»Zuhören, in beide Richtungen, und nicht versuchen, andere Menschen zu bekehren.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Jeff Hearn, Örebro

Animation zweier Bäume mit Gesicht im Gedankenaustausch

Interview, übersetzt: Alexander Bentheim (Original in englisch)
Fotos: wildpixel, iStockphoto.com | privat

 
Ich bin Jeff Hearn, geboren 1947 in London. Ich habe in Charlton gelebt, in der Nähe des Fußballplatzes, auch in der Nähe des berühmten Greenwich-Meridians mit seiner Mittleren-Ortszeit-Linie. Vielleicht hat das mein Interesse an Geografie geweckt … und dann an Kolonialismus und Imperialismus.

Mein familiärer Hintergrund war respektabel, aufstrebend aus der Arbeiterklasse, aufbauend auf dem ausgeprägten Gefühl meiner beiden Eltern, Bildungschancen verpasst zu haben, auch wenn mein Vater bis zu seiner Pensionierung in einer leitenden Position landete.

Mein Interesse an Feminismus, Gender und dann an Männern und Männlichkeiten kommt aus vielen Richtungen. Ich sehe zum Beispiel deutliche familiäre Einflüsse von meiner Schwester, meiner Mutter, meinen Großmüttern und vor allem der Urgroßmutter; und ich könnte auch erwähnen, dass mein Interesse unbewusst entstand, als ich mit sieben Jahren plötzlich von all meinen besten Freundinnen in eine geschlechterhomogene Schule für Jungen versetzt wurde, wie es damals völlig normal war – die Bedeutung dessen wurde mir erst viele Jahre später klar. Dieses Erziehungsmuster blieb dann auch bis zur Einheitsschule an der Universität bestehen – und das war 1965, nicht etwa 1865. Dort waren »die Sechziger« in vollem Gange; ich machte meinen Abschluss im Mai 1968, erlebte die Studentenrebellion, soziale Bewegungen einschließlich neue Sexualpolitiken, den irischen Republikanismus, Frieden, Gemeinschaft, grüne Alternativen, generell neue Formen der Organisation und Bildung. In dieser Zeit studierte ich den afrikanischen Kontinent und besonders Südafrika mit seiner Apartheid; in vielerlei Hinsicht ging die Klassen- und Rassenpolitik der Geschlechterpolitik voraus.

Später fing ich an, die feministische Zeitschrift »Spare Rib« zu abonnieren, engagierte mich ab 1978 öffentlich in antisexistischen Männergruppen (was damals manchmal »Männerpolitik« genannt wurde) und in der feministischen Kinderbetreuungspolitik. Ich habe mich in verschiedenen CR-Gruppen, antisexistischem Aktivismus, Politik- und Praxisentwicklung sowie Forschung und Lehre engagiert. Mein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen, Männern und Vätern ist daher profeministisch, pro-queer und dekolonial. Seit 1978 engagiere ich mich öffentlich für Themen rund um Feminismus, Männer und Männlichkeit.

Meine akademischen Studien haben sich von der Geographie zur Stadtplanung, Soziologie, Organisationsforschung, Sozialpolitik und Frauen- und Geschlechterforschung verlagert, einschließlich Studien zur Patriarchatstheorie und kritischen Studien zu Männern und Männlichkeiten. Es dauerte auch einige Jahre, bis ich erkannte, dass die persönlichen und politischen Anliegen meinen akademischen und theoretischen Anliegen sehr nahe waren – die also seit den frühen 1980er Jahren im Mittelpunkt meiner politischen und akademischen Orientierung und Arbeit stehen – auch wenn sie sich tendenziell einer anderen Sprache bedienten. Im Laufe der Jahre hat sich mein Schwerpunkt etwas verlagert. Seit 1974 arbeite ich an Universitäten und habe viel geforscht, gelehrt und geschrieben zu kritischen Studien über Männer und Männlichkeit, aber auch zu Geschlecht, Sexualität, Gewalt, Alter, Arbeit, Pflege, Organisationen, Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT), Kulturwissenschaften, Sozialtheorie und transnationalen Themen.

Viele, wenn nicht alle meiner Arbeitsumgebungen, waren feministisch oder vom Feminismus beeinflusst. 1978 gründeten ein Freund von mir, Pete Bluckert, und ich eine Männergruppe, die (nach einigen Schwierigkeiten bei den ersten beiden Treffen) weitgehend antisexistisch war und auf Bewusstseinsbildung basierte. Im Dezember desselben Jahres wurde ich Teil einer neuen Kampagnengruppe für Kinder unter fünf Jahren und ihre Betreuerinnen, also hauptsächlich Mütter und Frauen. Diese Gruppe knüpfte an die Debatte über Hausarbeit und die feministische Politik der Betreuung an. In den späten 1970er und frühen 1980er Jahren interessierte ich mich somit vor allem für Kinderbetreuungspolitik, Reproduktion und die Kritik an der herrschenden Vaterschaft. Besonders beunruhigt war ich über das mangelnde Interesse und Engagement der meisten Männer an der Betreuung und Arbeit für Kinder – ich nannte das »Kinderarbeit«, ein Begriff, der sich nicht durchgesetzt hat.

Ab Mitte der 1980er Jahre begann ich, Masterstudiengänge zum Thema »Männer und Männlichkeit« zu unterrichten, und zwar sowohl für Studierende der Frauenstudien als auch für Studierende der Sozialen Arbeit und der Gemeinwesenarbeit. Ich interessierte mich auch viel mehr für die Gewaltproblematik, d.h. für die Arbeit gegen die Gewalt von Männern, und dies war in den 1990er Jahren ein Hauptanliegen in Forschung, Lehre und Aktivismus, vor allem mit langfristigen und gezielten Forschungen zu Männern, die Gewalt gegen Frauen und Kinder ausgeübt hatten. Wenn man sich einmal mit diesem Thema beschäftigt hat, bleibt es eines, und so ist es bis heute ein wichtiges Thema und Interesse für mich.

In den späten 1990er Jahren zog ich nach Finnland, was in vielerlei Hinsicht ein Neuanfang bedeutete, sowohl politisch als auch akademisch. Zum einen war ich an der Gründung der »White Ribbon Campaign« beteiligt und gründete dann, zunächst mit drei Freunden, »profeministimiehet« (profeministische Männer), die lange Zeit verschiedene Demonstrationen und Aktionen für den Feminismus und gegen die Gewalt von Männern durchführte. Zum anderen änderte sich meine Arbeitsgrundlage, und ich musste auch überdenken, was in einem neuen Länderkontext nützlich sein könnte. Dieser Wechsel führte direkt und indirekt zu zahlreichen internationalen Kooperationen in Nordeuropa, insbesondere durch EU-Projekte, aber auch darüber hinaus, insbesondere mit Südafrika.

Zwei treibende Kräfte sind für mich zum einen die Politik und die politische Konstruktion von Wissen und zum anderen die Notwendigkeit einer sehr gründlichen und kritischen wissenschaftlichen Arbeit. Ich sehe mittlerweile die dringende Notwendigkeit, Männer und Männlichkeiten zu benennen, aber auch gleichzeitig sie und uns zu dekonstruieren, um materiell-diskursiv und transnational gegen Kolonialismen, die Hegemonie der Männer und die aktuelle Geschlechterordnung zu arbeiten. Ich denke, es ist wichtig, auf das Spektrum der Feminismen – zum Beispiel radikale, dekoloniale, queere und viele andere – und die Überschneidungen zwischen ihnen einzugehen. Dies ist ein wichtiges Thema in der Buchreihe »Routledge Advances in Feminist Studies and Intersectionality«, die ich gemeinsam mit Nina Lykke herausgebe und in der inzwischen über 40 Bücher erschienen sind. Besonders geschätzt habe ich die internationalen und transnationalen Verbindungen im Bereich der Forschung, des Schreibens, des politischen Wandels und des Aktivismus in den Bereichen (Pro)Feminismus, Gender, Männer und Maskulinität. Eine wichtige Erfahrung, neben vielen anderen, war die Beteiligung am schwedischen Teil des europäischen Projekts »Transrights«.

Ich will gern noch auf einige der gestellten Fragen direkt antworten.

Was ist für dich das nachhaltigste soziale/geschichtliche Ereignis – auch im Zusammenhang mit deiner Arbeit?
Für mich persönlich gibt es da viele, aber ich möchte hervorheben, dass ich mich etwa Anfang 1989 mit der verstorbenen feministischen Wissenschaftlerin und Aktivistin Jalna Hanmer zusammengesetzt und vereinbart habe, gemeinsam gegen die Gewalt von Männern gegen Frauen und Kinder vorzugehen. Im weiteren Sinne, auch wenn weniger direkt persönlich, sind es Ereignisse wie etwa die Amtseinführung von Nelson Rolihlahla Mandela als Präsident der Republik Südafrika am 10. Mai 1994.

Drei Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und in deinen Beziehungen zu anderen auszeichnen?
Ich schlage mit großer Bescheidenheit 😊 nur zwei vor (warum immer die Freud‘schen drei!?): Leidenschaft und Ausdauer.

Was gibt dir persönlichen Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen?
Zuhören, in beide Richtungen. Und nicht versuchen, andere Menschen zu bekehren.

Mit welchen Institutionen und Personen warst du beruflich oder privat gerne verbunden oder bist es noch?
Ich war verbunden mit der »Bradford Under Fives Group« (BUG), der finnischen Organisation profeministischer Männer (»Profeministimiehet«), mit »Critical Research on Men in Europe« (CROME) und mit »Tema Genus« an der Universität Linköping. Ich bin weiterhin verbunden mit der »International Sociological Association RC32« und mit »NORMA: International Journal for Masculinity Studies«. Ich möchte auch die »Routledge«-Buchreihe und die »International Research Association of Institutions of Advanced Gender Studies« (RINGS) erwähnen, an deren Aufbau ich zusammen mit vielen anderen maßgeblich beteiligt war und die inzwischen über 70 Zentren als institutionelle Mitglieder hat.

Hast du eine Lebensphilosophie oder ein Motto?
Verlasse dich auf deine Intuition und tue, was du kannst … in deinem eigenen Kontext.

Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deiner Arbeit an?
Engagement und Ruhe.

Eine Frage, die nicht gestellt wurde, die du aber trotzdem gerne beantworten würdest?
Die Frage danach, was das Wichtigste für die Zukunft ist – nämlich: die Verbindung von kritischer profeministischer Arbeit über Männer und Männlichkeiten mit den großen Fragen des Planeten, der Ökologie, der Nahrung, des Wassers, der Energie, des Klimas. Und auch die Erinnerung daran, dass wir viele Dinge nicht wissen.

 

 
 
 
 
 
:: Jeff Hearn, Jg. 1947. Ursprünglich komme ich aus London und bin seit Ende der 1970er Jahre in den Bereichen Aktivismus, Politik und Forschung zu Männern und Männlichkeit tätig. Nachdem ich an den Universitäten Bradford, Manchester und Linköping gearbeitet habe, zuletzt als Professor für Gender Studies, bin ich jetzt Seniorprofessor für Humangeographie an der Universität Örebro in Schweden, Professor für Soziologie an der Universität Huddersfield im Vereinigten Königreich und Professor Emeritus an der Hanken School of Economics in Finnland. Im Laufe der Jahre habe ich mich mit Themen wie Alter, Geschlecht, Sexualität, Gewalt, Arbeit, IKT und transnationale Prozesse befasst. Zu meinen früheren Büchern gehören: »The Gender of Oppression« (Das Geschlecht der Unterdrückung), »Men in the Public Eye» (Männer in der Öffentlichkeit), »The Violences of Men« (Die Gewalt der Männer) und »Men of the World« (Männer der Welt). Zu den jüngsten Büchern gehören: »Men’s Stories for a Change: Ageing Men Remember«; »Age at Work« (zusammen mit Wendy Parkin); »Knowledge, Power and Young Sexualities« (zusammen mit Tamara Shefer); »Digital Gender-Sexual Violations« (zusammen mit Matthew Hall und Ruth Lewis); und kürzlich das »Routledge International Handbook on Men, Masculinities and Organizations« (zusammen mit Kadri Aavik, David Collinson und Anika Thym) sowie das »Routledge International Handbook of Feminisms and Gender Studies« (zusammen mit Anália Torres, Paula Pinto und Tamara Shefer). – Mehr zu meinen Arbeiten und Veröffentlichungen findet sich hier.

Oh no »Oh Boy«

Der Berliner Kanon Verlag zieht seine vielgelobte Anthologie »Oh Boy« zurück – auch hier, an diesem Ort, sehr positiv besprochen. Das will erklärt und zuvor beschrieben werden.

Mann mit Stift auf der Nase

Text: Frank Keil
Foto: obeyleesin, photocase.de (Symbolbild)

 
Potzblitz – wie konnte das passieren?! Da erscheint ein Buch zum Thema heutiger Männlichkeit*en und es wird in den Feuilletons dieser Republik sehr anerkennend besprochen und durchweg sehr gelobt; auch hier auf dieser Plattform. Und nun wird es nicht mehr ausgeliefert, der Verlag zieht es zurück. Alle begleitenden Lesungen sind zudem abgesagt. Die Aufregung nicht nur in den Sozialen Medien ist groß.

Es geht dabei ausdrücklich um einen einzelnen Text, nämlich um »Ein glücklicher Mensch« von Valentin Moritz, einem der beiden Herausgeber. Darin umschreibt er einen sexuellen Übergriff gegenüber einer Frau, den er begangen hat. Ziel des Textes sei es, so erfährt man es in dessen zweiten Teil, sich zu bekennen und das Bekennen zu beschreiben, um so zu reflektieren, um so zu lernen, damit es nicht wieder geschieht. Ihm, dem Autoren nicht und anderen Männern auch nicht. Das ist die quasi literaturpädagogische Aufgabe, die sich Moritz gestellt hat.

