel starren.

Am 1. Juli eines jeden Jahres ist der Termin zum Ablesen des Stromzählers. Man schaut sich die Ziffern auf dem Stromzähler an, trägt sie in die Karte ein, dann geht man zu Herrn H.‘s akkurat bepflanzter Parzelle, wo an der Eingangspforte ein kleiner, blecherner Briefkasten hängt, und man wirft die ausgefüllte Zählerkarte dort hinein. Und Herr H. rechnet dann aus, was man diesmal zu bezahlen hat, so ist der Ablauf. Es ist eigentlich ganz einfach und nicht weiter kompliziert. Nur – ist man nicht unbedingt am 1. Juli in seiner Parzelle. Und wenn, hat man vielleicht seine Karte zuhause gelassen (bei mir liegt sie in der Schublade meines Schreibtisches, ich brauche für die wichtigen Dinge einen festen Ort). Oder man vergisst es einfach, Alltagsmensch der man ist. Denkt sich: ‚Ach, das mache ich am Wochenende‘. Und dann war Wochenende und irgendwie ist man nicht dazugekommen, man hat sich um irgendetwas anderes gekümmert, während Herr H. auf die Karte wartet. Herr H. ist für die Parzellen der Nummern 82 bis 132 zuständig, er wartet also auf die Zählerkarten von 50 Kleingärtnern und Kleingärtnerinnen.

Herr H. schreibt: »In diesem Abrechnungsjahr fehlten mir am 17.7.2023 noch 21 Zählerkarten, das sind 42%, ein trauriger Rekord!« Überhaupt schwappt einem aus dem kurzen Brief, der diesmal der zurückgesandten Zählerkarte beiliegt, sehr viel mühsam unterdrückter Ärger entgegen. »Vielleicht klappt es ja beim nächsten Termin besser«, schließt er leicht resigniert.

Zufällig (wenn es Zufälle gibt, eine Frage für sich) trudelt Herrn H.‘s Brief ein, da lese ich gerade einen Essay von Klaus Hurrelmann in der »Süddeutschen Zeitung«. Ich habe einiges von ihm während meines Studiums gelesen, was immer klug und bedenkenswert war. Hurrelmann ist salopp gesagt der Erfinder der »Shell-Jugend-Studie«, die man getrost als wegweisend bezeichnen darf. Mittlerweile ist er 79 Jahre alt und noch immer forschend tätig, etwa mit der Nachfolge-Studie »Jugend in Deutschland«. In seinem Essay schlägt er einen weiten Bogen vom aktuellen Umfrage-Erfolg der AfD über die Siegeszüge der Rechtspopulisten in diversen Ländern und Regionen hin zum schwachen Bild der Ampel-Koalition und weiter geht es zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie. Er konstatiert eine weitverbreitete pessimistische Stimmung in der Bevölkerung; Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit hätten sich festgesetzt und würden nicht weichen. Und eine Krise jage die andere. Vielen ist vieles zu viel. Er schreibt: »Viele Menschen aller Altersgruppen sind erschöpft, am Rande ihrer psychischen Kräfte. Sie bräuchten dringend Ruhe und Schonung, um sich zu regenerieren und ihre ‚Freudlosigkeit‘ zu überwinden. Genau das aber ist ihnen nicht möglich.« Und so würden sich politisch wie im Privaten immer mehr die Kräfte durchsetzen, die auf komplizierte Fragen behaupten einfache Antworten zu wissen, denen man nur folgen müsse und dann sei endlich Ruhe und Schutz vor allem.

Und er entdeckt Anzeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung, der Einzelnen wie der bundesdeutschen Gesellschaft generell. Natürlich ist ihm bewusst, dass es nicht unheikel ist, eine am Ende psychiatrische Diagnose auf die Gesellschaft und ihre einzelnen Felder per se anzuwenden. »Man muss mit der Metapher der posttraumatischen Belastungsstörung vorsichtig sein, das sehe ich auch. Aber meine Idee ist ja nicht, diese Menschen zu pathologisieren, sondern zu zeigen, dass Politik mit dieser nachvollziehbaren Verunsicherung und Orientierungslosigkeit der Menschen umgehen muss. Und das nicht nur rational«, sagt er in einem nachfolgenden Interview zu seinen Überlegungen in der »taz«. Er sagt weiter: »Alle Erfahrungen aus der Psychiatrie sagen, dass eine posttraumatische Belastungsstörung heilbar ist. Das braucht Zeit, der wichtigste Schritt ist, wieder die Kontrolle über das eigene Leben zu gewinnen.« Und: »Dazu muss ich das Trauma, das mich umgeworfen hat, verstehen. Ich muss anerkennen, dass es jetzt Bestandteil meines Lebens ist und ich damit leben muss.«

