Vor der stehengebliebenen Zeit

In den Dingen, die uns umgeben, die wir zuvor gesammelt haben, ist vieles Erlebte enthalten. Um ihren ganz eigenen Zauber zu entschlüsseln, muss man später recht genau hinschauen.

Bild von Orhan Pamuk

Text: Frank Keil
Foto: Orhan Pamuk / Hanser Verlag

 
Ein besonderes Männerbuch der Woche, 43te KW, in Ausstellungsform: Die Dresdner Gemäldegalerie Alte Meister zeigt Orhan Pamuks visuell so eindringliches wie kluges Werk »Der Trost der Dinge«. Und dann wartete noch (s)ein Buch mit dem schönen Titel »Der Koffer meines Vaters«.

Zum Ausstellungsbesuch und mehr als nur einen Blick in Orhan Pamuks Werk.

Projekt »Männerschuppen« gegen Einsamkeit im Alter

Einladung der Stiftung Männergesundheit zur 2. Online-Konferenz am 04.12.23

zwei Männer auf einer Bank hinter einem alten Baum

Text: Alexander Bentheim (Redaktion)
Foto: inuit, photocase.de

 
Im Juni 2023 veranstaltete die Stiftung Männergesundheit erfolgreich eine Konferenz über »Männerschuppen« in Deutschland, einem Projekt, das dazu beiträgt, Einsamkeit zu überwinden und das Wohlbefinden vor allem älterer Männer zu steigern, etwa nach Eintreten des Altersruhestandes. Ziel ist, die Initiative »Men’s Sheds« zu unterstützen, die nach Erfahrungen vieler anderer Länder einen ausgesprochenen gesundheitsfördernden Aspekt hat. Angesichts des positiven Feedbacks und des regen Interesses an diesem Thema gibt es nun eine Fortsetzung, und zwar in einer 2. Online-Konferenz am Montag, 04.12.23, von 14-17 Uhr.

Auf dem Programm stehen – unter Leitung von Prof. Doris Bardehle, Koordinatorin des wissenschaftlichen Beirates der Stiftung – Impulsvorträge und Diskussionen zu verschiedenen Schwerpunkten und Fragen im Zusammenhang mit der Gründung und dem Betrieb von »Männerschuppen«, darunter: Wie gründe ich einen »Männerschuppen«? Wie kann man aus befristeten Projekten einen dauerhaften »Männerschuppen« profilieren? Welche Möglichkeiten bieten Mehrgenerationenhäuser zur Gründung von »Männerschuppen«? Wie können Männernetzwerke, Seniorenbüros, Krankenkassen, Abgeordnete, Kirchen, Fachgesellschaften, Hochschulen »Männerschuppen« unterstützen? Wie sollte die Gesundheitsförderung integriert werden und können gesundheitsfördernde Effekte bemessen werden?

Die Registrierung ist kostenfrei und erfolgt per eMail. Alle weiteren Infos, ein Flyer, das Programm und die Anmeldemöglichkeit gibt es hier.

»Es geht nicht um die Rechtfertigung einer Schuld, sondern um die Frage der Verantwortung.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Wolfgang Rosenthal, Oldenburg

Brüder

Interview: Alexander Bentheim
Fotos: Alexander Bentheim | privat

 
Was war oder ist dein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen-, Männer- und Väterthemen?
Meine Herausforderung war, wie bei vielen Menschen meiner Generation, einen Weg zu finden, mit meinem konservativen Vater umzugehen. Dieser hatte sich mit 19 Jahren freiwillig zur Waffen-SS gemeldet. Nach dem Ende der Nazi-Diktatur löste eine Vergötterung der USA vorherige »Ideale« ab und blieb trotz »Rassendiskrimierung« und Indochina-Krieg bestehen.
Die Vereinnahmung durch meine Mutter innerhalb der Familie führte zu einer Triangulation, deren implizite Aufwertung meine Emanzipation förderte. Die damit verbundene Abwertung meines Vaters erleichterte mir die Suche nach anderen Vorbildern. Viele Jahre blieb es aber eher bei einer Suche, weil die für mich konkret erlebbaren Männer an lebendigen Beziehungen wenig Interesse hatten, sie konnten meinen »Vater-Hunger« nicht stillen.

Was ist dein politisch-thematischer Zugang?
Mein erstes »politisches« Erlebnis, an das ich mich erinnern kann, war die Beerdigung von Konrad Adenauer. Warum auch immer, rief die Aussage meines Vaters: »Da wird ein großer Mann beerdigt!« intuitiv Widerspruch hervor. Als ich 10 Jahre alt war, stand die kindliche Faszination an der Studentenbewegung und ihren Aktionsformen für mich im Vordergrund.
Die Entscheidung für den Leistungskurs Soziologie in der Oberstufe, in einer Zeit des Umbruchs und der Ermutigung, hat mir weitere Informationen über Veränderungsprozesse und gesellschaftliche Dynamiken ermöglicht.
Die konkreten Handlungen gegen altes Unrecht und die Bedrohung durch Ölkrise und Atomkraft haben den Glauben an die eigene Wirksamkeit befeuert und rückblickend sicherlich auch überhöht.
Das gesellschaftliche Klima des Wandels, weg von autoritären Mustern, führte bei mir zur Ablehnung von körperlichen Strafen, die Ausdruck des Gewaltmonopols der Eltern waren. Das Erleben von Veränderung, von Alternativen und den Erfolgen von Selbstorganisation in der Friedens-, Öko- und Anti-Atomkraft-Bewegung vermittelten mir die Idee, dass die Gesellschaft gestaltbar ist. Die zeitgleich wahrzunehmende gesellschaftliche Emanzipation der Frauen und damit aufgrund der Interdependenzen auch die Veränderung von Männlichkeit ist so immer ein integraler Bestandteil meines Lebens gewesen.

Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen, Männern und Vätern?
Da habe ich mehrere Themen und Beispiele. Etwa (1) die empathische und antizipierende Haltung bezüglich Opfererfahrungen. Ich war schon sehr enttäuscht, dass selbst im Schonraum eines sozialpädagogischen Studiums, 1980 war das, eine solche Haltung nicht verstanden wurde. Beispiel: Mir war es wichtig, wenn ich schnellen Schrittes durch nächtliche Straßen eine Frau vor mir geht, dann die Straßenseite zu wechseln, um sie unter Umständen zu nicht ängstigen. Auch heute noch wird eine solche Haltung vielfach aktiv abgelehnt.
Dann sind dies (2) eigene Opfererfahrungen. Ich konnte eigene Angstgefühle bei nächtlichen Unternehmungen (z.B. Disco-Besuche) wahrnehmen und mit manchen Freunden besprechen. Erfahrungen im Wehrdienst und der anschließenden Verweigerung des Kriegsdienstes schlossen sich an. Das Unverständnis vieler Männer jedoch, auch solche Sichtweisen zuzulassen, dauert bis heute an.
Ein wichtiges Thema ist für mich (3) die Körperarbeit. In meinen 20er Jahren konnte ich weitere Zugänge zu mir selbst über die Wahrnehmung meines Körpers durch Tai-Chi, kreativen Tanz, Meditation entwickeln. Auch kochen und essen – und ein bewusster Umgang mit diesen Themen – war eine befriedigende Arbeit mit Jungen hauptsächlich in der Gruppenarbeit.
Nicht zuletzt sind ein umspannendes Thema (4) die 1970er Jahre als prägende Zeit des gesellschaftlichen Aufbruchs. Eingebettet in eine »Blase« von selbstverständlicher Veränderung der Gesellschaft hin zu einer zukünftig gerechteren Welt waren (und sind) die Gleichberechtigung, die Angleichung der Lebensverhältnisse, die Förderung nach mehr individuellen Entscheidungsmöglichkeiten für mich immer Selbstverständlichkeiten gewesen.

Wie hat sich dein Engagement für Jungen, Männer und Väter entwickelt, ggf. verändert?
Ausgehend von den ersten Jungengruppen, die ich zu Beginn der 1980er Jahre in »meinen« Jugendhäusern initiierte, habe ich später in der Beratungsarbeit von Elternpaaren auch diesbezüglich thematisiert und gefördert. Dabei wurden schnell die besonderen Bedarfe von Vätern in der Beratung deutlich. Nach meiner eigenen Scheidung habe ich mich noch mehr mit anderen Männern getroffen und es entstanden erste Konzepte für konkrete Projekte in der Männer- und Väterarbeit. Parallel dazu gab es immer die geschlechtsbewusste Arbeit in Arbeitskreisen, die sich insbesondere mit Jungen und jungen Männer befassten.
Mit der Schaffung der ersten »Männerwohnung« wurde das systemische Handeln im Feld der konkreten Unterstützung von Familien und der Angleichung der Lebensbedingungen von Menschen, die als Frau und Mann definiert werden, konkret. Mit der Etablierung der Beratungsstelle »Männersache« 2011 und 2020 durch die MännerWohnHilfe e.V. wurde ein weiterer Schritt für die Wahrnehmung und Unterstützung von Männern als normal problembehaftete Menschen getan.

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche/historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Die eigene Scheidung und der gesellschaftliche Umgang damit haben mich sehr nachhaltig gefordert. Diese Erfahrungen haben mir erweiterte Sichtweisen auf Männlichkeitskonstruktionen ermöglicht.

Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deinen privaten und beruflichen Beziehungen?
Auch da gibt es mehreres. Das Buch »Männerphantasien« von Klaus Theweleit gehört dazu. Dann das Erleben einer eigenen, schweren Körperverletzung und des Fakts, dass diese niemanden kümmert, das hat mich dann Jahre später beschäftigt. Besonders interessant war dabei, dass es auch mich selbst zunächst nicht »beschäftigt« hat. Dies hat mich aufgefordert, mich mit der Dimension »Opfer« und Opfererfahrung noch eingehender zu beschäftigen. Eine weitere wichtige Erfahrung sind die Reaktionen bzw. Nicht-Reaktionen von »Kolleg:Innen*« wie auch der Öffentlichkeit auf die Haltung »Parteilichkeit für Männer*«. Diese zeigen in vielfältiger Weise, welche Sorgen und Ängste es auslöst, wenn Männer sich Sorgen und Ängsten anderer Männer gegenüber öffnen. Auch wenn dies – eigentlich – eine zutiefst menschliche Haltung ist, sind die vielfältigen Vorbehalte immer wieder Anlass zur Verwunderung.
Schließlich hat mich die Konfrontation mit zwangsverheirateten Männern gelehrt, etwa 2005 war das, dass auch dreißig Jahre geschlechtsspezifische Arbeit nicht alle blinden Flecke für das eigene Geschlecht beseitigen.

Drei Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und Beziehungen zu anderen ausmachen?
Unsicherheit – deshalb im Kontakt lieber erst einmal etwas anbieten, dies schafft Initiative und strukturiert die Entwicklung. Fürsorglichkeit – sich heimlich ebenbürtig bis überlegen fühlen, die geliebte Konkurrenz als Verhinderer und Förderer von Beziehung und ein Weg, meine Kompetenzen zeigen zu können. Spontaneität – andere und manchmal auch mich selbst überraschen.