Nur gibt es da noch etwas Anderes. Die Frau nämlich, die diesen Übergriff erleben und erleiden musste. Und sie – eine reale Frau, natürlich – hat den Autoren zuvor klar aufgefordert, über das Geschehene nicht zu schreiben. Er solle – sozusagen – das Geschehene nicht noch einmal schreiberisch wiederholen; er solle es nicht verdoppeln, er, der schreibende Täter, sich nicht erneut inszenieren, auf dass sie als das beschriebene Opfer zurückbleibt.

Der Autor hat der Bitte dieser Frau, die anonym bleiben möchte und von der paradoxerweise im Fortlauf der Berichterstattung immer mehr bekannt wird, nicht entsprochen. Er hat den Text geschrieben. Und jetzt bewegen wir uns außerhalb des Textes: er hat die Zusammenhänge gegenüber seinem Verlag offengelegt, vor der Drucklegung, wie man so sagt. Er hat sie nicht verschwiegen. Nach Auskunft des Verlages lag zunächst folgende Option auf dem Tisch: Moritz zieht sich von dem Buchprojekt insgesamt zurück. Der Verlag entschied anders. Und der Autor folgte.
Nun gibt sich der Verlag reumütig, ein großer Fehler sei es gewesen, den Text zu veröffentlichen; sollte das Buch neu aufgelegt werden, wird es daher ohne den beanstandeten Text erscheinen. Ich wage mich mal kurz aus dem Fenster: nach dem Wirbel, der nicht nur in den Sozialen Medien zu verfolgen ist, ist eine Neuauflage in gedruckter Form eher unwahrscheinlich.

»Oh Boy« ist eine literarische Anthologie. Die an ihr beteiligten Autoren treten an, um sich dem Erkundungsfeld Männlichkeit*en mit literarischen Mitteln und Formen und zuweilen einer ganz eigenen Sprache zu nähern und es dann zu betreten, und sie folgen damit gerade nicht journalistischen und/oder wissenschaftlichen Standards (wo da genau die Trennlinie zur Literatur verläuft, darüber ließe sich gewiss umfassend streiten). Was berichtet wird, was Erzählstoff ist, hat sich also einerseits nicht so wie beschrieben ereignet – und andererseits eben doch oder anders oder nicht genauso oder nur so ähnlich und auch wieder nicht – und so weiter. Dabei kann man noch so viel verfremden und überschreiben: auch das Erfundene gibt es nur, weil sich zuvor etwas ereignet hat, das anschließend Erzähl-Material wird. Woher sollte dieses sonst kommen?

Ich habe den Text von Valentin Moritz gelesen, bevor ich das Buch besprach, selbstverständlich. Und ich habe diesen Text in meiner Besprechung salopp hintenüberfallen lassen, ich habe ihn einfach nicht weiter erwähnt. Nicht, weil ich schon etwas von dem Kommenden ahnte und so vorbeugen wollte, das wäre ja cool. Sondern: Ich mag diese Art von Selbstbezichtigungstexten grundsätzlich nicht. Sie berühren mich bald unangenehm. Es liegt immer ein Hauch von Eitelkeit in der Luft und zuweilen mehr als das: Ich bekenne mich schuldig und in dem ich mich schuldig bekenne und in dem ich mich selbst in aller Öffentlichkeit an den Pranger stelle, ist die Schuld schon halb abgetragen, wenn nicht weit mehr als das. Mit seiner Schuld – ich bin jetzt mal kurz böse – hausieren zu gehen und sie für sich öffentlich anzunehmen, um daraus ein Thema zu entwickeln, für ein Buch, für einen Film, für was auch immer, ist selbstverständlich ein legitimes Vorgehen. Es ist nur einfach nicht mein Fall. Andere entscheiden da anders. Als Leser*innen und eben als Autor*innen.

Wobei – das meine ich auch jetzt, wo das Buch nochmals aufgeschlagen neben mir liegt und ich in diesen Text noch einmal lesend geschaut habe – mir schien und scheint, als ob dem Autor von Anfang an selbst nicht ganz wohl war bei seinem Besserung-durch-Geständnis-Projekt. Zu unklar, zu verwirrend, vor allem zu abstrakt umschreibt der Text das Geschehene, ohne es in seinem Kern zu berühren, und das macht es einem alles andere als leicht, zu verstehen, um was es ihm eigentlich geht: Es ist schlichtweg unabhängig davon, ob es okay ist, einen solchen Text zu schreiben, er bleibt ein schwacher und zielloser und oftmals auch pathetischer Text, der mich erneut ratlos zurücklässt.

Und nun? Ich will mich um eine Antwort nicht drücken: ja, man darf als Täter (was immer jetzt Täter im Einzelfall ist; es ist auf jeden Fall ein Wort, vor dem wir sofort in die Knie gehen) in literarisierter Form über seine Tat schreiben. Die Frage ist: wie, also in welcher Form? Und die Frage ist: warum, was ist der Zweck? Und drumherum gibt es die Gesetze, denen man sich gegebenenfalls stellen muss, die dann entscheiden und die über jeglichen moralischen Forderungen stehen und werden diese noch so vielfältig über die Sozialen Medien gestellt (die Literaturgeschichte ist voll von Prozessen und Urteilen, ob ein Text oder Buch veröffentlicht werden darf). Und ebenso gilt: Nicht alles, was man darf, sollte man auch tun. Und oft ist man gut beraten, von sich aus zu verzichten.

Und zum anderen Grundsätzlichen. Wie umgehen mit Stoffen, in denen es nun mal angelegt ist, dass mitmenschliche und zwar heftigste Kollisionen ins Zentrum rücken und sich mehr oder weniger deutliche Erkennbare zu Wort melden und für ihr Recht auf Nichterwähnung plädieren: Romane über die Kindheit, Erzählungen über eine gescheiterte Ehe oder Liebe oder Affäre, um kurz das Naheliegendste zu nehmen? Die Literatur ist auch davon voll; sie existiert von ihr. Und so verlangen die Fragen nach den Bedürfnissen und Interessen von Beschriebenen nach literarischen Antworten, die immer wieder neu gestaltet und riskiert werden müssen.

Ein Beispiel, um das Feld kurz zu erkunden: In letzter Zeit ist dankenswerterweise ein Schwung von Romanen und Erzählungen jüngerer Autor*innen mit migrantischen Wurzeln und entsprechenden Lebensgeschichten erschienen. Die dort beschriebenen Väter und Mütter kommen nicht immer gut weg. Manchmal kommen sie gar nicht gut weg. Werden zuweilen sehr drastisch und konsequent und deutlich in ihrer Unfähigkeit beschrieben, ihren damaligen Kindern eine Orientierung zwischen den verschiedenen Lebenswelten zu bieten, in denen sie sich zurechtfinden mussten. Literarisch wird das erzählt, wird angeklagt, wird auch gewütet und geschimpft, literarisch wohlgemerkt. Aber eben auf Grundlage persönlicher Erlebnisse und Erfahrungen und auch Verletzungen, aus denen Textdateien wurden.
Ältere werden sich an die so genannte Väter-Literatur der 1980er-Jahre erinnern, was wurden da die Väter der Kriegsgeneration von ihren 1968er-Kindern literarisch verdroschen! In den letzten Jahren erst weitete man den Blick, und zwar auf die Traumatisierungen hin, die diese Väter selbst erlebt hatten, auf ihre womögliche Unmöglichkeit, die erlebte Gewalt in Erziehung und Krieg und Alltag einigermaßen zu verarbeiten, statt sie mehr oder weniger linear an ihre Kinder und besonders an ihre Söhne als eine Art Double weiterzugeben, die sich nun damit abmühen mussten und dabei zur Schreibmaschine fanden. Viel Zeit, auch Nachdenkenszeit musste vergehen, damit dieser zweite Blick, der Blick auf das Dahinter möglich wurde. Heute ist man auch literarisch schlauer – und empfindsamer und gnädiger und also weit weniger rigoros.

Ich schaue nochmal in den Text von Valentin Moritz, lese, blättere weiter, lese; zwei-, dreimal habe ich den Satz »Das ist doch eher ein Sturm im Wasserglas« hingetippt und besser wieder gelöscht. Kein Frauenname fällt, kein Ort wird beschrieben, in dem jener Übergriff geschah. Wir Lesende werden in keine Wohnung geführt, kein Bett steht in irgendeinem Raum mit Schreibtisch, Pflanzen und Bücherregal, noch sonst etwas. Was wir über den Übergriff erfahren, der doch der Grund für diesen Text ist, ist rein Gedankliches und dieses Gedankliche ist fast ausschließlich selbstreflexiv und tendenziell selbstgefällig: »Ich rede noch immer um den heißen Brei herum. Dabei glüht der ganze Text längst vor Schamesröte«.
Oh, nein, der Text glüht nicht vor Schamesröte. Der Autor mag beim Schreiben geglüht haben, das glaube ich gerne und sofort. Doch es hat ihn offensichtlich nicht herausgeführt aus einem inneren und kalten Durcheinander von Anspruch und Wirklichkeit, das eingefasst ist von einer Rahmenhandlung, wo junge Männer irgendwo am Strand von Usedom Frisbee spielen. Wenn man dem Text eine inhaltliche Unangemessenheit vorwerfen muss, dann wohl eher die, dass der Autor einen körperlichen Übergriff gegen eine Frau in ein selbstbezogenes Gedankenspiel während eines heiteren Sommermoments überführt, wo junge, unbedarft wirkende Männer einer Plastikascheibe hinterherrennen wie junge Hunde. Führt dieser Weg irgendwohin?

Vielleicht hätte Moritz es bei seinem Projekt der Enttarnung unangenehmer bis schä(n)dlicher Männlichkeit einfach eine Nummer kleiner angehen lassen sollen. Bescheidener, zurückhaltender und in der Themen-Beispiel-Wahl demütiger. Warum musste es – ich bin mal kurz zynisch – ausgerechnet eine der Königsdiziplinen der toxischen Männlichkeit sein: der sexualisierte Übergriff? Wie viel erhellender wäre es gewesen, für uns, für ihn, wenn er sich die Frage gestellt hätte: »Warum muss ich mich unbedingt so in mein Thema verbeißen?« Wenn er sich als Mann gefragt hätte: »Warum kann ich nicht sagen: Okay, dann geht das eben nicht; dann kann ich die Geschichte nicht so, wie von mir gewünscht, schreiben.« Die Welt ist voll von Männern, die nicht aufhören können: ob sie nun bis spät in die Nacht das Bad neu fliesen, ob sie noch am Geschäftsbericht sitzen, obwohl die Sonne aufgeht und ob sie die Strecke Berlin-Adria in einem Rutsch zu fahren sich vorgenommen haben und das dann auch tun.

Tja. Noch mal: Was fangen wir nun an mit dem Schlamassel? Da fällt mir – Kunstgriff – noch ein Buch ein, dass ich vor einigen Jahren hier auf den MännerWegen besprochen und empfohlen habe, 2017 war das, so lange ist das her? Egal. »Ich will dir in die Augen sehen« von Thordis Elva und Tom Stranger führt dem oben Beschriebenen gegenüber nun wirklich in das Zentrum eines Sturms, mit anfangs ungewissen Ausgang: Eine Frau trifft nach Jahren den Mann wieder, der sie einst vergewaltigt hat, und es folgt das Protokoll einer Wiederbegegnung, damit man am Ende für immer auseinander gehen kann. Ich schaue schnell mal nach: Oh, es ist noch erhältlich

PS: Und Valentin Moritz? In was hat er sich da nur reingeritten und warum hat ihn sein Verlag – offenbar – so wenig bis falsch beraten? Ich jedenfalls wünsche ihm an dieser Stelle hier von Herzen, dass er das alles gut übersteht: die berechtigte Kritik, wohl auch die Scham, die nicht ausbleiben dürfte; die Anwürfe, die Beschimpfungen auch, die es bestimmt gibt, und er heil dabei bleibt. Das fällt uns Männern nämlich gar nicht so leicht: einzugestehen, dass so etwas passieren kann und dann daraus zu lernen, im nun endlich eigenen Tempo.

»Ich bin immer noch hungrig danach, in dieser verrückten Welt Sinn und Perspektive zu finden.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Dirk Achterwinter, Bielefeld

Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: roterfuchs38, photocase.de | privat

 
Ich bin ein Kind der 1960er-Jahre und daher mitgeprägt von der Adenauer-Ära. Meine Großväter und mein Vater waren sehr in ihre jeweiligen Arbeiten eingebunden, in der Metall- und Textilindustrie und mit Karrieren als Meister oder zumindest Vorarbeiter, aber auch damit beschäftigt, ihre Kriegserlebnisse »zu verarbeiten«; die Schatten der Nazi-Zeit waren lang. Der mütterliche Teil meiner Familie musste die eigene traumatische Fluchtbiographie bewältigen.
Ich war in den 1970ern auf einer reinen Jungenrealschule, die einen hohen Anspruch an sich hatte, aber wenig pädagogisches Grundverständnis entwickeln konnte. Die ersten Lehrerinnen wurden als exotische Wesen wahrgenommen, von uns als Schülern und auch vom alten männlich-traditionellen Lehrerkollegium. Dank der damaligen Bildungsreform konnte ich dann Abitur machen und habe schließlich – nach einem kurzen Versuch, evangelische Theologie zu studieren – Zivildienst in einer stationären Einrichtung der Jugendhilfe gemacht und dann an der Uni in Bielefeld den Abschluss als Diplom-Pädagoge.
Im Studium war einer meiner Schwerpunkte die Sexualpädagogik. Weil damals auch schon Männer in der pädagogischen Arbeit fehlten, bekam ich Anfragen für die Arbeit mit Jungengruppen zu sexualpädagogischen Themenbereichen. Das hat sich mit vielen inhaltlichen Variationen bis in die 2020er-Jahre fortgesetzt. Ich habe nach dem Studium bei Pro Familia, bei der AWO, der Diakonie und der Caritas gearbeitet. Von 1993 bis 2023 war ich in Beratungsstellen tätig, lange auch in Leitungsfunktionen. Und da ich immer auf der Suche nach Wegen zu mir selbst war, um mich selbst besser verstehen zu lernen, habe ich auch mehrere Zusatzausbildungen gemacht.
Privat fahre ich gerne Motorrad, gehe gern laufen (am liebsten am Meer), liebe das Bogenschießen und mag Fantasie-Geschichten wie »Das Rad der Zeit« und »Star Wars«.
Diese biographischen »Rohdaten« sind wichtig, um zu verstehen, warum die Männer- und Jungenarbeit immer eine Rolle für mich gespielt hat. Denn die Frage nach der eigenen Identität ist für mich immer auch eine geschlechtsspezifische und die Wurzeln liegen in der eigenen Biographie. Auch hier spielt die Variable »Geschlecht« und die daran geknüpften Erwartungen aus dem sozialen Umfeld eine große Rolle. So war in meiner Herkunftsfamilie immer klar, dass ich als erstgeborener Sohn eine ganz bestimmte Rolle mit klar definierten Aufgabenbereichen zu erfüllen habe. Die familiären Erwartungen und die damit verbundenen Introjekte waren so also immer an die Rolle als Junge und dann später als Mann geknüpft.