Ich kann damit viel anfangen. Treffe ich mich mit Freunden, Freundinnen, Bekannten oder Kolleg*innen, sprechen wir bald über Corona, obwohl das doch eigentlich so lange her ist, aber wann war Corona noch mal genau und wie waren die einzelnen Phasen? Wir erzählen uns, wie schnell uns etwas aus der Fassung bringt, wie dünnhäutig wir geworden sind und auch, dass wir uns regelrecht zwingen müssen, wieder mehr unter Leute zu gehen, auf Partys und Feste. Und dass irgendwie kein Ende in Sicht ist (da sind wir dann meistens bei Donald Trump angekommen und sagen gleichzeitig Sätze wie »Ist doch schlimm, dass dieser Arsch uns so beschäftigt, das ist doch nicht okay, oder?«). Und wir listen auf, was uns fassungslos und wütend macht, was nichts anderes ist als eine Umschreibung dafür, wie hilflos und ausgeliefert wir uns fühlen: dem nicht endenden Krieg in der Mitte Europas gegenüber, die längst gekippte Stimmung in weiten Teilen Ostdeutschlands, die immer härter werdende Politik gegenüber Geflüchteten (heute morgen wurde im Radio der tunesische Innenminister zitiert, dass es stimme, dass man in seinem Land afrikanische Geflüchtete zurückschicke und in der Wüste aussetze, aber es seien nur wenige, also nicht viele, und die Toten, die man entdeckt habe, seien nicht auf tunesischem Staatsgebiet aufgefunden worden) und vielleicht ist ja auch dieser Text wenigstens zum Teil von einer KI geschrieben worden, die nächste, noch gar nicht einzuschätzende Bedrohung nicht nur für Menschen meiner Zunft. Und schaue ich ganz für mich in die wirklich gute Pflegeeinrichtung meiner bald 90-jährigen Mutter und wie man dort mit dem Personalmangel und den monatlich steigenden Kosten kämpft und denke ich dann an mein Älterwerden, oh je …

Oder vor zwei Tagen auf einer Redaktionskonferenz; wir kennen uns dort alle gut und sind uns recht vertraut: Ein Kollege erzählte, er schaue abends keine Nachrichten mehr. Nicht die »Tagesthemen«, nicht das »Heute-Journal«. Nicht aus Prinzip oder so; nicht aus Misstrauen gegenüber den Medien, was man manchmal zu hören bekommt. Sondern sozusagen aus dem Gegenteil heraus: Die ja fundierte und ausführliche Berichterstattung über den Krieg gegen die Ukraine, die derzeit und bis auf weiteres kaum absehbaren Folgen der Klimakrise, die lokalen Kriege und politischen Krisen in allen Teilen der Welt, die gesellschaftliche Spaltung bei uns, dazu das Zögern der Politik, er wolle gerade das nicht mehr sehen. Er könne nicht mehr. Er komme selbst nicht mehr aus dem Krisen-Modus heraus, es mache ihn nur hilflos und wem sei damit geholfen. Hurrelmann sagt dazu: »Wichtig ist dabei, dass ich nicht ständig an das Ohnmachtsgefühl erinnert werde.« Und so gesehen macht es der Kollege für sich genau richtig.

Herr H. hat seine Art gefunden, seinem Ärger auf die Welt, seinem Frust und wohl auch seiner Enttäuschung Luft zu verschaffen. Er berechnet uns Kleingärtner*nnen diesmal je eine »erhöhte Aufwandpauschale« für den »erheblichen Mehraufwand« in Höhe von vier Euro. Das geht in Ordnung, ich habe ihm gleich heute morgen als allererstes das Geld überwiesen. Jede und jeder braucht derzeit unbedingt sein Ventil.

Voll ungelogen

Männer, das sind … tja, was? Und warum sind sie so seltsam und so schwierig und was man so hört: auch so verschlossen? Und los geht die Suche.

ein Mann kämpft gegen fliegende Zeitungen an

Text: Frank Keil
Foto: kallejipp, photocase.de

 
Männerbuch der Woche, 31te KW. – Die literarisch grundierte Anthologie »Oh Boy« versammelt sehr intensiv so kluge wie offene Entwürfe von – hoppla! – Männlichkeit*en.