Was ist für dich »Erfolg« in deiner Auseinandersetzung mit Jungen-, Männer- und Väterthemen? Hast du Beispiele?
Ja, zum ersten ist das die Schaffung von Räumen, in denen Männer sich neu entdecken können. Zum Beispiel denke ich an die Beratung eines sehr »schlichten« Mannes, der in wenigen Sitzungen sein vergangenes und aktuelles Leben durchgearbeitet hat.
Zum Zweiten ist das die Ermöglichung der Verantwortungsübernahme von Männern für ihre Beziehungen. Und dazu beispielhaft ganz klar: Die Gründung des Vereins »MännerWohnHilfe e.V.« und sein inzwischen mehr als 20-jähriges Wirken für Männer in Oldenburg durch die Schaffung einer Rückzugswohnung und eines Beratungsangebots.
Und zum dritten: Möglichst authentisches Handeln in den persönlichen Beziehungen. Mein persönliches Beispiel ist meine Beziehung zu meinem verstorbenen Vater, die zunächst von erheblichen Dissonanzen geprägt war. Im Laufe der Zeit, insbesondere durch das gegenseitige Erleben im Kontakt mit meinen Kindern, konnte sie bearbeitet und zum Ende befriedet werden. Das würde ich ebenso als Erfolg bezeichnen.

Was gibt dir persönlich Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen?
Etwas von meinem Optimismus, meiner Mit-/Leidensfähigkeit und Engagement/Solidarität teilen und im besten Fall jemandem auch mitgeben zu können.

Was ist dir (mit) gelungen, worauf bist du (zusammen mit anderen) vielleicht auch stolz?
Die Beziehungen zu meinen Kindern erhalten zu haben und nur noch manchmal über die nicht gemeinsam gelebten Zeiten zu weinen. Dann sicher auch der Aufbau eines Angebots für Männer, das sich ausschließlich für Menschen und für Lösungen einsetzt. Einen Verein mitzugestalten, dem seine Gründungsmitglieder nach mehr als zwanzig Jahren immer noch angehören und der bis heute innovative Ideen zur Männerarbeit umsetzt, darauf bin ich schon stolz.n

Mit welchen Institutionen und Personen warst du gerne beruflich oder privat verbunden oder bist es noch?
Das »Switchboard« war lange Zeit die wesentliche Quelle der Verbundenheit und Inspiration mit »der« Männerbewegung. Auf die Ferne war damit Alexander Bentheim mir ein Korrektiv und ein Begleiter. Hans-Joachim Lenz habe ich auf der Suche nach Austausch aufgesucht und einen inspirierenden Kontakt gefunden. Auch wenn wir uns erst relativ spät, 2015, persönlich befreundet haben, ist dies der einzige Kontakt, den ich über das Engagement in der Männerarbeit persönlich vertieft habe. Inhaltlich verbunden fühle ich mich mit Björn Süfke, Frank Scheinert und Markus Theunert, mit denen ich in sehr unterschiedlicher Weise im Austausch war. Und nicht zuletzt waren die Debatten und die vielen vielfältigen gemeinsamen Erfahrungen im Kreis der Aktiven unseres Oldenburger Vereins für mich immer wieder Motor und Feedback für die Entwicklung von neuen Ideen.

Was hat die Männer/* ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast?
Der gemeinsame Lernprozess als privilegierte, weiße, inzwischen alte Männer, die sich normal unsicher in ihrer heteronormativen Identität fühlen und dies gemeinsam und in individuell sehr unterschiedlicher Weise geteilt und gelebt haben, das hat mich am stärksten beeinflusst. Die Normalität unseres Mannseins und das Besondere, dass wir eine gute Balance zwischen Intimität und Losgelöstheit schaffen konnten, hat uns ausgemacht.

Wo siehst du Brüche in deinen beruflichen oder freundschaftlichen Beziehungen? Wodurch wurden diese verursacht?
Brüche gab es viele, wie in diesen Zeilen sicht- und vielleicht auch spürbar wird.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis vom Umgang mit Jungen-, Männer- und Väterthemen?
Zunächst: Die hartnäckigsten Widerstände sehe ich in der gemeinsamen Abwehr von Verletzlichkeit, emotionaler Zuwendung und Sicherheit von persönlichen Beziehungen von Männern durch traditionelle Männer und große Teile der Frauenbewegung. Vertreter traditioneller Männlichkeit führen den intrapsychischen Kampf gegen die Abspaltung von Gefühlen im Außen – sowohl als Kämpfer gegen den Feminismus als auch durch die Unterstützung von Forderungen der Frauen*. Viele feministische Forderungen sind, obwohl sie aus den 1970er Jahren stammen, noch immer nicht erfüllt. Deswegen ist bis heute der bestimmende Blickwinkel der Emanzipation vom damaligen Ansatz der Klassengesellschaft, dass nur die ökonomischen Machfragen für die gesellschaftliche Reflexion wichtig sind, geprägt und verengt. Der Gender-Pay-Gap etwa in der Care-Arbeit ist bekannt. Die Vorteile für die seelische Gesundheit, sich gegen die kapitalistische Ausbeutung zu entscheiden, bleiben unerwähnt. Männer spüren diese Defizite. Frauen werden nicht als Entscheiderinnen über diese Fragen angesehen. So lange aber die emotionalen »Gewinne« nicht erreichbar erscheinen, wird auch der Verzicht auf den »Lohn« der Entfremdung problematisch bleiben. Ich bin glücklich darüber, dass ich diesen Versprechungen der Emanzipation gefolgt bin und mein Leben berührend und bewegend erlebt habe.
Dann dies: Männer werden in vielen Forderungen und Ansätzen mit dem Patriarchat gleichgesetzt. Jeder Mann wird als dessen Vertreter gesehen. Auch wenn die patriarchale Dividende eine sinnvolle Perspektive der Betrachtung ist, ist sie doch nur eine unter vielen und hat nur eine begrenzte Aussagekraft. Die Gleichsetzung von Mann und Patriarchat führt zu permanenten Rechtfertigungshaltungen und zu Abwehr. Sie verstärkt die Spaltung und die Konfrontation. Für eine Veränderung wäre aber die Stärkung gemeinsamer Ziele notwendig. Wenn die Ausgangspunkte unterschiedlich sind und wenn ein gemeinsames Ziel das der »gendergerechten« Gesellschaft ist, dann kann dies nur auf zwei verschiedenen Wegen erreicht werden. Insofern kann die weibliche Perspektive auch nicht die Richtung der Entwicklung der Männer vorgeben. Die beiden Entwicklungsstränge müssen aufeinander bezogen und unabhängig sich ergänzend, aber eben nicht gleich sein.
Bei der Frage: »Wie stehst Du als Mann zur Emanzipation?« geht es nicht um die Rechtfertigung einer Schuld, sondern um die Frage der Verantwortung. Und es geht auch nicht um die Vergangenheit, sondern um die Gestaltung der Zukunft. Solange Frauen glauben, die Entwicklung von Emanzipation müsse sich nur an ihrer Sichtweise orientieren, wird es aber keine Arbeit auf »Augenhöhe« geben. Ein unabhängiger, eigenständiger Weg würde die notwendige eigene Motivation von Männern ermöglichen. Schuld ist keine hinreichende Motivation.
Schließlich: Eine anhaltende Monopolisierung des Opferseins verstärkt den Dissens. Das »Schuldkonto« befeuert nicht nur in vielen gewalttätigen Beziehungen die Gewaltspirale, sondern behindert auch die Entwicklung einer gendergerechten Gesellschaft.

Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deiner Arbeit an?
Das gute Gefühl, mit den anderen Männern zusammen Neues gestalten und unseren Weg als Männer gehen zu können.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest? Und was möchtest du gegen Ende deines Lebens erreicht haben?
Da bin ich mir nicht sicher, ob ich nur zu wenig ehrgeizig bin oder ob nicht schon die Sichtweise, dieses oder jenes Projekt müsse noch erreicht werden, ein Kernproblem von Männlichkeit ist. Gerne würde ich sehen, dass andere Männer unser Oldenburger Projekt nutzen, um es auf ihre Weise weiterzuentwickeln.

 

 
 
 
 
 
 
:: Wolfgang Rosenthal, Jg. 1958. Ich wohne seit 1989 in Oldenburg, habe zwei leibliche und zwei Stiefkinder, dazu fünf Enkelkinder. Ich bin Mitbegründer der »MännerWohnHilfe e.V.«, systemischer Berater, Coach und Supervisor, und war in den letzten 33 Jahren hauptberuflich im Jugendamt tätig.

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Ich bin ein Kind der 1960er-Jahre und daher mitgeprägt von der Adenauer-Ära. Meine Großväter und mein Vater waren sehr in ihre jeweiligen Arbeiten eingebunden, in der Metall- und Textilindustrie und mit Karrieren als Meister oder zumindest Vorarbeiter, aber auch damit beschäftigt, ihre Kriegserlebnisse »zu verarbeiten«; die Schatten der Nazi-Zeit waren lang. Der mütterliche Teil meiner Familie musste die eigene traumatische Fluchtbiographie bewältigen.
Ich war in den 1970ern auf einer reinen Jungenrealschule, die einen hohen Anspruch an sich hatte, aber wenig pädagogisches Grundverständnis entwickeln konnte. Die ersten Lehrerinnen wurden als exotische Wesen wahrgenommen, von uns als Schülern und auch vom alten männlich-traditionellen Lehrerkollegium. Dank der damaligen Bildungsreform konnte ich dann Abitur machen und habe schließlich – nach einem kurzen Versuch, evangelische Theologie zu studieren – Zivildienst in einer stationären Einrichtung der Jugendhilfe gemacht und dann an der Uni in Bielefeld den Abschluss als Diplom-Pädagoge.
Im Studium war einer meiner Schwerpunkte die Sexualpädagogik. Weil damals auch schon Männer in der pädagogischen Arbeit fehlten, bekam ich Anfragen für die Arbeit mit Jungengruppen zu sexualpädagogischen Themenbereichen. Das hat sich mit vielen inhaltlichen Variationen bis in die 2020er-Jahre fortgesetzt. Ich habe nach dem Studium bei Pro Familia, bei der AWO, der Diakonie und der Caritas gearbeitet. Von 1993 bis 2023 war ich in Beratungsstellen tätig, lange auch in Leitungsfunktionen. Und da ich immer auf der Suche nach Wegen zu mir selbst war, um mich selbst besser verstehen zu lernen, habe ich auch mehrere Zusatzausbildungen gemacht.
Privat fahre ich gerne Motorrad, gehe gern laufen (am liebsten am Meer), liebe das Bogenschießen und mag Fantasie-Geschichten wie »Das Rad der Zeit« und »Star Wars«.
Diese biographischen »Rohdaten« sind wichtig, um zu verstehen, warum die Männer- und Jungenarbeit immer eine Rolle für mich gespielt hat. Denn die Frage nach der eigenen Identität ist für mich immer auch eine geschlechtsspezifische und die Wurzeln liegen in der eigenen Biographie. Auch hier spielt die Variable »Geschlecht« und die daran geknüpften Erwartungen aus dem sozialen Umfeld eine große Rolle. So war in meiner Herkunftsfamilie immer klar, dass ich als erstgeborener Sohn eine ganz bestimmte Rolle mit klar definierten Aufgabenbereichen zu erfüllen habe. Die familiären Erwartungen und die damit verbundenen Introjekte waren so also immer an die Rolle als Junge und dann später als Mann geknüpft.