Was war oder ist dein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen-, Männer- und Väterthemen? Was dein politischer und fachlicher Zugang?
Bei mir ist das ganz klar die Suche nach dem »Wer bin ich?«, »Wo komme ich her?« und »Bin ich richtig, so wie ich bin?« Meine männlichen Vorbilder, mein Vater und meine Großväter, haben mir ganz klassische Biografien vorgelebt. Vorbilder, denen ich folgen wollte und ich dann doch gemerkt habe: »Diese Schuhe passen mir nicht richtig.« Irgendetwas stimmte nicht, aber woran liegt das? Aus dieser »Defizit«-Wahrnehmung und den Erwartungen an mich entstand nach und nach die Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle. Als Kind hatte ich die Vorbilder »Old Shatterhand«, »Winnetou«, »Dietrich von Bern« und »Der rote Kosar«. Als Jugendlicher waren mir eine Zündapp GTS 50, der Film »Easy Rider«, Lederjacken, »bloß keinen Tanzkurs machen!« und »Rebellen sind cool« wichtig. Als junger Erwachsener stand ich auf den Ford Fiesta GT, fragte nach lebenswerten Werten, ging zu Kirchentagen, war Kindergottesdiensthelfer, Kriegsdienstverweigerer und schließlich Zivildienstleistender, der sich fragte, was aus ihm einmal werden soll.
So wie mein Vater wollte ich nicht leben, aber wie dann? Arbeit hatte trotz allem einen hohen Stellenwert, nur welchen? Identitätsstiftend soll sie sein, aber wie für mich? Und Sexualität: wie soll ich damit umgehen, wo kann ich mich orientieren? Gleichzeitig fragen und sprechen ging nicht. Im Hintergrund das gesellschaftliche Rauschen um Willy Brandt und »Mehr Demokratie wagen«, eine Bildungsreform, Lehrer auf dem Weg zu sich selbst, die Nachrüstungsdebatte, Wohngemeinschaften als Lebensform, Helmut Kohl und die Spendenaffäre. Ich war auf der Suche nach etwas, das ich nicht klar definieren konnte, und fühlte mich angesprochen von BAP in »Fuhl am Strand«: »Hey, Vorbild, dank dir schön, ich glaub, ich bekomm es langsam selber hin«. Trotzdem wirken sie, diese männlichen Vorbilder, gerade wenn sie aus dem Familiären kommen. Das Männliche war irgendwie konstant, nur alle Fragen drumherum nicht. Wie Mannsein richtig geht, konnte mir niemand sagen, die realen Vorbilder waren jedenfalls nicht die, die mich fasziniert hätten. Also weitersuchen.
Entscheidend war dann, dass ich selbst Vater wurde. Als ich das erfuhr, konnte ich eine Woche nicht schlafen. Ich wusste einfach nicht, wie ich diese Rolle, die Verantwortung meistern könnte oder müsste. Das Pädagogik-Studium gab ein paar kleine Antworten und Denkansätze, aber so richtig zufriedenstellend war das nicht. Es gab einige Männer, die ähnlich unterwegs waren wie ich, was auch hilfreich war, dennoch gab es in dieser Szene auch viel warme Luft, Narzissmus, Konkurrenz und den einen oder anderen Abstoß. Die alten Männlichkeitsmythen wirkten auch hier noch.
Heute würde ich sagen: es war ein dynamischer Prozess, Ergebnis offen. Er wurde geprägt von vielfältigen Einflüssen, den damaligen Politiken, individuellen Beziehungserfahrungen, eigenen scheiternden Gehversuchen und immer wieder der Sehnsucht: Da muss doch was sein! Aber liegt es an mir? Am Patriachat? Stelle ich mich einfach nur an? Wichtig war für mich eine Erfahrung, die am Ende jeder Aus- und Fortbildung angesichts der anstehenden Prüfung die wiederkehrende Frage »Kann und schaffe ich das überhaupt?« aufwarf. Viele Selbstzweifel traten in diesen Phasen nach vorne. Als mir das klar wurde und ich – auch dank der Trauma-Ausbildung – mehr und mehr die Verhaltensmuster verstand, konnte ich Stück für Stück mehr in die innere Ruhe finden. Ich hatte endlich Erklärungen, welche Personen und Themen und Einflüsse mich auf meiner Suche nach meiner Männlichkeit auf welche Weise beeinflusst haben und es teils immer noch tun.
Jetzt, mit 62 Jahren, ändert sich mein Bild von mir als Mann noch einmal, der ergebnisoffene Prozess läuft also weiter. Aber auf einem anderen Niveau. Es gibt nach all den Jahren und Lebenserfahrungen mehr Selbst-Akzeptanz. Nur das fällt noch schwer: Meine Enkelin Paula sagt »Opa« zu mir, eine Spielart von Mannsein, die ich nicht so gut annehmen kann. Denn »Opa« hat was mit offenen Sandalen und weißen Socken und Flecken auf einem alten Hemd zu tun. Das mag ich nicht. Und trotzdem entspricht das Bild der Rollenerwartung meiner Enkel an mich, ganz geschlechtsspezifisch.

Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen, Männern und Vätern?
Da bin ich wohl immer noch Gestalttherapeut. Die Jungen und auch Männer und Väter haben ja das Recht, mit ihren ganz eigenen Themen zu kommen. Die sind vielfältig und variantenreich, bunt und schillernd, auch traurig und sehr bewegend. Meine Aufgabe ist, mit ihnen im Kontakt zu schauen: »Was bringst du mit? Wo willst du hin? Wie kann das gelingen?« Bei den Jungen bin ich, je nach Alter und Entwicklungsstand, auch direktiv, schließlich habe ich mehr Lebenserfahrung und kenne die eine oder andere Klippe im Meer des Lebens. Bei jungen Männern in ihren 20ern erlebe ich oft, dass diese ein eindeutiges Coaching ansprechen und auch fordern; ihre Themen sind aktuelle Lebenskrisen, Partnerschaften, Gestaltung der beruflichen Biographie. Da haben sich Haltung und Auftrag der Klienten gegenüber früher verändert. Ältere Männer in ihren 40-50ern brauchen oft mehr Raum und Zeit, um ihre Themen benennen zu können. Hier spielt auch Scham eine Rolle. »Bin ich Ordnung, wenn ich als Mann Hilfe und Unterstützung brauche? Darf ich das überhaupt?« In der Paarberatung, wenn Kinder ein Thema sind, kommt das eigene männliche Rollenbild deutlich zum Tragen. Die Wünsche der Partnerin und Mutter werden zwar erkannt, gewürdigt, respektiert, doch es fehlt den Männern an »Werkzeugen« für die Umsetzung, um ihr und den Kids auch gerecht zu werden. Da sind die jungen Männer in den 20ern und 30ern deutlich flexibler.
Natürlich sind das nur recht grobe Zuschreibungen. Die Motivationen, sich auf die Auseinandersetzung mit den eigenen Bildern einzulassen, sind so vielfältig wie die eigenen Biographien und die Dynamiken der Partnerschaften. Wiederkehrende Themen sind die eigene und partnerschaftliche Sexualität einschließlich Lust auf Männlichkeit und Potenz, Umgang und Verbalisierung von Ängsten, Vorstellungen von Erfolg, das Gelingen von Partnerschaften, erlebte Verletzungen und Kränkungen mit ihren Wirkungen, die Furcht vor Einsamkeit, nicht ausgesprochene Traurigkeiten. Viele Themen kreisen auch um Trennung und Scheidung und die daraus entstehenden Probleme und Fragen, die bis hin zur Begleitung bei Prozessen vor dem Familiengericht reichen können, z.B. Regelung der Besuchszeiten, Unterhaltszahlungen, Umgang mit erlebter oder ausgeübter Gewalt und Kränkungen in der Beziehung, Zukunftshoffnungen und -ängste, Rettungsphantasien.

Wie hat sich dein Engagement für Jungen und Männer oder Väter entwickelt, ggf. verändert?
Es verändert sich immer wieder. In den Beratungsstellen gab es einen festen Rahmen durch Gesetze, Verträge und Finanzierungen. Aktuell kommen Selbstzahler. Dadurch verändert sich das Klientel, mit dem ich arbeite. Gleich geblieben sind allerdings die genannten Inhalte. Selbstzahler erlebe ich aktuell als sehr motiviert. Die ratsuchenden Männer wollen für sich weitere Schritte gehen und sind aktiv in diesem Prozess engagiert.
Für Jungen biete ich nach wie vor Projekte an. Es gibt mittlerweile mehr Männer, die das tun, und ich begrüße das. Gleichzeitig ist hier auch ein »Markt« entstanden, einzelne Kollegen leben von dieser Projektarbeit, was wiederum übliche wirtschaftliche Sachzwänge schafft. Trotzdem halte ich für gut, dass sich dieses Berufsfeld mehr und mehr professionalisiert. Das biete für viele Jungen Chancen. Vor 10-15 Jahren sah das Feld noch anders aus, da fehlte dieser Ansatz.
Mit der LAG Jungenarbeit NRW arbeite ich immer noch zusammen. Auch hier ist wunderbar zu beobachten, dass die Jungenarbeit dank des Engagements der Mitarbeitenden einen hohen professionellen und akzeptierten Standard erreicht hat.
Was über die Jahre gleichgeblieben ist: die meisten Jungenprojekte werden nach wie vor von weiblichen Fachkräften bzw. Lehrerinnen initiiert.
Meine innere Arbeitshaltung ist ruhiger geworden. Früher habe ich viel mit der Dynamik der jeweiligen Gruppe gearbeitet. Heute kann ich aus der Ruhe heraus andere Impulse setzen.

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche / historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
In meiner subjektiven Wahrnehmung gibt es – wie beschrieben – Unterschiede in den Generationen. Die jüngeren Männer schauen in ihren 20-30er Jahren bewusster und reflektierter auf ihre Rolle. Vor allem, was das Thema Vaterschaft angeht. Diesen Unterschied erkläre ich mir damit, dass (a) die jungen Mütter und Partnerinnen dieser Männer ihre Ansprüche und Rechte bewusster einbringen und Familie auch anders leben wollen als in früheren Generationen; (b) Bildung und Ausbildungen, auch Verdienste und materielle Sicherheiten heute in einem viel direkteren Zusammenhang damit stehen; (c) über die Jahre hinweg die Geschlechterdiskussionen offensichtlich doch fruchtbar waren: es hat sich etwas bewegt. Wer das wie bewertet, das bleibt wahrscheinlich immer sehr subjektiv. Mir persönlich jedenfalls haben die gemachten Erfahrungen viel Sicherheit gegeben.
Wichtig für mich war die Trauma-Ausbildung. Hier habe ich noch einmal gut gelernt und letztendlich auch verstanden, dass nicht ich Erfahrungen mache, sondern – im bewussten Widerspruch zum vorherigen Satz – die gemachten Erfahrungen mich gemacht haben. Die Trauma-Theorie kann hier vieles gut mit der Psychoedukation erklären und nachvollziehbar machen, was mich lange beschäftigt hat und was ich vorher nicht, dann aber sehr gut »greifen« konnte.

Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deinen privaten und beruflichen Beziehungen?
Was für mich ein riesiger Schatz war und ist, das sind die vielen intensiven Begegnungen mit Männern und auch Jungen in der Beratung, in der Projektarbeit, auf Fortbildungen. Teilweise wurden daraus langjährige Freundschaften bzw. tragende Beziehungen, die immer auf irgendeine Weise mit »Männerthemen« verbunden sind. Gleichzeitig sind sie sehr individuell und bunt und vielseitig und wirklich bereichernd.
Ich habe auch von nicht wenigen Förderschülern so viel gelernt. Diese Jungs haben mir Verhaltensweisen gezeigt, die ich als sehr herausfordernd erlebt habe. Und gleichzeitig, in der konstruktiven Auseinandersetzung, habe ich Stück für Stück verstanden, warum dieses Verhalten dieser Jungs ganz viel Sinn macht. Durch sie habe ich gelernt »in Mustern« (Verhaltensmustern und deren Ursachen) zu denken. Das war ein tolles Geschenk. Oder um es mit dem »Konzept des guten Grundes« meines Trauma-Ausbilders Lutz-Ulrich Besser zu sagen: diese Jungs waren sehr authentisch.