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Ständiges Auf und Ab

Der Historiker Benno Gammerl erzählt die wechselhafte Geschichte von Homo- und Transsexuellen in Deutschland.

Wand mit Farbverläufen

Text: Thomas Gesterkamp
Foto: Godjes, photocase.de

 
Im Januar 2023 standen bei der jährlichen Holocaust-Gedenkveranstaltung des Deutschen Bundestages zum ersten Mal jene Opfer im Mittelpunkt, die von den Nationalsozialisten wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgt wurden. Dieser erinnerungspolitische Erfolg verdankt sich dem beharrlichen Insistieren queerer Bewegungen. Er musste gegen teils heftige Widerstände vor allem konservativer Abgeordneter durchgesetzt werden – und bedeutete einen weiteren Schritt, der zur gesellschaftlichen Akzeptanz von geschlechtlicher Vielfalt und gender-nonkonformer Lebensweisen beigetragen hat …

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Man geht nicht weg, man bleibt

Es ist nicht selbstverständlich, dass man sein Leben so lebt, wie man wollte. Das sollte man sich zuweilen vor Augen führen.

Text: Frank Keil
Foto: Don Espresso, photocase.de

Männerbuch der Woche, 29te KW. – Kent Haruf erzählt in seinem nun übersetzten Erstling »Das Band, das uns hält« von einer unglückseligen Frau und einem noch unglückseligeren Mann und auch sonst haben es seine Helden entschieden schwer.

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»Einfach mal die Klappe halten!«

Ich, mein Vater auf dem Sofa, Till Lindemanns blutunterlaufene Augen und wie hinter mir mal Franz Alt saß – oder: meine Antworten auf den MännerWege Fragebogen

Mann mit kaputtem Blasinstrument

Text: Frank Keil
Fotos: 7inchpixel, photocase.de | privat

 
Drei bis vier Seiten Platz für Antworten auf den MännerWegeFragebogen? Oha! Die bräuchte ich allein, um der ersten Frage des persönlich-biografischen Zugangs zum Männerthema einigermaßen nahe zu kommen. Aber gut.
Mir fällt zu dieser Frage sofort mein Vater ein. Er arbeitete zu viel, er trank zu oft zu viel, er wurde ein unglücklicher Mensch, und ich konnte ihm dabei zusehen. Mir schien das keine gute Idee zu sein, wie man sein Leben verbringen sollte, auch wenn ich noch Kind war, dachte ich das. Besonders eindrücklich waren die Sonntagabende. Wenn er am nächsten Morgen wieder in aller Frühe in die Knochenmühle musste, zu den Idioten. Er saß auf dem Sofa (braun war es und aus Leder und man versank tief, wenn man sich setzte) und er schwieg. Und er schwieg und schwieg, zwischendurch griff er zur Weinbrandflasche. Springer Urvater. Er wurde keine 60 Jahre alt. Doch zwischendurch gab es helle Momente, wo wir uns nahekamen. Wo ich ihn sehr mochte. Und so überfiel mich früh eine Art Ahnung und bald mehr als das, dass etwas nicht so sein muss, wie es ist. Dass man nur den anderen Weg finden muss, den Ausweg. Dass dieser Ausweg als Weg und Lebensweg nicht unanstrengend werden würde, auch das war mir früh klar. Aber es gab da irgendwie das tiefe Wissen: Es wird sich lohnen. Und ich sagte mir so für mich: »Mach das mal. Geh‘ ihn … diesen Weg, später, wenn du groß bist, und das rechtzeitig, und lass dich nicht abbringen.«

Ich studierte, endlich großgeworden, Pädagogik; auf Diplom (immer noch Frage 1). Ein völlig nutzloses Fach, wie man mir sagte, als ich an der Uni aufschlug. Mir war das egal, das mit dem Nutzen. Ich war wissbegierig, ich wollte etwas lernen, ich wollte mich erfahren und ausprobieren (genaugenommen hat sich das bis heute nicht groß geändert, Frage 3). Außerdem war ich fast nur unter Frauen, was schlicht angenehm war. Sehr wenig Konkurrenz, sehr wenig Gehabe. Und die wenigen Männer, mit denen ich zu tun hatte, waren wie ich: soft und langhaarig, lesebegierig und durchweg freundlich (gehört teilweise zu Frage 5, oder?).
Neben der Uni ging ich wahnsinnig gerne demonstrieren. Am liebsten Häuser besetzen! Wir waren eine ziemlich wüste Truppe. Schwarze Klamotten, schwarze Motorradhelme. »Gefühl und Härte« war die Parole der hedonistischen Autonomen, denen wir nahestanden (wir sind Anfang der 1980er-Jahre, »Schieß doch, Bulle!« stand auf unseren Lederjacken, das finde ich heute nur noch historisch gesehen witzig). Aber mich interessierte das »Gefühl«. Wie mit Ohnmacht umgehen, mit Verzweiflung, mit Wut und mit Gewalt und mit Hilflosigkeit und wie das alles zusammenhing, so mit unserer Männerrolle. Ich schlug eines Tages vor, eine Männergruppe zu gründen, als Gruppe innerhalb unserer Gruppe. Die Hälfte meiner Gruppe lachte mich aus, die andere Hälfte machte mit (also von den Männern; die Frauen fanden das sowieso gut und fragten immer wieder neugierig nach, was wir da eigentlich machen würden). Jedenfalls: Ich hatte meine erste Männergruppe (ich bin wieder bei Frage 1, ja?).