Was war oder ist dein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen-, Männer- und Väterthemen? Was dein politischer und fachlicher Zugang?
Bei mir ist das ganz klar die Suche nach dem »Wer bin ich?«, »Wo komme ich her?« und »Bin ich richtig, so wie ich bin?« Meine männlichen Vorbilder, mein Vater und meine Großväter, haben mir ganz klassische Biografien vorgelebt. Vorbilder, denen ich folgen wollte und ich dann doch gemerkt habe: »Diese Schuhe passen mir nicht richtig.« Irgendetwas stimmte nicht, aber woran liegt das? Aus dieser »Defizit«-Wahrnehmung und den Erwartungen an mich entstand nach und nach die Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle. Als Kind hatte ich die Vorbilder »Old Shatterhand«, »Winnetou«, »Dietrich von Bern« und »Der rote Kosar«. Als Jugendlicher waren mir eine Zündapp GTS 50, der Film »Easy Rider«, Lederjacken, »bloß keinen Tanzkurs machen!« und »Rebellen sind cool« wichtig. Als junger Erwachsener stand ich auf den Ford Fiesta GT, fragte nach lebenswerten Werten, ging zu Kirchentagen, war Kindergottesdiensthelfer, Kriegsdienstverweigerer und schließlich Zivildienstleistender, der sich fragte, was aus ihm einmal werden soll.
So wie mein Vater wollte ich nicht leben, aber wie dann? Arbeit hatte trotz allem einen hohen Stellenwert, nur welchen? Identitätsstiftend soll sie sein, aber wie für mich? Und Sexualität: wie soll ich damit umgehen, wo kann ich mich orientieren? Gleichzeitig fragen und sprechen ging nicht. Im Hintergrund das gesellschaftliche Rauschen um Willy Brandt und »Mehr Demokratie wagen«, eine Bildungsreform, Lehrer auf dem Weg zu sich selbst, die Nachrüstungsdebatte, Wohngemeinschaften als Lebensform, Helmut Kohl und die Spendenaffäre. Ich war auf der Suche nach etwas, das ich nicht klar definieren konnte, und fühlte mich angesprochen von BAP in »Fuhl am Strand«: »Hey, Vorbild, dank dir schön, ich glaub, ich bekomm es langsam selber hin«. Trotzdem wirken sie, diese männlichen Vorbilder, gerade wenn sie aus dem Familiären kommen. Das Männliche war irgendwie konstant, nur alle Fragen drumherum nicht. Wie Mannsein richtig geht, konnte mir niemand sagen, die realen Vorbilder waren jedenfalls nicht die, die mich fasziniert hätten. Also weitersuchen.
Entscheidend war dann, dass ich selbst Vater wurde. Als ich das erfuhr, konnte ich eine Woche nicht schlafen. Ich wusste einfach nicht, wie ich diese Rolle, die Verantwortung meistern könnte oder müsste. Das Pädagogik-Studium gab ein paar kleine Antworten und Denkansätze, aber so richtig zufriedenstellend war das nicht. Es gab einige Männer, die ähnlich unterwegs waren wie ich, was auch hilfreich war, dennoch gab es in dieser Szene auch viel warme Luft, Narzissmus, Konkurrenz und den einen oder anderen Abstoß. Die alten Männlichkeitsmythen wirkten auch hier noch.
Heute würde ich sagen: es war ein dynamischer Prozess, Ergebnis offen. Er wurde geprägt von vielfältigen Einflüssen, den damaligen Politiken, individuellen Beziehungserfahrungen, eigenen scheiternden Gehversuchen und immer wieder der Sehnsucht: Da muss doch was sein! Aber liegt es an mir? Am Patriachat? Stelle ich mich einfach nur an? Wichtig war für mich eine Erfahrung, die am Ende jeder Aus- und Fortbildung angesichts der anstehenden Prüfung die wiederkehrende Frage »Kann und schaffe ich das überhaupt?« aufwarf. Viele Selbstzweifel traten in diesen Phasen nach vorne. Als mir das klar wurde und ich – auch dank der Trauma-Ausbildung – mehr und mehr die Verhaltensmuster verstand, konnte ich Stück für Stück mehr in die innere Ruhe finden. Ich hatte endlich Erklärungen, welche Personen und Themen und Einflüsse mich auf meiner Suche nach meiner Männlichkeit auf welche Weise beeinflusst haben und es teils immer noch tun.
Jetzt, mit 62 Jahren, ändert sich mein Bild von mir als Mann noch einmal, der ergebnisoffene Prozess läuft also weiter. Aber auf einem anderen Niveau. Es gibt nach all den Jahren und Lebenserfahrungen mehr Selbst-Akzeptanz. Nur das fällt noch schwer: Meine Enkelin Paula sagt »Opa« zu mir, eine Spielart von Mannsein, die ich nicht so gut annehmen kann. Denn »Opa« hat was mit offenen Sandalen und weißen Socken und Flecken auf einem alten Hemd zu tun. Das mag ich nicht. Und trotzdem entspricht das Bild der Rollenerwartung meiner Enkel an mich, ganz geschlechtsspezifisch.

Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen, Männern und Vätern?
Da bin ich wohl immer noch Gestalttherapeut. Die Jungen und auch Männer und Väter haben ja das Recht, mit ihren ganz eigenen Themen zu kommen. Die sind vielfältig und variantenreich, bunt und schillernd, auch traurig und sehr bewegend. Meine Aufgabe ist, mit ihnen im Kontakt zu schauen: »Was bringst du mit? Wo willst du hin? Wie kann das gelingen?« Bei den Jungen bin ich, je nach Alter und Entwicklungsstand, auch direktiv, schließlich habe ich mehr Lebenserfahrung und kenne die eine oder andere Klippe im Meer des Lebens. Bei jungen Männern in ihren 20ern erlebe ich oft, dass diese ein eindeutiges Coaching ansprechen und auch fordern; ihre Themen sind aktuelle Lebenskrisen, Partnerschaften, Gestaltung der beruflichen Biographie. Da haben sich Haltung und Auftrag der Klienten gegenüber früher verändert. Ältere Männer in ihren 40-50ern brauchen oft mehr Raum und Zeit, um ihre Themen benennen zu können. Hier spielt auch Scham eine Rolle. »Bin ich Ordnung, wenn ich als Mann Hilfe und Unterstützung brauche? Darf ich das überhaupt?« In der Paarberatung, wenn Kinder ein Thema sind, kommt das eigene männliche Rollenbild deutlich zum Tragen. Die Wünsche der Partnerin und Mutter werden zwar erkannt, gewürdigt, respektiert, doch es fehlt den Männern an »Werkzeugen« für die Umsetzung, um ihr und den Kids auch gerecht zu werden. Da sind die jungen Männer in den 20ern und 30ern deutlich flexibler.
Natürlich sind das nur recht grobe Zuschreibungen. Die Motivationen, sich auf die Auseinandersetzung mit den eigenen Bildern einzulassen, sind so vielfältig wie die eigenen Biographien und die Dynamiken der Partnerschaften. Wiederkehrende Themen sind die eigene und partnerschaftliche Sexualität einschließlich Lust auf Männlichkeit und Potenz, Umgang und Verbalisierung von Ängsten, Vorstellungen von Erfolg, das Gelingen von Partnerschaften, erlebte Verletzungen und Kränkungen mit ihren Wirkungen, die Furcht vor Einsamkeit, nicht ausgesprochene Traurigkeiten. Viele Themen kreisen auch um Trennung und Scheidung und die daraus entstehenden Probleme und Fragen, die bis hin zur Begleitung bei Prozessen vor dem Familiengericht reichen können, z.B. Regelung der Besuchszeiten, Unterhaltszahlungen, Umgang mit erlebter oder ausgeübter Gewalt und Kränkungen in der Beziehung, Zukunftshoffnungen und -ängste, Rettungsphantasien.

Wie hat sich dein Engagement für Jungen und Männer oder Väter entwickelt, ggf. verändert?
Es verändert sich immer wieder. In den Beratungsstellen gab es einen festen Rahmen durch Gesetze, Verträge und Finanzierungen. Aktuell kommen Selbstzahler. Dadurch verändert sich das Klientel, mit dem ich arbeite. Gleich geblieben sind allerdings die genannten Inhalte. Selbstzahler erlebe ich aktuell als sehr motiviert. Die ratsuchenden Männer wollen für sich weitere Schritte gehen und sind aktiv in diesem Prozess engagiert.
Für Jungen biete ich nach wie vor Projekte an. Es gibt mittlerweile mehr Männer, die das tun, und ich begrüße das. Gleichzeitig ist hier auch ein »Markt« entstanden, einzelne Kollegen leben von dieser Projektarbeit, was wiederum übliche wirtschaftliche Sachzwänge schafft. Trotzdem halte ich für gut, dass sich dieses Berufsfeld mehr und mehr professionalisiert. Das biete für viele Jungen Chancen. Vor 10-15 Jahren sah das Feld noch anders aus, da fehlte dieser Ansatz.
Mit der LAG Jungenarbeit NRW arbeite ich immer noch zusammen. Auch hier ist wunderbar zu beobachten, dass die Jungenarbeit dank des Engagements der Mitarbeitenden einen hohen professionellen und akzeptierten Standard erreicht hat.
Was über die Jahre gleichgeblieben ist: die meisten Jungenprojekte werden nach wie vor von weiblichen Fachkräften bzw. Lehrerinnen initiiert.
Meine innere Arbeitshaltung ist ruhiger geworden. Früher habe ich viel mit der Dynamik der jeweiligen Gruppe gearbeitet. Heute kann ich aus der Ruhe heraus andere Impulse setzen.

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche / historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
In meiner subjektiven Wahrnehmung gibt es – wie beschrieben – Unterschiede in den Generationen. Die jüngeren Männer schauen in ihren 20-30er Jahren bewusster und reflektierter auf ihre Rolle. Vor allem, was das Thema Vaterschaft angeht. Diesen Unterschied erkläre ich mir damit, dass (a) die jungen Mütter und Partnerinnen dieser Männer ihre Ansprüche und Rechte bewusster einbringen und Familie auch anders leben wollen als in früheren Generationen; (b) Bildung und Ausbildungen, auch Verdienste und materielle Sicherheiten heute in einem viel direkteren Zusammenhang damit stehen; (c) über die Jahre hinweg die Geschlechterdiskussionen offensichtlich doch fruchtbar waren: es hat sich etwas bewegt. Wer das wie bewertet, das bleibt wahrscheinlich immer sehr subjektiv. Mir persönlich jedenfalls haben die gemachten Erfahrungen viel Sicherheit gegeben.
Wichtig für mich war die Trauma-Ausbildung. Hier habe ich noch einmal gut gelernt und letztendlich auch verstanden, dass nicht ich Erfahrungen mache, sondern – im bewussten Widerspruch zum vorherigen Satz – die gemachten Erfahrungen mich gemacht haben. Die Trauma-Theorie kann hier vieles gut mit der Psychoedukation erklären und nachvollziehbar machen, was mich lange beschäftigt hat und was ich vorher nicht, dann aber sehr gut »greifen« konnte.

Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deinen privaten und beruflichen Beziehungen?
Was für mich ein riesiger Schatz war und ist, das sind die vielen intensiven Begegnungen mit Männern und auch Jungen in der Beratung, in der Projektarbeit, auf Fortbildungen. Teilweise wurden daraus langjährige Freundschaften bzw. tragende Beziehungen, die immer auf irgendeine Weise mit »Männerthemen« verbunden sind. Gleichzeitig sind sie sehr individuell und bunt und vielseitig und wirklich bereichernd.
Ich habe auch von nicht wenigen Förderschülern so viel gelernt. Diese Jungs haben mir Verhaltensweisen gezeigt, die ich als sehr herausfordernd erlebt habe. Und gleichzeitig, in der konstruktiven Auseinandersetzung, habe ich Stück für Stück verstanden, warum dieses Verhalten dieser Jungs ganz viel Sinn macht. Durch sie habe ich gelernt »in Mustern« (Verhaltensmustern und deren Ursachen) zu denken. Das war ein tolles Geschenk. Oder um es mit dem »Konzept des guten Grundes« meines Trauma-Ausbilders Lutz-Ulrich Besser zu sagen: diese Jungs waren sehr authentisch.

Drei Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und Beziehung zu anderen ausmachen?
Selbstlob fällt mir schwer, da bin ich doch sehr protestantisch sozialisiert! Aber Humor gehört zu mir (als geborener Rheinländer, der seit 1984 in Ostwestfalen lebt) und beständig neugierig, weil stets auf dem Weg, mich und andere besser zu verstehen. Und immer noch hungrig danach, in dieser verrückten Welt Sinn und Perspektive zu finden. Ich habe das große Glück, in meiner eigenen Familie viel Sicherheit und Stabilität zu bekommen, das kann ich dann auch gut weitergeben; ein riesiger Schatz.

Was ist für dich Erfolg in deiner Auseinandersetzung mit Jungen-, Männer- und Väterthemen? Hast du Beispiele?
Kürzlich war ich mit einem in seiner Seele sehr verletzten Jungen beim Bogenschießen. Er hat 15 von 20 Pfeilen auf eine Entfernung von ca. 18 Meter in ein sehr kleines Ziel gesetzt. Was er aufgrund seiner vielen unterschiedlichen Diagnosen und dass er es im Leben wirklich nicht leicht gehabt hat, eigentlich gar nicht hätte bewerkstelligen können. Aber er war erfolgreich, und wir haben uns beide sehr gefreut. Das sind die kleinen Augenblicke, die viel bewirken, auch wenn das nicht messbar ist. Die Kunst ist für mich als Pädagogen, viele dieser kleinen Situationen zu schaffen und daraus step-by-step etwas Größeres entstehen zu lassen. Ich denke, das gelingt nur durch Kontakt- und Beziehungsarbeit.
Ein anderes Beispiel ist ein Junge, den ich schon lange beruflich begleiten darf. Seine Eltern haben hohe Berufsabschlüsse und Geld spielte in der Familie nie eine Rolle. Der Sohn wurde aber nie so gesehen, wie er es sich gewünscht hat. Er entsprach nicht den Erwartungen der Eltern. Er hat nur Einsen in der Schule und zieht weiße Hemden zur Zeugnisübergabe an. Aber er ist einsam, kämpft in der Familie immer wieder um Akzeptanz, hat keine Freunde und wurde im System Schule zum Mobbingopfer. Als die Eltern dann angefangen haben, die Situation ihres Sohnes mehr und mehr zu verstehen, beide an der Schule für ihn kämpften und einen Wechsel ermöglichten, erging es ihm zusehends besser. Diesem Jungen fehlt noch viel an Unterstützung, aber das ist schon mal gelungen und war ein kleiner, aber deutlicher Erfolg.
Ein drittes Beispiel habe ich aus der Paarberatung. Ein beruflich erfolgreicher Mann konnte seiner neuen Partnerin erzählen, dass er nie emotional positive Körperberührungen durch seine Eltern erlebt hatte. Körperlichkeit und Nähe waren dagegen immer direkt mit Sexualität verbunden, diese wiederum sehr stark mit Leistungsdruck (»seinen Mann stehen müssen«). Was zu noch mehr Druck führte, so dass er nie darüber sprechen konnte. Mit der Beratung war dies aber endlich möglich, ein wichtiger Schritt zur Klärung seiner Probleme.
Das sind für mich drei Beispiele für sicher nur kleine Erfolge, die aber doch einen guten Weg weisen.

Was gibt dir persönlich Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen?
Das ist relativ einfach zu beantworten: Lachen, Spaß, erlebte Leichtigkeit. Im Kontakt mit Anderen Ideen, Projekte, Inhalte weiter gestalten zu können, dazu dann auch die Rückmeldungen der Klienten und Kooperationspartner. Zu sehen, dass meine Arbeit angenommen wird, ich immer wieder angesprochen werde und dass sich begonnene Prozesse weiterentwickeln können. Zusammengefasst: Positive Kontakte, aus denen sich neues Kreatives entwickelt; die gute Balance zwischen Selbstwahrnehmung und externer Rückmeldung; das Gefühl von Selbstwirksamkeit in einer verrückten Welt.

Was ist dir (mit) gelungen, worauf bist du (zusammen mit anderen) vielleicht auch stolz?
Ich bin Gründungsmitglied der LAG Jungenarbeit NRW. Ich bekomme Anfragen und Aufträge, konnte ein Image entwickeln und lebe quasi auch von meinem »Ruf«. Da wo ich mich für Jungenarbeit eingesetzt habe, ist etwas geblieben, es gibt kleine erkennbare Spuren. Und ja, ich habe mich mit meinen Themen weiterentwickelt und konnte auf diesem Weg anderen gerecht werden. Das freut mich.

Mit welchen Institutionen und Personen warst du gerne beruflich und privat verbunden oder bist es noch?
Mit sehr vielen ehemaligen Kollegen und Kolleginnen aus den verschiedenen Institutionen, in denen ich unterwegs war, aber auch mit freiberuflichen Kollegen und Kolleginnen. Glücklich bin ich darüber: aus den Gründungszeiten der Jungenarbeit sind viele positive Beziehungen und Kontakte erhalten geblieben, und aus diesen heraus gibt es auch jetzt noch schöne und gute Kooperationen, etwa mit der LAG Jungenarbeit NRW. Und es gibt Vernetzungen zum Thema Trauma mit den Kolleg*innen um den Jugendhof Vlotho. Auch hier hat sich die positive Kultur der Zusammenarbeit erhalten. Nicht zuletzt ist es auch die Familie mit den daraus entstandenen Verzweigungen, das spielt für mich eine ganz große Rolle.