Drei Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und Beziehung zu anderen ausmachen?
Selbstlob fällt mir schwer, da bin ich doch sehr protestantisch sozialisiert! Aber Humor gehört zu mir (als geborener Rheinländer, der seit 1984 in Ostwestfalen lebt) und beständig neugierig, weil stets auf dem Weg, mich und andere besser zu verstehen. Und immer noch hungrig danach, in dieser verrückten Welt Sinn und Perspektive zu finden. Ich habe das große Glück, in meiner eigenen Familie viel Sicherheit und Stabilität zu bekommen, das kann ich dann auch gut weitergeben; ein riesiger Schatz.

Was ist für dich Erfolg in deiner Auseinandersetzung mit Jungen-, Männer- und Väterthemen? Hast du Beispiele?
Kürzlich war ich mit einem in seiner Seele sehr verletzten Jungen beim Bogenschießen. Er hat 15 von 20 Pfeilen auf eine Entfernung von ca. 18 Meter in ein sehr kleines Ziel gesetzt. Was er aufgrund seiner vielen unterschiedlichen Diagnosen und dass er es im Leben wirklich nicht leicht gehabt hat, eigentlich gar nicht hätte bewerkstelligen können. Aber er war erfolgreich, und wir haben uns beide sehr gefreut. Das sind die kleinen Augenblicke, die viel bewirken, auch wenn das nicht messbar ist. Die Kunst ist für mich als Pädagogen, viele dieser kleinen Situationen zu schaffen und daraus step-by-step etwas Größeres entstehen zu lassen. Ich denke, das gelingt nur durch Kontakt- und Beziehungsarbeit.
Ein anderes Beispiel ist ein Junge, den ich schon lange beruflich begleiten darf. Seine Eltern haben hohe Berufsabschlüsse und Geld spielte in der Familie nie eine Rolle. Der Sohn wurde aber nie so gesehen, wie er es sich gewünscht hat. Er entsprach nicht den Erwartungen der Eltern. Er hat nur Einsen in der Schule und zieht weiße Hemden zur Zeugnisübergabe an. Aber er ist einsam, kämpft in der Familie immer wieder um Akzeptanz, hat keine Freunde und wurde im System Schule zum Mobbingopfer. Als die Eltern dann angefangen haben, die Situation ihres Sohnes mehr und mehr zu verstehen, beide an der Schule für ihn kämpften und einen Wechsel ermöglichten, erging es ihm zusehends besser. Diesem Jungen fehlt noch viel an Unterstützung, aber das ist schon mal gelungen und war ein kleiner, aber deutlicher Erfolg.
Ein drittes Beispiel habe ich aus der Paarberatung. Ein beruflich erfolgreicher Mann konnte seiner neuen Partnerin erzählen, dass er nie emotional positive Körperberührungen durch seine Eltern erlebt hatte. Körperlichkeit und Nähe waren dagegen immer direkt mit Sexualität verbunden, diese wiederum sehr stark mit Leistungsdruck (»seinen Mann stehen müssen«). Was zu noch mehr Druck führte, so dass er nie darüber sprechen konnte. Mit der Beratung war dies aber endlich möglich, ein wichtiger Schritt zur Klärung seiner Probleme.
Das sind für mich drei Beispiele für sicher nur kleine Erfolge, die aber doch einen guten Weg weisen.

Was gibt dir persönlich Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen?
Das ist relativ einfach zu beantworten: Lachen, Spaß, erlebte Leichtigkeit. Im Kontakt mit Anderen Ideen, Projekte, Inhalte weiter gestalten zu können, dazu dann auch die Rückmeldungen der Klienten und Kooperationspartner. Zu sehen, dass meine Arbeit angenommen wird, ich immer wieder angesprochen werde und dass sich begonnene Prozesse weiterentwickeln können. Zusammengefasst: Positive Kontakte, aus denen sich neues Kreatives entwickelt; die gute Balance zwischen Selbstwahrnehmung und externer Rückmeldung; das Gefühl von Selbstwirksamkeit in einer verrückten Welt.

Was ist dir (mit) gelungen, worauf bist du (zusammen mit anderen) vielleicht auch stolz?
Ich bin Gründungsmitglied der LAG Jungenarbeit NRW. Ich bekomme Anfragen und Aufträge, konnte ein Image entwickeln und lebe quasi auch von meinem »Ruf«. Da wo ich mich für Jungenarbeit eingesetzt habe, ist etwas geblieben, es gibt kleine erkennbare Spuren. Und ja, ich habe mich mit meinen Themen weiterentwickelt und konnte auf diesem Weg anderen gerecht werden. Das freut mich.

Mit welchen Institutionen und Personen warst du gerne beruflich und privat verbunden oder bist es noch?
Mit sehr vielen ehemaligen Kollegen und Kolleginnen aus den verschiedenen Institutionen, in denen ich unterwegs war, aber auch mit freiberuflichen Kollegen und Kolleginnen. Glücklich bin ich darüber: aus den Gründungszeiten der Jungenarbeit sind viele positive Beziehungen und Kontakte erhalten geblieben, und aus diesen heraus gibt es auch jetzt noch schöne und gute Kooperationen, etwa mit der LAG Jungenarbeit NRW. Und es gibt Vernetzungen zum Thema Trauma mit den Kolleg*innen um den Jugendhof Vlotho. Auch hier hat sich die positive Kultur der Zusammenarbeit erhalten. Nicht zuletzt ist es auch die Familie mit den daraus entstandenen Verzweigungen, das spielt für mich eine ganz große Rolle.

Was hat die Männer ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast?
Es gab immer Gemeinsamkeiten, dabei auch sehr oft die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechterrolle, aber ebenso mit dem Moped fahren, zusammen durch den Teutoburger Wald laufen oder verlorene Pfeile wiedersuchen. Vielleicht ist »auf der Suche sein« ein Merkmal meiner Generation: verstehen wollen und daher viel Bereitschaft zum Nachdenken. Der Liedermacher Klaus Hoffmann sagt es mit der Liedzeile: »Diese Kinder erkennen sich am Gang«. Das meint für mich das Gefühl und das Wissen, da teilt jemand mit mir ein Thema, es gibt gemeinsame Schnittmengen, »etwas« verbindet uns. Ich habe wenig destruktive Konkurrenz erlebt, die Lust auf Abenteuer, auf Spaß, Lachen und Freude am Tun – klischeehaft so ein bisschen wie in den Zigaretten-Werbungen – standen im Vordergrund.

Hast du eine Lebensphilosophie, ein Lebensmotto?
Ja, mehrere, aus verschiedenen Quellen: »Nur im Kontakt mit dir kann ich mich finden« (aus der Gestaltarbeit), »Nicht ich mache Erfahrungen, Erfahrungen machen mich« (aus der Traumatherapie) und »Der Weg ist das Ziel«, was sich ziemlich abgegriffen anhört, aber dennoch für mich gilt.

Wo siehst du Brüche in deinen beruflichen oder freundschaftlichen Beziehungen? Wodurch wurden diese verursacht?
Brüche und dann Veränderungen gab es immer dann, wenn verschiedene »Dynamiken der Entwicklung« unterschiedliche Geschwindigkeiten entfalteten, etwa als ich Vater wurde. In meinem Umfeld war ich einer der ersten, das hat mein Leben verändert, sowohl hinsichtlich meiner ganz alltäglichen Aufgaben bis hin zur inneren Haltung.
Beruflich veränderte sich einiges mit der Übernahme der ersten Leitungsfunktion. Da gab auch so etwas wir Neid, Skepsis, Reserviertheit. Jetzt, mit 62 Jahren, kann ich aber auch sagen: die Brüche waren gut, sie haben zu meiner Weiterentwicklung beigetragen, haben mich gefordert, ich musste hier und da etwas verändern. Die oft zitierte Weisheit »Krise als Chance« ist vielleicht etwas übertrieben, bei mir war es aber so, dass durch die Brüche immer auch Bewegung entstand. Und parallel gab es dann auch Entwicklungen im Selbstbewusstsein, mit der Erfahrung: Ich komme auch nach Brüchen klar, ich muss vor Veränderungen nicht so viel Angst haben.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis vom Umgang mit Jungen-, Männer- und Väterthemen?
Der Diskussionsbedarf innerhalb der Jungen-Männer-Szene war oft größer und anstrengender als mit Menschen – Frauen, Männern, Vätern – außerhalb dieser Peergruppe. Vielleicht ist das auch einer der Gründe, dass ich mich eher am Rand dieser Szene sehe und nicht im Zentrum. Ich bin ganz dankbar, dass die Jungen- und Männerarbeit nicht der alleinige Schwerpunkt meiner beruflichen Orientierung geblieben ist. Auch wenn sie mich immer noch gut begleitet. Ich bin von daher in keinem aktiven Gremium mit dieser Schwerpunktsetzung. Das ist auch gut so.

Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deiner Arbeit an?
Die protestantische und sozialdemokratische Arbeitshaltung meiner männlichen Vorfahren und die Chance, damit ebenso selbstwirksam zu werden und mein Geld zu verdienen. Weiterhin die stete Suche nach Antworten; Spaß an dem, was ich tue und mich immer wieder gut selbst spüren zu können; das Wissen um die Erfahrungen, die den Alltag leichter machen; der Wunsch, in dieser verrückten Welt kleine positive Impulse zu setzen. Und auch Anerkennung und Lob von außen so wie die Abenteuerlust auf Neues.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeit dazu hättest? Und was möchtest du gerne gegen Ende deines Lebens erreicht haben?
Ein »Bielefelder Büro für Beratung und Supervision« (BBBS) wäre ein Traum. Ein loser Zusammenschluss von engagierten Kolleg:innen, die Angebote und Projekte speziell für die sozialen Arbeitsfelder Kita, Schule, stationäre Jugendhilfe, Jugendämter, Beratungsstellen entwickeln. Mit passenden Antworten und Perspektiven für engagierte Teams und Leitungen, um diese angesichts gegenwärtiger Überlastungen, die strukturell defizitär bedingt sind, zu unterstützen und damit zu entlasten. Parallel dazu wäre es schön, die Beratungsarbeit mit Jungen und Männern weiter zu verbessern. Wenn ich einmal abtrete, wären schön bebilderte Erinnerungen an mich bei denen, die noch bleiben, schon cool.
 
 

 
 
 
 
 
:: Dirk Achterwinter, Jg. 1961, Diplom-Pädagoge, mit weiteren Qualifikationen als Sexualpädagoge, Gestalttherapeut, Systemischer Supervisor (DGSv) und Traumatherapeut, die je auch immer meinem Wunsch eines Selbstfindungsprozesses folgten. Ich lebe mit meiner Partnerin in einer langen Beziehung seit 1979, habe einen Sohn, eine Tochter und zwei Enkelkinder. – www.achterwinter-beratung.de

»Eine neue Männergeneration denkt und fühlt oft schon progressiver als meine eigene.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Marc Gärtner, Berlin

Männer in Bewegung

Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: 3ster, photocase | privat

 
Marc, was war oder ist dein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen-, Männer- und Väterthemen? Was dein politischer und fachlicher Zugang?
Einerseits gab es ab der späten Kindheit einen Schrecken vor vielen Situationen, die mit Konkurrenz, Aggression und (gegenseitiger) Abwertung bis hin zu Demütigung zu tun hatten. Manche kennen diese ex- oder implizite Gewalt ja ebenfalls, von Straßen, Bolzplätzen und Schulhöfen. Später habe ich gelernt, dass das durchaus zu den üblichen »Männlichkeitsanforderungen« gehört. Andererseits haben mich früh soziale Bewegungen und progressive Ideen fasziniert. Feminismus habe ich daher als Verbündeten erlebt: Das meiste, was er in Frage stellte, war ohnehin eine Bürde, und er half mir bei der Menschwerdung ungemein. Meiner Deutschlehrerin habe ich diesbezüglich viel zu verdanken.

Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen, Männern und Vätern?
Am Anfang war es vor allem Sexismus, auch Fragen rund um sexualisierte Gewalt. Ebenso war Homophobie, angeregt durch schwule und lesbische Freund*innen, ein Thema. Die massive Welle des Rechtsradikalismus Anfang der 1990er stellte Fragen, die sich schnell auch als Männerfragen herausstellten. Diese Fragen finde ich noch immer wichtig.

Wie hat sich dein Engagement für Jungen, Männer und Väter entwickelt, ggf. verändert?
Am Anfang standen diverse Männergruppen in Bremen. Gemeinsam wollten wir das Patriarchat, naja, stürzen ging offenbar nicht, aber zumindest stören. Unser Vehikel war das »Männercafé«, eine monatliche, thematische Diskussionsveranstaltung. Mein blinder Fleck war die Kombination »Arbeitswelt und Geschlecht/Männlichkeit«. Darauf brachte mich ab 2001 das Berliner Institut Dissens, bei dem ich dann rund ein Jahrzehnt zu genau diesem Thema geforscht, gelehrt und beraten habe.

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche/historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Da gibt es mehr, als ich aufzählen kann. Zunächst 1968, zwei Jahre vor meiner Geburt. Die Zeit um dieses Jahr herum war ein wichtiger Aufbruch aus der post-faschistischen Nachkriegskultur hin zur offeneren, demokratischen Gesellschaft, die auch geschlechterdemokratisch sein muss, was damals zumindest einige erkannten. Dann der Umbruch in der DDR und in Osteuropa ab 1989: Natürlich brachte er Freiheiten und Demokratie. Ich sah in dieser Zeit aber auch Gefahren: ein ungebremster, weltweiter Kapitalismus, die Erosion des Sozialstaates, aber vor allem der ungeheure Nationalismus, der sich nun vehement Bahn brach. Der führte viel Rassismus im Schlepptau, die Pogrome in Hoyerswerda und Rostock, ein massives Staatsversagen, das dann in die NSU-Mordserie mündete. Die Toleranz, die Politik und weite Teile der Gesellschaft diesen Bewegungen teilweise entgegenbrachten, hat mich immer entsetzt. Ich bin bis heute ratlos, warum traditionelle Männlichkeit aus dem Kontext von Nationalismus und Gewalt so lange ausgeblendet werden konnte. Das passierte weitgehend auch 2011 beim antifeministischen, rassistischen und Rückschritts-Manifest des Massenmörders Anders Breivik. Ähnliches gilt für den Trump’schen Rechtsradikalismus in den USA. Die Ernte solcher Ignoranz fährt heute hierzulande die AfD ein, deren Feindbilder die gleichen sind.

Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deinen privaten oder beruflichen Beziehungen?
Die stützenden, kritischen, nahen Beziehungen mit Menschen unterschiedlicher Geschlechter sind sicher das Wertvollste in meinem Leben. Selbsterfahrungsansätze wie Radikale Therapie und Co-Counseling haben geholfen, auch emotional zu wachsen und resilienter zu werden.

Drei Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und/oder Beziehungen zu anderen ausmachen?
Ich kann ganz gut auf andere zugehen; vor und mit Menschen reden, auch in größeren Gruppen, ist für mich eher angenehm. Ich arbeite auch gern in internationalen Netzwerken, das relativiert oft die Perspektive aus der eigenen, engeren Lebenswelt. Und zuletzt: Ich habe als Historiker gelernt, in längeren Entwicklungsprozessen zu denken, das kann helfen, wenn es gerade mal schwierig aussieht.

Was ist für dich »Erfolg« in deiner Auseinandersetzung mit Jungen-, Männer- und Väterthemen? Hast du Beispiele?
Es gibt sichtbare Erfolge, wie die Einführung der Partnermonate, die Vätern den Zugang zur Elternzeit erleichterte. Ich denke, dass wir mit unserer Forschung rund um »Caring Masculinities« ab den frühen 2000ern dazu beigetragen haben. Neben sehr vielen Kolleg*innen in der EU nenne ich hier vor allem die von Dissens und dem VMG Steiermark. Das Care-Paradigma hat sich ja ein wenig etabliert in der Debatte über Männlichkeiten, das finde ich erfreulich.

Was gibt dir persönlich Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen?
Ganz allgemein ist es immer ein angemessenes Verhältnis aus Herausforderung und Anerkennung, oder aus Sicherheit und produktiver Verunsicherung. Ich bin ein Teamplayer, ich brauche Austausch, emotionale Resonanz und intellektuelle Anregung. Wenn ich das habe, geht es mir gut.

Was hat die Männer/* ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast?
Dass sie die Privilegien und die Kosten traditioneller Männlichkeit gleichzeitig sehen konnten. Denn weder Gewalt noch Homophobie, weder »carelessness« noch ungebremste Konkurrenz, also Kerne hegemonialer Männlichkeit, liegen im Interesse von Jungen, Männern und Vätern selbst. Ich mag es, wenn Männer nicht einfach »männer-identifiziert« sind, sondern Verantwortung für ihre soziale Rolle und Positionierung übernehmen, auch öffentlich. Dabei sollten wir aber auch empathisch sein und verstehen wollen, was andere antreibt. Verstehen heißt ja nicht, es unkritisch hinzunehmen.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis vom Umgang mit Jungen-, Männer- und Väterthemen?
Leider ignorieren viele noch immer, dass Männlichkeits-Stereotype und soziale Ungleichheit ein guter Nährboden für Sexismus, Aggression und Gewalt sind. Die Wut, die Feminismus und das Wort »Gender« in manchen (insbesondere Männern) auslösen, könnte sich in Krisenzeiten verstärken, in denen altes Denken den Schein von Sicherheit und Heimeligkeit verbreitet. Es gibt auch in einflussreichen Eliten manche, die würden gerne die Zeit zurückdrehen, als Frauen, Schwule, Nicht-Weiße und Trans* nichts zu sagen hatten. Widerstand dagegen und überzeugende Konzepte werden noch wichtiger, denn das Problem bleibt stereotype, traditionelle, patriarchale und konkurrenzbasierte Männlichkeit.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest?
Wir sind gerade beim Bundesforum Männer dabei, im Angesicht der Klimakrise unsere Konzepte zu erweitern, in Richtung »Männlichkeit(en) nachhaltig gestalten« – also »caring masculinities« auch unter den Gesichtspunkten von ökologischer Verantwortung, sozialer und wirtschaftlicher Resilienz zu erweitern. Ich würde auch gerne weiterhin noch in Wirtschaft und Betrieben das Thema »Männer und Gleichstellung« pushen. Hier können manche von Start-ups etwas lernen, auch weil eine neue Männergeneration da oft schon progressiver denkt und fühlt als meine eigene. Das wird leider oft übersehen, und ich fände toll, wenn wir es schaffen, dass die Generationen Y und Z sich noch stärker im Bundesforum einbringen.
 
 

 
 
 
 
 
 
:: Marc Gärtner, Jahrgang 1970, ist Referent für internationale Gleichstellungspolitik beim Bundesforum Männer. Er studierte Geschichte, Kulturwissenschaft und Soziologie. 2012 promovierte er an der FU Berlin mit einer Arbeit über Männer und die betrieblichen Bedingungen ihrer Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Seit den 1990er Jahren beschäftigt er sich aktiv – politisch, wissenschaftlich und gesellschaftlich – mit Fragen von Mannsein und Männlichkeit(en). Seit 2001 forscht, lehrt und berät er schwerpunktmäßig zu den Themen Arbeit, Organisation und Geschlecht. Zunächst führte er beim Institut Dissens erste Studien zu Männern und Gleichstellung im Betrieb durch (Work Changes Gender, 2005, und Fostering Caring Masculinities, 2006). 2012 war er an der ersten umfassenden, europaweiten Vergleichsstudie zur Rolle von Männern in Gleichstellungsprozessen beteiligt. 2012-16 führte er in Kooperation mit der EAF Berlin betriebliche Projekte zu Führung, Vereinbarkeit. Diversität und Gleichstellung durch, u.a. Karriere mit Kindern und FleXship. 2017-22 forschte er beim Grazer Institut für Männer- und Geschlechterforschung. Er ist Vorstandsmitglied der EAF Berlin und kooperiert mit Organisationen aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und NGOs in Deutschland, Österreich und der EU. Regelmäßig publiziert er zu Themen wie Diversity Management, Work/Life-Fragen und Organisationen. Außerdem ist er (Co)Autor diverser Publikationen zum Thema Antifeminismus, u.a. im Bereich der Wissenschaftskritik. – Kontakt: gaertner@bundesforum-maenner.de.

»Der Anspruch sollte sein, etwas zu tun, was einem Jungen in seiner Situation hilft.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Josef Riederle, Kiel

drei junge Männer vor dramatischem Himmel

Leitfragen: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: e.kat, photocase.de | privat

 
Nach einem Verwaltungsstudium habe ich mit 29 Jahren noch Sozialpädagogik studiert. Dann begann im April 1991 der Aufbau des »Männerzentrum Kiel e.V.«, in welchem ich über 4 Jahre lang leitend aktiv war. Und 1992 absolvierte ich die Jungenarbeiter-Weiterbildung (antisexistische Jungenarbeit) an der Heimvolkshochschule Alte Molkerei Frille, um dann 1995 KRAFTPROTZ Bildungsinstitut für Jungen und Männer zu gründen, das ich 2020 an meinen Nachfolger übergeben habe. Zusammen: ein 30 Jahre langer Weg, der davon geprägt war, dass es für die Belange von Jungen und Männern kaum Verständnis gab. Die notwendige Frauenemanzipationsbewegung hat eine Sichtweise auf Jungen und Männer als störende, zerstörende, sexistische Wesen, die von der patriarchalen Dividende profitieren, entwickelt. Eine defizitorientierte Wahrnehmung, die nur einen Teil der männlichen Wirklichkeit abbildete und nicht erkannte, dass Jungen zu Männern gemacht werden. So wurden z.B. die Angebote der Jugendzentren von Jungs wahrgenommen. Aber niemand fragte danach, ob diese Angebote die Entwicklung von Jungs hin zu verantwortlicher Männlichkeit fördern oder ein tradiertes Männlichkeitsstereotyp bedienen.

1990 habe ich eine Veranstaltung zu Angsträumen in Kiel besucht und dort gab es eine Arbeitsgruppe nur für Männer. Die Inhalte der AG weiß ich nicht mehr, aber ich erinnere mich gut, wie beschämend ich es fand, dass die veranstaltende Frauenorganisation für uns Männer ein Forum schaffen musste, damit wir überhaupt mal zusammenkamen. Das war der entscheidende Funke, um zusammen mit anderen Männern das »Männerzentrum Kiel e.V.« zu gründen. Der Leitsatz für Jungenarbeiter: »Du selbst bist Dein wichtigstes Werkzeug!« macht deutlich, dass jeder, der mit Jungs arbeiten will, auch seine eigene Biografie, seine Werte und sein Mann-Sein in einer patriarchalen Gesellschaft reflektieren sollte. Denn der »heimliche Lehrplan« prägt das eigene Wirken mit.

Ich habe die Haltung, die ein Mensch berücksichtigen sollte, der mit Menschen arbeitet, in vier Sätzen ausgedrückt, die als Botschaft beim Gegenüber ankommen sollten:
1. Ich sehe Dich: Ich bin da. Ich interessiere mich für Dich. Ich bin bereit, hinter Deine Fassade zu schauen und Dich bei Deinem Blick hinter Deine Fassade zu begleiten.
2. Du bist okay: Die persönliche Wertschätzung als Mensch, den persönlichen Respekt hat jeder verdient. Aber nicht alles, was jemand macht, ist okay. Das konkrete Verhalten darf und soll kritisch reflektiert werden, doch die Person wird respektvoll behandelt.
3. Du gehörst dazu: Du bist ein Junge und daher gehörst Du dazu. Du bist ein Mann und daher gehörst Du dazu. Du musst nichts dafür tun, musst nicht gigantisch sein, Dich nicht besser oder größer darstellen als Du bist. So wie Du bist, gehörst Du dazu und genügst.
4. Ich bleibe: Ich halte Dich aus. Ich breche nicht zusammen, wenn Du deine Wut und Deinen Frust zeigst. Ich bin der Scheuerpfahl, an dem Du Dich reiben kannst. Ich konfrontiere Dich mit mir und mit meinen Werten und Bedürfnissen.

Ich habe versucht, Jungs und Männern zu verdeutlichen, dass alles, was sie empfinden, zu einem gesunden Mannsein gehört. Ich mag es nicht, von femininen Anteilen zu sprechen. Es ist alles ein männlicher Anteil eines Mannes. Alle Anteile sind gleich wertvoll, alle sind wichtige Teile eines ganzen Mannes.
Ohnmacht und Hilflosigkeit sind Empfindungen, die wohl keiner gerne spürt. Doch als Jungenarbeiter und als pädagogisch Wirkender gehören sie zum Alltag. Damit meine ich nicht, dass man nichts tun könnte. Doch der Anspruch sollte sein, etwas zu tun, was förderlich ist, was einem Jungen in seiner Situation hilft. Und da war ich oft hilflos, weil ich nicht wusste, was jetzt wirklich hilft und nicht nur einer schwierigen Situation ein vorläufiges Ende bereitet.

Ich habe in all den Jahren viele positive Rückmeldungen bekommen und weiß, dass der Arbeitsansatz der KampfESspiele® viele Frauen und Männer in ihrem beruflichen und privaten Sein gestärkt und geprägt und auch den Blick auf Jungen verändert hat.
Ich fand es immer wichtig, dass Jungen unter Jungen sein dürfen. Geschlechtshomogene Arbeit eröffnet einen Schon- und Gedeihraum zum Wachsen. Und in der Jungenarbeit ist das kein reduziertes Männlichkeitsstereotyp, das angeboten wird, sondern ein vielschichtiges, gefühlvolles, individuelles, kraftvolles, herzliches, lebensbejahendes Bild vom Junge- und Mannsein. Leider wird dies durch »moderne« Sichtweisen und Theorien in Frage gestellt und endlose Diskussionen haben mich ermüdet.

Spannend fand ich in all den Jahren die Zusammenarbeit mit der Mädchenarbeit, und die Berührungsängste der Anfangszeiten haben sich längst in eine achtsame, wertschätzende, auch sich ergänzende Akzeptanz entwickelt. Ich war nie der Netzwerker, der sich in lokalen und nationalen Arbeitskreisen wohl gefühlt hat. Ich glaube, ich habe manch einen Kollegen und manch eine Kollegin enttäuscht, wenn ich nach kurzer Zeit mehr oder weniger lautlos nicht mehr erschienen bin.

Der Kooperationspartner, der mich die letzten 20 Jahre am meisten begleitet und inspiriert hat, ist der Schweizer Verein Respect!. Vor allem Urban Brühwiler ist mir ein so geschätzter und freundschaftlicher Kollege geworden, und ich bin dankbar für jeden Tag, den ich mit ihm zusammenarbeiten durfte.

Ich arbeite seit 16 Jahren ehrenamtlich bei Männerpfade mit. Männerpfade unterstützt Männer dabei, ihr wahres Selbst zu entdecken und dem Diktat des Egos zu entkommen. Dort arbeite ich auch seit zwei Jahren in einer Ältesten-Werkstatt mit. Zunächst einmal sprechen wir von Herzen und hören einander mit offenem Herzen zu. Die Wege und Herangehensweisen an das Altern sind so unterschiedlich. Ziel dieser Werkstatt ist es auch, herauszufinden, was das Älteste-Sein in unserer Gesellschaft ist und wie es wirken kann.
Ein intensives und glückliches Leben im Angesicht des körperlichen und psychischen Abbaus, im Angesicht des sicheren Todes und der eventuell vielen Jahre, die Mann nach dem Ende der Erwerbsphase noch zu leben hat.