Diese erste Männergruppe war sehr, sehr kopflastig. Sehr theoretisch ausgerichtet. Wir mühten uns ab, die Konstruktion des Patriachats zu verstehen, wir wollten aber auch persönlich werden, eigentlich. Wir warfen uns Bandwurmsätze an die Köpfe und versuchten dann zu entwirren, wer was wie gemeint hatte. Aber irgendwie machte es auch Spaß. Und wann immer es möglich war, gingen wir am Wochenende ins »Café Tuc Tuc« feiern, ein schwuler Partyladen mit bester Disco-Musik, damals hier in Hamburg in der Oelkersallee (Hausnummer 5). Wir schminkten uns, zogen Fummel an, stock-hetero, wie wir waren. Zum Glück waren die »Tuc Tuc«-Schwulen von der lockeren Fraktion, die ihrerseits wenig Lust hatte auf traditionelle Männlichkeit, nur eben in der schwulen Variante, was es ja nicht besser macht(e). Ich glaube heute, sie fanden uns einfach süß, wie wir da zwischen ihnen herumtanzten wie aufgedrehte Maulwürfe. Und zusammen waren wir so queer, wie heute Queersein sein soll, nur viel, viel entspannter. Man musste sich nicht rechtfertigen damals, sich nicht erklären.

Jedenfalls: Als das Studium zu Ende ging, überlegte ich mir als Diplom-Arbeit das Thema »Männergruppen, Theorie und Praxis«. Mein Professor fiel mir um den Hals, als ich es ihm vorschlug. Endlich mal ein Student, der nicht etwas zu Jean Piaget oder Maria Montessori arbeiten wollte. »Ich habe von Ihrem Thema nicht die geringste Ahnung und kann da gar nicht helfen«, freute er sich. Und wie gut es sei, mal etwas Neues zu lernen. Es wurde eine richtig prima Betreuung; schöne Nachmittage in seinem Büro im vierten Stock, das vollgestellt war mit Büchern und benutztem Teegeschirr, und bald duzten wir uns. »Wie heißt der? Klaus Täwie…?« fragte er, notierte sich den Namen Klaus Theweleit und ließ sich erzählen, was in den »Männerphantasien« so stand und wohin die gedankliche Reise ging. Nachdem ich meine Arbeit abgegeben hatte (ich mixte Claude Leví-Strauss mit Sigmund Freud und Volker E. Pilgrim; ich verknüpfte ethnologische Studien von Malinowski aus der Südsee mit Erfahrungsberichten evangelischer Männer-Gesprächs-Kurse aus dem Münsterland, es wurde eine ziemlich impulsive und assoziative Arbeit, die mich beim Schreiben selbst schwer begeisterte, auch ich hätte mir eine Eins-Plus gegeben), veranstalteten wir zusammen ein Männerseminar, unten im großen Seminarraum des Pädagogischen Instituts, zwei Semester lang. Das war schlicht sehr, sehr cool, und ich fühlte mich sehr, sehr ernst genommen und seitdem bin ich den Männerblick nicht mehr losgeworden. Und einmal auf die Spur gesetzt, machte ich weiter. Bis heute.