Was hat die Männer ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast?
Es gab immer Gemeinsamkeiten, dabei auch sehr oft die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechterrolle, aber ebenso mit dem Moped fahren, zusammen durch den Teutoburger Wald laufen oder verlorene Pfeile wiedersuchen. Vielleicht ist »auf der Suche sein« ein Merkmal meiner Generation: verstehen wollen und daher viel Bereitschaft zum Nachdenken. Der Liedermacher Klaus Hoffmann sagt es mit der Liedzeile: »Diese Kinder erkennen sich am Gang«. Das meint für mich das Gefühl und das Wissen, da teilt jemand mit mir ein Thema, es gibt gemeinsame Schnittmengen, »etwas« verbindet uns. Ich habe wenig destruktive Konkurrenz erlebt, die Lust auf Abenteuer, auf Spaß, Lachen und Freude am Tun – klischeehaft so ein bisschen wie in den Zigaretten-Werbungen – standen im Vordergrund.

Hast du eine Lebensphilosophie, ein Lebensmotto?
Ja, mehrere, aus verschiedenen Quellen: »Nur im Kontakt mit dir kann ich mich finden« (aus der Gestaltarbeit), »Nicht ich mache Erfahrungen, Erfahrungen machen mich« (aus der Traumatherapie) und »Der Weg ist das Ziel«, was sich ziemlich abgegriffen anhört, aber dennoch für mich gilt.

Wo siehst du Brüche in deinen beruflichen oder freundschaftlichen Beziehungen? Wodurch wurden diese verursacht?
Brüche und dann Veränderungen gab es immer dann, wenn verschiedene »Dynamiken der Entwicklung« unterschiedliche Geschwindigkeiten entfalteten, etwa als ich Vater wurde. In meinem Umfeld war ich einer der ersten, das hat mein Leben verändert, sowohl hinsichtlich meiner ganz alltäglichen Aufgaben bis hin zur inneren Haltung.
Beruflich veränderte sich einiges mit der Übernahme der ersten Leitungsfunktion. Da gab auch so etwas wir Neid, Skepsis, Reserviertheit. Jetzt, mit 62 Jahren, kann ich aber auch sagen: die Brüche waren gut, sie haben zu meiner Weiterentwicklung beigetragen, haben mich gefordert, ich musste hier und da etwas verändern. Die oft zitierte Weisheit »Krise als Chance« ist vielleicht etwas übertrieben, bei mir war es aber so, dass durch die Brüche immer auch Bewegung entstand. Und parallel gab es dann auch Entwicklungen im Selbstbewusstsein, mit der Erfahrung: Ich komme auch nach Brüchen klar, ich muss vor Veränderungen nicht so viel Angst haben.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis vom Umgang mit Jungen-, Männer- und Väterthemen?
Der Diskussionsbedarf innerhalb der Jungen-Männer-Szene war oft größer und anstrengender als mit Menschen – Frauen, Männern, Vätern – außerhalb dieser Peergruppe. Vielleicht ist das auch einer der Gründe, dass ich mich eher am Rand dieser Szene sehe und nicht im Zentrum. Ich bin ganz dankbar, dass die Jungen- und Männerarbeit nicht der alleinige Schwerpunkt meiner beruflichen Orientierung geblieben ist. Auch wenn sie mich immer noch gut begleitet. Ich bin von daher in keinem aktiven Gremium mit dieser Schwerpunktsetzung. Das ist auch gut so.

Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deiner Arbeit an?
Die protestantische und sozialdemokratische Arbeitshaltung meiner männlichen Vorfahren und die Chance, damit ebenso selbstwirksam zu werden und mein Geld zu verdienen. Weiterhin die stete Suche nach Antworten; Spaß an dem, was ich tue und mich immer wieder gut selbst spüren zu können; das Wissen um die Erfahrungen, die den Alltag leichter machen; der Wunsch, in dieser verrückten Welt kleine positive Impulse zu setzen. Und auch Anerkennung und Lob von außen so wie die Abenteuerlust auf Neues.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeit dazu hättest? Und was möchtest du gerne gegen Ende deines Lebens erreicht haben?
Ein »Bielefelder Büro für Beratung und Supervision« (BBBS) wäre ein Traum. Ein loser Zusammenschluss von engagierten Kolleg:innen, die Angebote und Projekte speziell für die sozialen Arbeitsfelder Kita, Schule, stationäre Jugendhilfe, Jugendämter, Beratungsstellen entwickeln. Mit passenden Antworten und Perspektiven für engagierte Teams und Leitungen, um diese angesichts gegenwärtiger Überlastungen, die strukturell defizitär bedingt sind, zu unterstützen und damit zu entlasten. Parallel dazu wäre es schön, die Beratungsarbeit mit Jungen und Männern weiter zu verbessern. Wenn ich einmal abtrete, wären schön bebilderte Erinnerungen an mich bei denen, die noch bleiben, schon cool.
 
 

 
 
 
 
 
:: Dirk Achterwinter, Jg. 1961, Diplom-Pädagoge, mit weiteren Qualifikationen als Sexualpädagoge, Gestalttherapeut, Systemischer Supervisor (DGSv) und Traumatherapeut, die je auch immer meinem Wunsch eines Selbstfindungsprozesses folgten. Ich lebe mit meiner Partnerin in einer langen Beziehung seit 1979, habe einen Sohn, eine Tochter und zwei Enkelkinder. – www.achterwinter-beratung.de

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