Ich habe mal einen Satz aufgeschrieben, der mich weiter begleitet: »Wer mehr sein will, muss lassen können.« Darum geht es mir jetzt auch mehr. Loslassen und Dasein. Und durch das Dasein auch ansprechbar sein.
Ich will mir noch viele Fragen anhören und keine Antworten darauf geben, sondern lediglich kleine Bemerkungen, die dazu führen können, dass sich die Frage weiterentwickelt.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
:: Josef Riederle, Jahrgang 1959, Kiel.

»Ich habe stets für Differenzierung plädiert und lehne die pauschale Entlarvungsattitüde ab.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Thomas Gesterkamp, Köln

Menschen in einer Bahnhofshalle
Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: PixelClown, photocase.de | Alexander Bentheim

 
Was war dein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen-, Männer- und Väterthemen?
Meine erste Männergruppe hatte ich schon Ende der 1970er Jahre in meiner Heimatstadt Münster, da war ich 19 oder 20 Jahre alt. Unter Freunden haben wir über unsere Beziehungen zu Frauen, über Gefühle, Verunsicherung und sogar über Sexualität geredet, das war damals sehr ungewöhnlich. »Basisliteratur« war ein schmales Bändchen mit lustigen Zeichnungen, »Männergruppen« von Helmut Rödner, der Untertitel lautete: »Versuche einer Veränderung der traditionellen Männerrolle«.

Und dein politischer und fachlicher Zugang?
Der kam viel später. Anfang der 1980er Jahre habe ich mich auf mein Studium der Soziologie, Pädagogik und Publizistik konzentriert. Schon in der Unizeit war ich Mitarbeiter eines lokalen Stadtmagazins, nach dem Examen dort auch zwei Jahre festangestellt als Redakteur. Danach habe ich mich selbständig gemacht als freier Journalist und mit vier Kolleg:innen eine Bürogemeinschaft in Köln gegründet. Schwerpunkte waren wirtschafts- und kulturpolitische Themen, Geschlechterfragen spielten zunächst keine große Rolle. Das änderte sich Anfang der 1990er Jahre durch die Geburt meiner Tochter und das eigene Vatersein, und durch die Kooperation mit Dieter Schnack, mit dem zusammen ich mein erstes Buch »Hauptsache Arbeit – Männer zwischen Beruf und Familie« veröffentlicht habe.

Was waren damals und sind heute deine zentralen Themen?
Indirekt waren die ersten Jahre meiner journalistischen Tätigkeit schon verknüpft mit Gender-Themen. Ich habe viel über die Arbeitswelt berichtet, über Betriebsrats- oder Gewerkschaftskontakte ergab sich die Möglichkeit, zahlreiche Unternehmen von innen zu sehen. Schon früh hat mich dabei die Frage beschäftigt, warum Männer eigentlich so viel und so lange arbeiten, warum ihnen die Rolle des Ernährers so wichtig ist – und welche Folgen das hat für ihre privaten Interessen, für ihr Leben mit Frauen und Kindern.

Wie haben sich deine Tätigkeiten entwickelt und verändert?
Das Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie aus Vätersicht hat mich lange beschäftigt. In meinem zweiten Buch »gutesleben.de«, das nach dem Internet-Hype um die Jahrtausendwende erschien, lote ich aus, welche Chancen digitale Techniken bieten, damit Männer eine weniger eindimensionale, nicht nur auf den Beruf beschränkte Identität entwickeln können. »Die Krise der Kerle« war dann eine leicht popularisierte Version meiner Promotion über »Männliche Arbeits- und Lebensstile in der Informationsgesellschaft«. Hier ging es mir vor allem um die »double loser«, wie sie im Englischen heißen, die doppelten Verlierer: Männer, die erwerbslos sind oder sehr prekär arbeiten – und deshalb auch keine Partnerin finden, weil sie deren Erwartungen nicht erfüllen können.

Was war für dich im Rückblick das nachhaltigste Ereignis im Kontext deiner Arbeit?
Im Kontext der Väterdebatte sicher der ungeheure Schub, den das Elternzeitgesetz ab 2007 ausgelöst hat. Die Quote der männlichen Beteiligung stieg binnen weniger Jahre von 3,5 auf rund 40 Prozent. Es war für die meisten Männer eine ganz neue Erfahrung, plötzlich zeitweise allein für ein Kleinkind verantwortlich zu sein. Und selbst wenn die Mehrheit, was die Frauenpolitik regelmäßig kritisiert, nur zwei Monate pausiert, ist das etwas gänzlich anderes als null Monate. In meinem Buch »Die neuen Väter zwischen Kind und Karriere« beschreibe ich diesen Kulturwandel als »Papawelle«: alle Institutionen, die sich mit Familie und Erziehung beschäftigen, also etwa Krippen, Kitas, Schulen, Gerichte, Arztpraxen oder Bildungsstätten, müssen sich seither mit aktiveren Vätern auseinandersetzen. Erst recht gilt das für die Situation am Arbeitsplatz: Männer kommen durch die Elternzeit vielleicht auf den Geschmack, fordern anschließend mehr Teilzeit- oder Homeoffice-Angebote.

Was ist für dich »Erfolg« in deiner Männerarbeit?
Meine Form der Männerarbeit ist ja eher die Männerpublizistik. Ich hoffe, dass ich mit der schriftlichen wie mündlichen Verbreitung meiner Gedanken einen nicht ganz unwesentlichen Beitrag geleistet habe zu dem, wo emanzipatorische Männerpolitik heute steht.

Was gibt dir persönlich Sinn und Erfüllung in deiner Arbeit?
Wie alle Autoren sehe ich mich gerne gedruckt. Und ich vertrete auch gerne öffentlich meine Meinung, mag es auf der Bühne zu stehen, ob als Moderator, Vortragsredner oder Podiumsgast.

Mit welchen Institutionen und Personen hast du gerne zusammengearbeitet oder tust es noch?
Ich habe über die Männerarbeit zum Beispiel gelernt, die christlichen Kirchen mehr wertzuschätzen. Denn die hatten schon Männergruppen, als es noch gar keine Männerbewegung gab. Diese Gesprächskreise waren vorwiegend spirituell und weniger politisch orientiert, das gilt im Kern bis heute. Ich schätze auch die Arbeit der Parteistiftungen im Gender-Bereich, ein klares Profil hat hier allerdings nur die grüne Heinrich-Böll-Stiftung. Zudem gab und gibt es in vielen Städten regionale Foren von männerpolitischen Akteuren, mit denen ich regelmäßig kooperiert habe, in einigen war ich zeitweise auch aktives Mitglied. Im letzten Jahrzehnt hat sicher das Bundesforum Männer als Dachverband an Bedeutung gewonnen. Nicht zu vergessen selbstverständlich meine langjährige und immer sehr angenehme Zusammenarbeit mit der Zeitschrift »Switchboard« und ihrem Online-Nachfolger »MännerWege«.

Was hat die Männer ausgemacht, mit denen du gerne gearbeitet hast?
Es tut einfach immer wieder gut, Männer zu kennen und zu treffen, die wie ich selbst ein anderes Männlichkeitsbild vertreten und repräsentieren als das herkömmliche.

Hast du eine Lebensphilosophie, ein Motto?
Leute auf keinen Fall ohnmächtig zurücklassen, sie immer auch ermutigen. Das Positive nicht aus dem Blick verlieren, humorvoll und selbstironisch sein.

Wo siehst du Brüche in deiner Arbeit? Wodurch wurden diese verursacht?
Überrascht haben mich die heftigen Reaktionen auf meine Recherche »Geschlechterkampf von rechts«, die ich 2010 für die Friedrich-Ebert-Stiftung erstellt habe. Antifeministische Männerrechtler inszenierten im Internet einen hasserfüllten Shitstorm gegen meine Person. Der Titel der Broschüre führte offensichtlich zu Missverständnissen, weil das Wort »rechts« in Deutschland immer gleich mit »Nazi« assoziiert wird. Klar, es gibt tatsächlich faschistoide Maskulinisten wie den norwegischen Massenmörder Anders Breivik. Aber es war nie meine Absicht, Akteure pauschal in eine bestimmte Ecke zu stellen. Ich habe stets für Differenzierung plädiert, lehne die pauschale Entlarvungsattitüde ab – zu der leider auch das linke Antifa-Milieu neigt.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis von Männerarbeit?
Im leider sehr beharrlichen Fortbestehen des Patriarchats, der hegemonialen Männlichkeit im Sinne von Raewyn Connell. Und in Institutionen, die dies durch blockierende Rahmenbedingungen stützen. Man denke nur an das Ehegattensplitting, das immer noch die Hausfrauenrolle steuerlich subventioniert und damit auch die männliche Emanzipation behindert.

Was treibt dich trotz manchmal widriger Umstände weiter in deiner Arbeit an?
Ich habe schon so etwas wie eine »Mission«. Ich wünsche mir, dass mehr Männer ein facettenreiches »gutes Leben« führen können.

Welches Projekt würdest du gern noch umsetzen, wenn du die Möglichkeit dazu hättest?
Eine größere Veranstaltung über Männer und Krieg. Mich irritiert sehr, wie viele ehemalige Pazifisten die Seite gewechselt haben, plötzlich Waffenlieferungen in Krisengebiete unterstützen oder gar die Wehrpflicht wieder einführen wollen. Die Pflicht zum Soldatentum war schon immer eine besonders brisante Form der geschlechtsspezifischen Diskriminierung. Auf merkwürdige, meist unausgesprochene Weise herrschte aber gesellschaftlich Konsens, den männlichen Kriegsdienst mit der weiblichen Care-Arbeit zu verrechnen. Die neue »Wehrhaftigkeit«, die sich jetzt auch Sozialdemokraten oder Grüne wünschen, hat keineswegs zufällig zuerst der AfD-Rechtsaußen Björn Höcke gefordert. Damit will ich nichts zu tun haben, das ist ein extremer Rückfall in alte Rollenbilder.
 
 
 

 
 
 
 
 
 
:: Thomas Gesterkamp, Jahrgang 1957, lebt mit seiner Frau in Köln und ist Vater einer erwachsenen Tochter. Er ist promovierter Politikwissenschaftler und arbeitet als freier Journalist. Seit drei Jahrzehnten beschäftigt er sich mit geschlechterpolitischen Themen aus männlicher Perspektive. Er schrieb fünf Sachbücher und veröffentlichte hunderte von Beiträgen im Hörfunk, in Zeitungen, Fachzeitschriften und Sammelbänden zu männerpolitischen Fragen. Seine Recherchen hat er auf über 700 öffentlichen Veranstaltungen im deutschsprachigen Raum sowie in zahlreichen europäischen Ländern präsentiert. Ehrenamtlich engagierte er sich beim »Männer-Väter-Forum«, Köln, und beim »Forum Männer in Theorie und Praxis der Geschlechterverhältnisse«, Berlin; zudem war er Mitbegründer des »Väter-Experten-Netz Deutschland«. Weitere Infos sind auf seiner Homepage hinterlegt, und erleben kann man ihn auch im biografischem Podcast-Interview mit Hagen Bottek vom »PROJEKT A4 – Männerberatung in Thüringen«.

»Sich für die gesellschaftlichen Veränderungen der Geschlechterverhältnisse unbeirrt einsetzen.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Gerhard Hafner, Berlin

Kleinkind im Park auf Fahrrad

Interview: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: 1100, photocase.de | Fotostudio Neukölln

 
Was war oder ist dein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen-, Männer- und Väterthemen? Was dein politischer und fachlicher Zugang?
Mein Zugang war in den 1970er Jahren auf der einen Seite der gesellschaftliche Impuls der Frauenbewegung, auf der persönlichen Ebene, dass ich mit meinen Liebesbeziehungen und meiner beruflichen Perspektive zutiefst unzufrieden war.

Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen in der Beschäftigung mit Jungen, Männern und Vätern?
In den 1970er Jahren stand die Auseinandersetzung mit meiner Männerrolle im Mittelpunkt. Heute beschäftigt mich der Zusammenhang zwischen hegemonialer Männlichkeit und Gewalt.

Wie hat sich dein Engagement für Jungen, Männer und Väter entwickelt, ggf. verändert?
Zu Anfang stand die Selbsterfahrung in der Männergruppe, heute das gesellschaftliche Engagement und die berufliche Tätigkeit im Zentrum.

Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deinen privaten und/oder beruflichen Beziehungen?
Dass ich Vater geworden bin, ist das Wichtigste.

Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit und/oder Beziehungen zu anderen ausmachen?
Die Verknüpfung von persönlichem und gesellschaftlichem Engagement. Und die Zusammenarbeit mit Frauen.

Was ist für dich »Erfolg« in deiner Auseinandersetzung mit Jungen-, Männer- und Väterthemen?
Den Aufbau von Beratungsstellen zusammen mit Männern und Frauen sehe ich als meine Erfolge.

Was gibt dir persönlich Sinn und Erfüllung in deinen beruflichen und privaten Beziehungen?
Die gemeinsame Arbeit mit Kolleginnen und Kollegen befruchtet mein berufliches Leben und gibt mir Impulse für mein privates Leben.

Was ist dir (mit) gelungen, worauf bist du (zusammen mit anderen) vielleicht auch stolz?
Die »Beratung für Männer – gegen Gewalt« hat sich in Berlin über die langen Jahre gut entwickelt.

Mit welchen Institutionen und Personen warst du gerne beruflich oder privat verbunden oder bist es noch?
Die »Beratung für Männer – gegen Gewalt« steht immer noch im Zentrum. Zugleich engagiere ich mich als Botschafter für die Kampagne »HeForShe« von UN Women Deutschland.

Was hat die Männer/* ausgemacht, mit denen du gerne zusammengearbeitet oder Zeit verbracht hast?
Ich habe mit Männern wie Frauen gerne zusammengearbeitet, die sich für die gesellschaftlichen Veränderungen der Geschlechterverhältnisse unbeirrt eingesetzt haben.

Hast du eine Lebensphilosophie, ggf. ein Lebensmotto?
Nicht lockerlassen!