Manchmal dachte ich zwischendurch kurz: »Werd‘ doch Männerexperte!«. Ein Professioneller. So einer, den sie beispielsweise anrufen, vom Fernsehen und vom Radio und der dann erklären soll, warum immer noch Männer ihre Frauen schlagen oder warum sie keine Freunde haben und was überhaupt mit den Männern so los ist. Und ich erkläre das dann in kurzen, knappen Sätzen. Aber irgendwie kam es nie dazu.
Wohl, weil ich immer umgekehrt dachte und denke (das ist jetzt im Umfeld der Frage 3): Ich bin nicht gemacht für das Eine. Mich interessieren viel zu viele Sachen gleichzeitig (Geschichte und Literatur und Soziales und schwer verdauliche Bildende Kunst, auch Theater usw.) Und dann wollte ich – schreiben. Sätze aneinanderreihen, Texte bauen. Das, was ich sehe und was ich dazu denke und was ich dazu erfahren und recherchieren kann – bei aller Vor- und Umsicht und immer dem Eingeständnis, ich kann total falsch liegen – am Ende in Artikel, Essays, Reportagen und Geschichten zu überführen. Und ich sagte nach einigen Jahren der Pädagogik ade, kaufte mir einen Computer und einen Stapel Disketten und legte los, und ich wurde freier Journalist (der gelegentlich über Männerthemen schrieb und schreibt, weil sie mir wichtig waren und sind; hin und wieder, aber nie nur). Überhaupt bin ich mehr so der Beobachter, der sich auch selbst gerne zuschaut. Und entsprechend fremdele ich mittlerweile sehr mit jeder Form von Aktivismus. Weil man da, ob der Dringlichkeit des Anliegens und der Überzeugung der eigenen Sache gegenüber, in Gefahr ist, sehr schnell seinen eigenen Blick zu verengen. Man will ja aktiv sein, etwas bewegen, auch weil man recht hat, und da stellt man nicht gerne kritische Fragen, sondern drückt aufs Tempo.

Jedenfalls stieß ich zwischendurch auf diesem Weg auf das Magazin »Switchboard«, abonnierte es, nahm irgendwann Kontakt auf und lernte Alexander kennen und bald schrieb ich für ihn, also für Andreas und ihn, und irgendwie auch für mich.
Mann, was haben wir für schöne Themenschwerpunkte realisiert, immer leicht spielerisch angelegt. »Männer und Fleisch« und »Männer und Handwerk« und »Männer und Obdachlosigkeit« fallen mir ein. Ihr konntet manchmal sogar ein kleines Honorar zahlen, wenn ich das richtig erinnere. Schon damals stellte ich Bücher vor, die für Männer interessant sein könnten (die Rubrik hieß »MittelStücke«, zum Ende des Heftes hin), wobei keinesfalls klassische Männerbücher verhandelt werden mussten (bloß nichts Plakatives!) und sie durchaus von Autorinnen sein konnten (zuweilen verstehen uns die Frauen ja so viel besser), so wie ich heute das »Männerbuch der Woche« führe, nach dem Prinzip von damals (kurz Frage 3).
Und mit Ralf verbindet mich die Arbeit für sein damaliges Väter-Magazin »Paps« (ja, das war kein toller Titel, das klang immer so nach Vätern, denen man helfen muss, sich die Schuhe zuzubinden). Aber – ein gedrucktes Väter-Magazin, das ist heute kaum noch vorstellbar. Und auch für das Magazin der Evangelischen Männerarbeit habe ich zuletzt geschrieben (»Männerforum« hieß es, auch kein Knaller-Titel, das erst monatlich erschien, dann vierteljährig, dann zwei Mal im Jahr, bis es endgültig sang- und klanglos eingestellt wurde; wahrscheinlich erinnert sich niemand mehr daran, man findet es passenderweise auch nicht im Internet). Weshalb ich, als ich vor ein paar Jahren zur Schweizer »Männerzeitung« stieß und bald zur Redaktion gehörte und die Deutsch-Schweiz ein Teil meines Lebens wurde und es weiterhin ist, erneut überzeugt war und wurde, dass man raus muss aus der Männerecke. Dass man es umgekehrt machen muss: spannende Texte und Geschichten schreiben, all sein Herzblut darein ergießen, ohne Zögern, dafür mit Kraft und Risikobereitschaft – die Männer kommen mit ihren Themen schon von selbst um die Ecke und setzen sich dazu, das wird schon. Und wir machten »ERNST«. Sechs Jahre lang, 24 Ausgaben. Derzeit sind wir dabei uns in ein Publikationsteam zu transformieren. Professionell und freundschaftlich verbunden.

Von daher: Was ich gerne noch mal machen würde (Frage 16, ich springe mal), was mich richtig begeistern würde? Weiterschreiben! Unbedingt. Jeden Tag auf meine Weise. Und an meinen Themen dranbleiben, einerseits. Und andererseits immer wieder das Fenster öffnen und schauen, was gerade vorbeigeweht kommt. Verschiedene Buchprojekte wälze ich derzeit immer mal wieder vor mich hin. Gerade fällt mir noch eines ein, ein Buch: »Dicke Männer«. Einen lebensbejahenden und wilden und ausufernden und vor allem ehrlichen und selbstverständlich dicken Bildband über Männer, die füllig sind, die ein paar Kilo mehr auf die Waage bringen (ich muss das mal verfolgen! Ernsthaft …).

Was hat die Männer/* ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast? Ich fürchte, da ist meine Antwort sehr banal: Männer, in deren Beisein ich mich wohl fühle und sicher. Wo ich über unser Verhältnis nicht groß nachdenke; wo ich nicht auf der Hut bin, wo ich nicht zwischendurch denke »Achtung, Frank, gleich wird es heikel«. Wo ich nicht aufpassen muss. Und wo sich im Gegenzug manchmal wie von selbst etwas entwickelt, eine Idee, ein Projekt, das dann ganz anders werden kann als am Anfang geplant. Und das waren und sind – wenn ich jetzt näher nachdenke – oft Männer, die wie ich freiberuflich unterwegs waren oder es sind. Nur sich selbst verpflichtet, mit freier Zeiteinteilung, eher freischwebend, freigeistig, mit Verbindungen zur Literatur, zur Kunst, oft eher knapp bei Kasse. Schlimm – ich übertreibe jetzt mal wieder ein bisschen – waren und sind oftmals Begegnungen mit Menschen (Männern wie Frauen, wobei die Männer meistens einen Härtegrad mehr hatten) aus öffentlichen, aus staatlichen Institutionen wie etwa Behörden. Ich glaube, Alexander, du kannst ein Lied davon singen, ein unschönes. Sobald es generell hierarchisch wird, man(n) meint Positionen sichern zu müssen, wird es finster, auch im Persönlichen. Und eine gewisse Portion Humor, auch Spott ist nicht verkehrt. Das war jetzt Frage 5.

»Das Problem ist nicht«, lese ich heute morgen nach dem Aufwachen noch im Bett auf Instagram, »dass Männer so viel weniger weinen. Das Problem ist, das sie ihre Gefühle oft nicht wahrnehmen können. Sie wissen gar nicht, wie es ihnen geht – und damit natürlich auch nicht, was sie brauchen oder wie es ihnen besser gehen könnte«, ein Ausschnitt, ein Schnipsel aus einem Interview mit dem Männertherapeuten Björn Süfke, den ihr alle kennt. Ich weiß, so teasert man heute ein Interview an, will man für entsprechende Aufmerksamkeit und also Klicks sorgen, und mir ist das einsame, eingestreute »oft« in der Aussage nicht entgangen. Und trotzdem (oder genau deswegen) bringen mich mittlerweile diese pauschalen Aussagen über die Männer schlicht auf die Palme (Frage 3). Nicht das latente Self-Bashing, das darin auch enthaltene, ist es, sondern das so zuverlässig immer wieder und weiter an der trübsinnigen Geschichte gestrickt wird, die Männer bräuchten lebenslangen Nachhilfeunterricht in so ziemlich allem. Also wir natürlich nicht, wir sind super. Aber die anderen … die haben echt noch was zu lernen …
Ich halte das für falsch. Weil es einen in einen ständigen Besserwisser-Modus setzt, der so fest an einem klebt. Mehr aber noch, weil es nicht stimmt: Denn es hat sich so wahnsinnig viel getan, seit ich meinem Vater beim Schweigen und Verstummen zusah, in dieser grauen Zeit, vor Jahrzehnten. Was heute an Lebensentwürfen möglich ist, wie man sein und wie man sich ausprobieren und verändern kann, das ist doch bewundernswert erstaunlich (eben stoße ich auf Facebook auf einen geposteten Schnappschuss, wo unser Verteidigungsminister vor einer Kaserne die Regenbogenfahne hisst; war das zu ahnen, damals?). Also kann man langsam mal locker werden. Einfach in den Tag schreiten, ohne Angst zu haben. So, wie ich glaube (festhalten!), dass man heutzutage ein solider Vater werden kann, ohne ein einziges Väter-Seminar-Wochenende mit Selbstverpflegung besucht zu haben. Weshalb mich entsprechend immer wieder gewisse Ausschreibungen irritieren und dann ärgern, in denen suggeriert wird: also ohne »Vater-Kurs 1«, dann »Vater-Kurs 2« und dem »Vater-Aufbau-Kurs« wird das alles nichts.
Und wo ich gerade am Meckern bin: Mit dem Pseudo-Mythologischen, das zuweilen durch die Männerszene wabert, bin ich nie warm geworden. »Die Kraft des Männlichen entdecken« – um Himmelswillen! In den Wald gehen, um dort (beispielsweise) meinem Vater wieder zu begegnen, das erschien mir immer sehr ausgedacht. Lieber als in eine Schwitzhütte gehe ich in eine Kunsthalle. Und lieber lese ich querbeet ratlos machende Literatur, gerne von Frauen (wie gesagt) als so einen Schmarrn wie »Eisenhans«, was ich zunächst für eine Parodie hielt, als ich es mal in die Hände bekam und darin blätterte (ich weiß, dass gibt jetzt Ärger, aber der gehört dazu).