Wo siehst du Brüche in deinen beruflichen oder freundschaftlichen Beziehungen? Wodurch wurden diese verursacht?
Wenn Kolleg*innen in ihrem persönlichen und gesellschaftlichen Engagement nachgelassen haben, gingen diese Beziehungen zu Ende.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis vom Umgang mit Jungen-, Männer- und Väterthemen?
Zum einen gibt es einen expliziten Anti-Feminismus, zum anderen leider immer noch die »verbale Offenheit bei weitgehender Verhaltensstarre« (Ulrich Beck).

Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deiner Arbeit an?
Mich treiben die weiterhin heftigen Sexismen an, aber auf der anderen Seite auch die Möglichkeiten der positiven Veränderungen.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest? Und was möchtest du gegen Ende deines Lebens erreicht haben?
Ich bin zurzeit dabei, ein neues Projekt aufzubauen: »Berliner Modell zur Eltern-Kind-Beratung nach häuslicher Gewalt im gerichtlichen Umgangsverfahren«. Die »Beratung für Männer – gegen Gewalt« baue ich zusammen mit Kolleg*innen weiter aus. Außerdem bin ich weiter als Botschafter der Kampagne »HeForShe von UN WOMEN Deutschland« engagiert. Das reicht.

 
 
 

 
 
 
 
 
 
 
:: Gerhard Hafner, Jg. 1949, ist Dipl.-Psychologe. Anno 1975 hat er eine der ersten profeministischen Männergruppen im Westen von Berlin mitgegründet und danach (überregionale) Männertreffen mitorganisiert, Männerzeitungen (u.a. »Herrmann – die falsche Stimme im Männerchor«) mitherausgegeben, die Berliner »Mannege – Information und Beratung für Männer« (heute Väterzentrum Berlin) mitgegründet und profeministische Männerstudien betrieben (u.a. zusammen mit Georg Brzoska: Möglichkeiten und Perspektiven der Veränderung der Männer, insbesondere der Väter. Forschung, Diskussionen und Projekte in den USA, Schweden und den Niederlanden, 1988). Seit den 1990er Jahren fokussiert er in seiner Arbeit die Themen engagierte Vaterschaft und Männergewalt gegen Frauen, indem er die »Beratung für Männer – gegen Gewalt«, »Kind im Blick« und im Jahr 2023 das »Berliner Modell zur Eltern-Kind-Beratung nach häuslicher Gewalt im gerichtlichen Umgangsverfahren« mitgegründet hat. Ehrenamtlich engagiert er sich als Botschafter bei der Kampagne »HeForShe« von UN WOMEN Deutschland.

»Was machst du denn da?« 18 Jahre Männerarbeit

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Markus Hofer, Feldkirch

Vater und Sohn mähen Gras auf der Alm

Interviewleitfragen: Alexander Bentheim und Ralf Ruhl
Fotos: lube, photocase.de | privat

 
»Was machst du denn da?« Als ich 1996 mit dem Männerbüro der Katholischen Kirche im österreichischen Vorarlberg begann, musste ich ständig erklären oder rechtfertigen, was ich da mache. Meiner Chefin, der Frauenreferentin, passierte das nie. Vermutlich wäre es heute noch nicht viel anders. Wie kam es zu meinem Engagement für Männer?

Alles rund um Männer und Frauen interessierte mich immer schon. Als die ersten Männergruppen aufkamen, hatten wir auch eine; wobei die Anregung nicht von mir kam. Es hat mir aber einfach gutgetan und wurde mir wichtig. Dann las ich die ersten Männerbücher und irgendwann hielt ich die ersten Vorträge zu Männerthemen. Unvergesslich bis heute ist mir ein Vortrag bei der örtlichen Handwerkerzunft, großteils lauter Männer. Die Jüngeren murrten »Jetzt reicht’s dann! Jetzt kann er wieder aufhören!«, die Älteren waren teilweise sehr berührt. Wahrscheinlich konnten sie es sich besser zugestehen, was ich erzählte. Und wahrscheinlich hatte ich die Moralkeule auch etwas zu sehr ausgepackt. Später versuchte ich es vermutlich charmanter und humorvoller. Aber es war für mich eine wichtige Erfahrung; und etwas Mut kostete es auch, mich einfach vor 120 Handwerker hinzustellen und über Mannsein zu reden.

Das Thema jedenfalls ließ mich nicht mehr los und als bei einer Umstrukturierung in unserem kleinen Bistum eine halbe Stelle für Männer blieb, habe ich mich darum beworben. Das war mein unmittelbarer Zugang zur Männerarbeit. Viel später erst wurde mir bewusst, dass das in meinem Leben noch tiefere Hintergründe hat.

Mein Großvater hatte im Ersten Weltkrieg noch für Kaiser und Vaterland gekämpft und er verstand gar nicht, dass ich den Wehrdienst verweigerte und mich zum Zivildienst meldete. Erst später begriff ich, dass dieser ansonsten sehr traditionelle Mann über längere Zeit Alleinerzieher war, als in der großen Arbeitslosigkeit zwischen den Weltkriegen nur meine Großmutter Arbeit fand, und das im weit entfernten Lech am Arlberg. Mein Großvater schaukelte mit seinen drei Kindern alles selber. Zuhause waren wir in der Familie fünf Söhne, ein kleines »Männerbüro« also. Als Ältester erlebte ich einen sehr präsenten Vater, der mir ein guter Ausgleich zu meiner doch starken Mutter war. Mit zehn Jahren kam ich ins Internat, freiwillig, und es war zumindest nachträglich besehen nicht so schlimm, wie man jetzt vielleicht vermuten würde. Von den Ferien abgesehen bin ich also wieder acht Jahre unter Männern herangewachsen. Im Zivildienst beim Roten Kreuz waren wir damals auch nur Männer. Ich hatte also offensichtlich immer schon viel mit Männern zu tun.

Eines meiner ersten Männerbücher war von Herb Goldberg und da gab es einen Satz, der meine Männerarbeit von Anfang an geprägt hat: »Männeremanzipation heißt nicht, dass die Männer jetzt so werden, wie die emanzipierten Frauen glauben, dass sie sein sollten.« Männerarbeit verstand ich von Anfang an als einen eigenständigen Prozess von Männern und für Männer. Einfach nur »den Feminismus« zu kopieren, war mir zu kurz gegriffen. Es war mir bewusst, dass das alles nicht ganz einfach war. Bis heute habe ich den Eindruck, dass Männer gerne und über vieles reden, aber am wenigsten über sich als Männer. Manche hatten auch Angst vor der Moralkeule: »Was ich zuhause alles falsch mache, sagt mir meine Frau dauernd. Das muss ich mir nicht von dir auch noch sagen lassen.« Daraus entstand für mich die Gretchenfrage – um eine Dame zu zitieren – der Männerarbeit: »Wie hältst du es mit den Männern? Liebst du sie? Oder willst du es ihnen zeigen?«

Eine weitere Überzeugung war mir in meiner Arbeit wichtig: Starke Männer und starke Frauen bilden die besten Partnerschaften. Von Anfang an hatte ich es immer wieder mit im Grunde schwachen Männern zu tun gehabt; auch wenn viele nach außen nicht so gewirkt haben mögen. Auch gewalttätige Männer sind für mich schwache Männer. Wirklich Starke haben es nicht nötig, mit Gewalt auf körperlich Schwächere loszugehen. Mit unmittelbaren Gewalttätern hatte ich nicht viel zu tun; da gab es bei uns eine eigene Gewaltberatung. Aber gerade in den Seminaren erlebte ich viele Männer, die eigentlich sehr schwach waren, wenn es drauf ankam, gerade auch in Beziehungen, mit wenig geerdetem Selbstbewusstsein. Ich erinnere mich noch gut an einen Mann, der wie ein Häufchen Elend vor mir saß und bekannte: »Früher wurde meine Frau von ihren Freundinnen immer beneidet, weil sie so einen netten Mann habe, der ihr alles tue. Jetzt, auf einmal, will sie sich scheiden lassen. Sie halte den ‚langweiligen Sack‘ nicht mehr aus«.

Je bekannter das Männerbüro in unserem kleinen, österreichischen Bundesland Vorarlberg wurde, umso mehr kamen natürlich auch Männer zu mir in die Beratung, obwohl wir eigentlich auch eine eigene Männerberatung hatten. Grundsätzlich bestand aber der Schwerpunkt meiner Arbeit in der Männerbildung. Ich hielt viele Vorträge über eine ganze Palette von Themen von Vätern über Jungenerziehung, Partnerschaft, Männerrollen bis zu Mütter und Söhne. Die Vorträge waren selbstverständlich immer offen auch für Frauen. Zusammen mit unserem Bildungshaus St. Arbogast habe ich unzählige Männerseminare angeboten, manche mehrtägig, die meisten aber eintägig. Es waren persönlichkeitsbildende Seminare für Männer mit einer breiten Themenpalette. Für viele Männer wurde das zu einem wichtigen Teil ihrer Lebensgestaltung: Hin und wieder »zum Service« gehen, sich zusammen mit anderen Gedanken über sich als Mann zu machen. Es waren an die zehn Seminare pro Jahr, die wir angeboten hatten. Selten mussten wir etwas absagen und oft gab es sogar Wartelisten. Das Thema Älterwerden als Mann wurde sogar regelrecht überrannt.

Eine Begebenheit werde ich nie vergessen. Das Thema des Männerseminars war »Vom Held zum Lebenskünstler«. Solche Tagesseminare beginne ich immer mit einer Runde zum Thema »Wer bin ich? Warum bin ich da?« Das hat sich als Einstieg stets bewährt und es ist erstaunlich, wie schnell und direkt viele Männer ihre Geschichten auspacken. Einmal dauerte bei sechzehn Männern allein diese Runde ganze zwei Stunden! Als der Sechzehnte an die Reihe kam, meinte er: »Warum bin ich da? Wenn das Seminar jetzt schon zu Ende wäre, hätte es sich für mich auf jeden Fall gelohnt, denn so etwas habe ich unter Männern noch nie erlebt.« Bei solchen Erlebnissen war es für mich nie eine Frage, ob sich meine Arbeit lohnt.

Daneben war es mir ein Anliegen, Lobbying für Männerthemen zu machen. Das war nicht gegen Frauen gerichtet, aber es ist gesellschaftlich wichtig, auch Männeranliegen und -perspektiven in den öffentlichen Diskurs einzubringen. Damals lief das ganz gut an, da die Medienleute gierig auf Neues waren. So kam ich vorerst leicht mit einem Thema oder einem Angebot in die Medien. Mein Highlight war eine wöchentliche Radiosendung, »Radio Vorarlberg: Männersache«, die mir der lokale Sender anbot und die ich über viele Jahre gestaltete. Anfangs bekam ich begeisterte Rückmeldungen von Frauen, doch dann waren es durchaus auch die Männer, die die kurze Sendung regelmäßig hörten.

Wichtig, wenn auch manchmal mühsam, war das Thema der Scheidungsväter. Da habe ich schon einige grausame Geschichten hautnah mitbekommen. Natürlich schießen Betroffene manchmal übers Ziel in ihrem Schmerz. Es wurde viel geschimpft über rabiate Scheidungsväter, aber kaum jemand fragte sich, warum sie so sind bzw. sich so verhalten. Kaum jemand riskierte einen Blick auf die Verwundungen und Verletzungen, die dahinterlagen. Manche von ihnen sahen in mir die einzige Einrichtung, in der sie auf Verständnis stießen. Solche Anliegen in die Öffentlichkeit zu tragen, war auch Teil meiner Arbeit. Wenn Betroffene Politik machen, kann es manchmal heikel werden. Genau darum tat ich mich leichter.

Nach achtzehn Jahren hauptberuflicher Männerarbeit kam ich allmählich in eine Art Leerlauf. Es gab kaum ein Thema, das ich nicht schon bearbeitet hatte. Bis zur Rente waren es aber noch acht Jahre und das funktioniert nicht im Leerlauf, weshalb ich mich beruflich noch einmal veränderte. Erfolg heißt für mich, Spuren zu hinterlassen, und ich hoffe, dass mir das gelungen ist, gesellschaftlich wie in einigen Männerherzen. Enttäuscht hat mich, dass mein Engagement keinen Nachfolger gefunden hatte. Die Männerberatung existiert zwar weiterhin, aber ansonsten gibt es in Vorarlberg neben den zurecht vielen Frauenreferaten kein Männerreferat mehr; und selbstverständlich immer noch keine Männersprecher in den Parteien. Einige der Älteren erinnern sich zweifellos noch, aber ansonsten ist zumindest gesellschaftspolitisch mein Männerbüro einfach Geschichte; da mache ich mir nichts vor.

Persönlich habe ich über die vielen Jahre enorm profitiert. Trotzdem hat mich manches auch selber eingeholt. Schmunzeln muss ich heute noch über das Thema Älterwerden. Als Experte erklärte ich anderen Männer, wie es so geht mit der Midlife-Krise, immer in der Überzeugung, dass mich das als Profi natürlich nicht betrifft. So kann mann sich täuschen. Ich war altersmäßig nur ein bisschen später dran. Inzwischen verstehe ich die Irrungen und Wirrungen dieser Umbruchsphase aus eigener Erfahrung. Heute habe ich auch diese Phase hinter mir, genieße in kreativer Weise meinen Ruhestand und denke gerade mit etwas nostalgischen Gefühlen an meine Männerarbeit zurück. Aber heute, wenn ich jemandem davon erzähle, heißt es immer noch: »Was hast du denn da gemacht?«
 
 
 

 
 
 
 
 
 
:: Markus Hofer, Dr. phil. Mag. Theol., Jahrgang 1957, verheiratet, kinderlos, wohnhaft in Götzis (Vorarlberg, Österreich). Erwachsenenbildner, Buchautor, Rentner.