Ich kürze mal ab – Frage 14, wo meiner Einschätzung nach die hartnäckigsten Widerstände gegen Jungen-, Männer- und Väterthemen liegen, warum sich zu der eben skizzierten erfreulichen Entwicklung der wachsenden Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen und nahezu gleichzeitig die Kräfte erstarken und sich langsam in der vielbeschworenen Mitte der Gesellschaft festzusetzen scheinen, die sich über die Wiederauferstehung von Mami und Papi freuen und die mit dem ganzen Gender-Kram aufräumen wollen bzw. dieses stumm hinnehmen, so verstehe ich für mich die Frage. Puh – ich bin da ratlos. Und zwar komplett. Ganz ehrlich. Und ich sehe da eine wachsende Gefahr in einer Dimension, die man (ich!) sich gar nicht anschauen will, seien es die Erfolge der AfD in Ostdeutschland, sei es das allmähliche Zurückweichen der bürgerlichen Kräfte, die offenbar die Fehler der Weimarer Jahre wiederholen möchten. Bleibt nur das das Zurückziehen, die Flucht? So wie unser mittlerweile großes Kind von einer brandenburgischen Kleinstadt nicht nur deshalb nach Berlin gezogen ist, weil dort das Kinoangebot besser ist, sondern weil es sich auf dem Weg vom Bahnhof nach Hause nicht mehr ständig umdrehen wollte, von wegen ob da Nazis hinter ihm hermarschieren und im Ernstfall wohl niemand helfen würde. Und neulich war ich auf Recherche in Sachsen, meine Herren! Was macht aber man mit diesen verstockten Kerlen, die – so höre ich immer wieder – sich gerade als Männer abgehängt fühlen, weil sie sich noch so minimalen Veränderungen im Persönlichen wie Allgemeinen verweigern und so den Anschluss verpassen? Und ich bemerke bei mir ein gewisses Frust- und auch Wutpotential, das ich im Auge behalten sollte.

Vorgestern erst, im Regional-Zug hier durch das idyllische Land hinter Hamburg mit seinen Wiesen und Feldern und Knicks, erging es mir so: Drei Reihen vor mir saß so ein Schrank von Mann, muskulös und tätowiert, wenige, dafür strubbelige Haare und – »Rammstein«-T-Shirt. Till Lindemanns stilisiertes Gesicht erstreckte sich über seine Brust und seinen Bauch, die Augen blutunterlaufen. Und ich war kurz davor, aufzustehen, um ihm meine Meinung zu geigen. Ihm einfach seine albernen Kopfhörer vom Kopf zu reißen und ihn anzubrüllen: »NA, DU ARSCH! BLITZKRIEG MIT DEM FLEISCHGEWEHR! KANNSTE HABEN …« Ich war selbst überrascht von der Heftigkeit meines Gefühlsausbruchs, der mich jetzt – wie ich vor der Tastatur sitze – sehr fasziniert (das meine ich mit »Ich bin mehr so der Beobachter, der sich auch selbst gerne zuschaut«). Was war da in mich gefahren, ich weiß doch, dass es solche Typen gibt, die uns guten Männern das Leben schwer machen und schon immer schwer gemacht haben und die einfach nicht aussterben wollen, egal wie viele Kurse und Seminare angeboten werden, von wegen Geschlechtergerechtigkeit, die eingeübt werden muss (aber das wollen die nicht, sie wollen es einfach nicht, es interessiert sie nicht die Bohne). Zum Glück funktionierte meine Impulskontrolle bald wieder, ich hörte sie regelrecht einrasten, wie wenn man sich beim Autofahren kurz verschaltet. »Komm, Frank, in deinem Alter solltest du keine Schlägerei mehr anzetteln«, sagte mein zweites oder drittes Ich also zu mir, und ich blieb sitzen, nahm den anderen Ausgang, als der Zug an der Station hielt, wo ich aussteigen musste. »Rammstein« – was für eine gottverdammte Scheiße! Jedenfalls …

Oh je, die vier Seiten sind längst um. Und also eine Episode zum Schluss, die für mich auf den Punkt bringt, um was es mir geht, was mich antreibt und mich beschäftigt in Sachen Männer (das wäre jetzt Frage 8): Wir waren mal wieder unterwegs zu unserem Lieblingsstrand an der Ostsee. Unterwegs halten wir immer bei einem Bioladen mit Café, decken uns ein, trinken Kaffee. Ich saß da und hinter mir setzten sich zweie an den nächsten Tisch: eine junge Frau, ein älterer Mann, den Stimmen nach; ich drehte mich nicht um (ich bin ja höflich). Seine Stimme kam mir sofort vertraut vor, eine prägnante Stimme, eine Fernsehstimme, und dann wusste ich: das ist Franz Alt! Hinter mir sitzt Franz Alt, wir saßen Rücken an Rücken.
Er redete und redete (er hatte am Abend zuvor hier einen Vortrag über die Klimakrise gehalten, deshalb war er hier, wie ich später beim Rausgehen auf einem Plakat las; er hatte wohl hier übernachtet, das Café hat auch Gästewohnungen). Ohne Unterlass redete er: von seinen Dreharbeiten, welchen Bundespräsidenten er dann doch vor die Kamera bekommen hatte und was alles schiefzugehen drohte und was dann doch geklappt hatte und wie man von Seiten der Chefredaktion ihn immer wieder kaltstellen wollte, was nicht gelungen war, er lasse sich doch nicht den Mund verbieten, er nicht! Anfangs versuchte die junge Frau noch etwas anzumerken, auch eine Frage zu stellen, aber sie ließ es schnell. Sie hörte stumm zu, wie er sein Fernsehleben vor ihr ausbreitete, ohne Pause, ohne Komma, mit immer lauter werdender Stimme, wie ein evangelikaler Prediger. Und über dem Kopf der Frau schwebte in einer Wolke ein Gedanke: »Hoffentlich kommt bald das Taxi!«

Was mich bis heute beschäftigt, ist weniger, dass hier ganz klassisch ein so genannter alter, weißer und bekannter Mann so rücksichtslos eine junge Frau zutextete, dass es zum Fremdschämen war. Sondern weit mehr, welche wunderbare Chance der Franzl verpasste: sich mal von (in diesem Fall) einer jungen Frau erzählen zu lassen, wie sie und ihre Generation gerade die Welt sieht, um die es ja geht. Was ihr Sorgen macht, was ihr Hoffnung gibt, woran sie zweifelt und was vielleicht ihre eigenen Pläne für die nächste Zukunft sind, wenn sie das erzählen mag. Einfach zuhören. Einfach sich zurücklehnen und freundlich neugierig werden. Etwas erfahren, was man noch nicht weiß. Und dafür einfach mal die Klappe halten (Frage 12, nach meinem Lebensmotto). Ich hoffe sehr, dass mir diese Begegnung präsent und bewahrt bleibt; gelingt mir das, ist das schon viel wert – und das ist sozusagen mein Altersprojekt (noch mal Frage 16, richtig?).
 
 
 

 
 
 
 
 
 
:: Frank Keil, geboren 1958 in Hamburg. Hat diese Stadt nie wirklich verlassen. Verheiratet, ein Sohn. Kleingärtner. Überzeugter Freier Journalist, für den Rente keine Option ist. Unterwegs für verschiedene Medien, Mitbetreiber dieser Plattform. Schreibt derzeit an seinem Roman-Projekt »Ich weiß nichts über meine Familie, suche sie aber trotzdem«, für das er im letzten Jahr einen der Hamburger Literaturpreise erhielt (wie gesagt, »Hamburg«, das passt schon).

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Wenn die Zeichen nicht täuschen, wird in den kommenden Jahren die Geschichte der DDR verstärkt ins Blickfeld rücken. Und damit auch die Lebensläufe ostdeutscher Bürger.

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Text: Frank Keil
Foto: royalmg, photocase.de

Männerbuch der Woche, 26te KW. – Mit »Unterm Staub der Zeit« verortet Christoph Hein gekonnt den Internatsroman im geteilten Berlin der ausgehenden 1950er-Jahre.

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