»Neugierig bleiben für das, was noch kommt.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Alexander Bentheim, Hamburg

Mann vor Abendhimmel

Interview: Ralf Ruhl
Fotos: Alexander Bentheim | Ina Graf

 
Was war dein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen-, Männer- und Väterthemen? Was dein politischer und fachlicher Zugang?
Mein persönlicher Zugang war tatsächlich einer, der Trauer, Ohnmacht und Wut zugleich auslöste: eine enge Schulfreundin sprach eines Tages davon, dass sie als Jugendliche vergewaltigt wurde; ich kann mich noch an die kurzzeitige Blutleere in meinem Kopf erinnern. Ich studierte zu diesem Zeitpunkt und versuchte, Antworten auf meine aufgewühlten Emotionen zu finden. In der Uni-Bibliothek fand ich zum Thema – 1985, deutschsprachig – einige resolute Frauenbücher und zwei viktimologische Untersuchungen, das war alles. Ich wollte aber mehr wissen, gerade auch von Männern, die mit Gewalt nicht einverstanden sind. Weil die meisten Aussagen der Frauenliteratur zu »destruktiven Männern im Allgemeinen« und die Befunde der Kriminalitätsforschung zum »pathologischen Mann im Besonderen« unbefriedigend blieben, weder Generalisierung noch Individualisierung also weiterführten, war damit ein politisch-thematischer Zugang gelegt. In meiner Diplomarbeit beschäftigte ich mich dann für lange Zeit damit, warum Männer (sexualisiert) gewalttätig werden und welche gesellschaftlichen und traditionellen Strukturen dies begünstigen. Als zukünftiger Sozialpädagoge und Erwachsenenbildner wollte ich dann aber auch wissen, was interventiv, aber vor allem präventiv gegen Gewalt von Männern unternommen werden kann. Und was sich für Jungen sozialisatorisch ändern müsste, damit sie als Männer nicht gewalttätig werden.

Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen der Jungen-, Männer- und Väterarbeit? Wie haben sich deine Tätigkeiten hier entwickelt, ggf. verändert?
Meine Themen waren und blieben die Gewaltkontexte, damals Jungen und Männer als Ausübende, heute steht die eigene Gewaltbetroffenheit von Männern eher im Fokus. Beides hängt zusammen, nicht zwingend kausal, aber immer geht es um Fragen der Sozialisation, um Aneignungs- und Bewältigungsstrategien, um Selbstachtung und Selbstwirksamkeit, aber auch um (Rollen)Erwartungen, Hoffnungen, Kommunikation, Respekt, alles zentrale Lebensthemen. Neben der Gewaltfrage hat mich aber immer auch die Berufsorientierung interessiert, insbesondere, was es jenseits der traditionellen Männerberufe zu entdecken gibt und ob z.B. Pflege, Sorge, Kümmern nicht auch männlich aspektiert werden können. Das Thema erschloss sich mir als Pendant zur Gewalt, weil es um Entwicklung, Selbstverwirklichung, Empathie geht. Folgerichtig waren für mich daher auch die Projekte »Boys Day« und »Soziale Jungs Hamburg«, für die ich mich lange engagiert habe.

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Da gibt es einige. Beispielhaft hervorheben möchte ich die Kampagne »Mehr Respekt vor Kindern« des Bundesfamilienministeriums im Jahr 2000 und unseren öffentlichen Protest dagegen. Flankierend zum »Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung« (§ 1631 BGB) gab es eine bundesweite Plakat-Kampagne mit den Motiven von zwei Mädchen und einem Jungen. In einem Offenen Brief haben wir damals kritisiert, dass der abgebildete Junge nicht nur als Opfer dargestellt wurde, sondern bereits als potentieller Täter. Angesichts der damals schon breit geteilten Erfahrungen über die Folgen von Gewalt an Kindern war das unglaublich danebengegriffen und maximal fahrlässig. Das hat mich über Monate aufgeregt und verärgert! Mir sagte das: die Kampagnenverantwortlichen im Ministerium sind schlicht nicht auf der erwarteten fachlichen Höhe. Unserem Offenen Brief schlossen sich knapp 400 Frauen und Männer an, und erfreulich dabei: auch Kolleginnen aus Opferberatungsstellen und Frauenhäusern beteiligten sich. Angesichts vieler Konflikte in den Jahren zuvor zwischen Männern und Frauen im Themenfeld »Geschlecht und Gewalt« eine sehr angenehme Erfahrung. Die damalige Ministerin Christine Bergmann verteidigte die Aktion und stellte sie, wie das so üblich ist, als Erfolg dar. Renate Augstein, damals Leiterin des Grundsatzreferates Frauenpolitik im BMFSFJ, die ich vom gemeinsamen Forschungsprojekt der Opferhilfe e.V. und Männer gegen Männer-Gewalt Hamburg kannte, räumte in einem persönlichen Gespräch später ein, dass die Vergabe an die Werbefirma und insbesondere die Feedbackschleifen bis zur endgültigen Freigabe des Druckauftrags nicht ganz glücklich verlaufen seien.

Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deiner Arbeit?
Die jährlichen bundesweiten Männertreffen, an denen ich mit wenigen Ausnahmen seit 1986 teilnehme. Das ist immer so ein Mix aus Begegnung, Freizeit, Arbeit, Wohlgefühl, Experiment, Inspiration, Verbundenheit, Kurzurlaub. Da treffe ich Männer wieder, die ich über das Jahr nicht sehe, einfach weil sie zu weit weg wohnen. Schön daran: wir kommen alle mal raus aus unseren Alltagsblasen und erzählen uns, wie es uns über das Jahr ergangen ist. Und weil viele viel voneinander wissen, können wir uns gut tragen und halten, manchmal auch aushalten.

Drei Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit ausmachen?
Neugier, Zuverlässigkeit, Kontinuität.

Was ist für dich »Erfolg« in deiner Jungen-, Männer- oder Väterarbeit? Hast du Beispiele?
Erfolg in meiner Arbeit ist ja relativ und temporär. Wenn eine Entwicklung bei einem Klienten oder in einer Gruppe spürbar wird, im Sinne von Bewegung, gedanklich, emotional, dann würde ich von Erfolg sprechen. Wenn daraus noch Entscheidungen, Handlungen, gar neue Wege entstehen, umso besser. Und wenn meine Arbeit daran einen Anteil hat, durch einen Impuls, eine Begleitung, eine Ermutigung, auch mal eine Konfrontation, freut es mich. Feedback nach Jahren freut mich besonders, wenn da jemand auf mich zukommt und sagt: »Die Gespräche haben mir damals gutgetan, und das hat auch mit dir zu tun«.

Was gibt dir Sinn und Erfüllung in der Arbeit?
Wenn ich spüre, dass gegenseitiger Respekt gelebt wird und keine Worthülse bleibt, z.B. in laufenden Projekten. Da darf auch mal etwas langsamer als schneller vorangehen, Hauptsache, alle Beteiligten sind an Bord und die Schwarmintelligenz kommt zum Zuge. Lieber gründlich als überhastet – ich finde, dass wir uns für die wichtigen Dinge die Zeit zurückholen sollten, die etwas braucht, um zu gelingen, Entschleunigung als Grundrecht – Hetze im Alltag gibt es ohnehin genug. Wenn jemand mit Zeitdruck agiert, werde ich mittlerweile oft sehr gelassen und schaue erst mal, worum es überhaupt geht. Ich hinterfrage gerne behauptete Selbstverständlichkeiten und schaue, ob sie gerade für mich passen. Und ich liebe Kontinuitäten, auch so ein Dimension von Zeit. Wenn ich Kollegen von vor Jahren wiedertreffe und das Gefühl da ist, wir könnten gleich wieder da anknüpfen, wo wir neulich aufgehört haben – das ist der Hit!

Was ist dir (mit) gelungen, worauf bist du (zusammen mit anderen) stolz?
Dass ich an der ersten offiziellen Bestandsaufnahme zur Beziehungsgewaltarbeit in Deutschland beteiligt war. Dass wir fast 25 Jahre »Switchboard« gestaltet und herausgegeben haben, angefangen bei der geklammerten Lose-Blatt-Sammlung bis hin zum grafisch gestalteten Heft. Dass ich die »Sozialen Jungs Hamburg« fortgeführt habe, obwohl nach sechs Jahren das Budget halbiert wurde. Und dass ich mich mit meinen Sichten auf Jungen- und Männerarbeit oft verstanden fühle.

Mit welchen Institutionen und Personen hast du gerne zusammengearbeitet oder tust es noch?
Personen gibt es viele, Frauen wie Männer. Sicher sind dies die nahen Kollegen, mit denen mich eine lange berufliche, teils auch persönlich intensive Zusammenarbeit und Freundschaft verbindet. Es sind aber gar nicht so sehr Institutionen, sondern vielmehr Orte, an denen Begegnungen stattgefunden haben, die mir etwas bedeuten und die ich nicht missen will. Auch wenn es sie so nicht mehr gibt, wie z.B. die HVHS »Alte Molkerei« Frille. Dort bin ich mit der Jungenarbeit Mitte/Ende der 1980er Jahre beruflich großgeworden, hab gestritten, gelernt und sie ein Stück weit auch mitgestaltet. Und dann waren und sind – noch einmal – die kleinen und großen Männertreffen wichtige wechselnde Orte, für den persönlichen, aber auch fachlichen Austausch.

Was hat die Männer ausgemacht, mit denen du am liebsten zusammengearbeitet hast?
Im Wesentlichen waren und sind das die, die mir gedanklich, seelisch oder auch ganz pragmatisch in der Arbeit ähnlich sind, das macht vieles leichter, wenn die Zeiten und Themen gerade nicht so einfach sind. Aber ich fühle mich auch beschenkt, wenn Kritisches echt und zielführend rüberkommt. Das inspiriert und bereichert mich.

Hast du eine Lebensphilosophie?
Neugierig bleiben für das, was noch kommt.

Wo siehst du Brüche in deiner Arbeit? Wodurch wurden die verursacht?
Brüche als zeitliche und damit auch inhaltliche Unterbrechungen gab es immer dort, wo Vorhaben in der Jungen-, Männer- und Väterarbeit nur projektiert und befristet waren, und eben nicht oder kaum institutionalisiert und also auf Dauer gefördert wurden – obwohl sie von allen Seiten stets als wichtige Vorhaben eingestuft wurden. Das habe ich oft erlebt, auch bei Kollegen. Wie kann da langfristig etwas Nachhaltiges entstehen, wenn nach wenigen Jahren alles wieder auf null gestellt wird? Wenn die Kollegen abwandern (müssen), um ihren Lebensunterhalt zu verdienen und damit Expertise verloren geht? Politik und Verwaltung möchten sich oft gern profilieren, aber nicht verbindlich werden, das ist ein systemisches Problem. Würde Jungen-, Männer- und Väterarbeit so ernst genommen werden wie viele gesellschaftliche Akteur*innen sich hier ein echtes geschlechterdemokratisches Engagement wünschen, sähe es vermutlich anders aus. Nachhaltigkeit gibt es aber nicht zum Spartarif.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis von Jungen-, Männer- und Väterarbeit?
In misstrauischen Politiken und schwerfälligen Verwaltungen gegenüber allem, was deren selbst geschaffene Sicherheiten bedroht. Aber natürlich auch bei Männern und Frauen, Vätern und Müttern selbst: Ängste, Klischees, Scham, Gleichgültigkeit.

Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deiner Arbeit an?
Wenn Ärger und Frust am Ende doch noch in Kreativität und Hartnäckigkeit verwandelt werden können. Seit ich erfahren habe, dass Jungen-, Männer- und Väterarbeit alternativlos ist, will ich nicht mehr dahinter zurück.

Welches Projekt würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest? Und was möchtest du gegen Ende deines beruflichen Lebens erreicht haben?
Ich würde gern ein Archiv der Männerbewegung und Männerarbeit mitgestalten, Materialien und Dokumente dazu habe nicht nur ich reichlich. Es braucht aber Leute, die so etwas finanzieren, und weitere Leute, die das Archivieren richtig gelernt haben, damit es auch nutzbar gemacht werden kann für Interessierte, vielleicht auch für die nächste Generation. Ich kann da nur beratend und etwas einordnend gedankliche Fäden zusammenführen.

Eine nicht gestellte Frage, die du aber dennoch gerne beantworten möchtest?
Tatsächlich die Frage nach dem Reichtum, den es an männlichen Ausdrucksformen jenseits der üblichen Sprache noch oder immer wieder zu entdecken gibt, etwa in Tanz und Bewegung, Bildern und Filmen, auch Musik, Handwerk, Naturerleben und in der Kochkunst. In meinem Fall ist das die Fotografie, sie verschafft mir die Möglichkeit, Widersprüche, Botschaften und Stimmungen auszudrücken, wofür es nicht zwingend der gesprochenen Worte bedarf. Ich ziehe dafür alleine oder mit Freunden und der Kamera los. Die Fotografie setze ich auch in Portrait-Workshops mit Männern ein, mit wirklich schönen Ergebnissen zur Selbstfindung der Teilnehmer. Ich denke, dass diese »Sprachen« männerkulturelles Leben sehr bereichern und unendlich wichtige Beiträge zum gegenseitigen Wahrnehmen und Verstehen leisten können.

 
 
 

 
 
 
:: Alexander Bentheim, Jg. 1959, ist Dipl.-Pädagoge und ist seit 1986 in einem Mix aus Anstellung und Freiberuflichkeit als pädagogischer und wissenschaftlicher Mitarbeiter, Fortbildner, Lehrbeauftragter und Projektentwickler in der Männer-, Väter- und Jungenarbeit aktiv. Er war beteiligt an Forschungs- und Modellprojekten auf Bundes- und Länderebene zu den Themen Jungen/Männer und Gewalt (Täter, Opfer). Er arbeitete über 20 Jahre als Autor, (technischer) Redakteur, Mitherausgeber und Verleger von »Switchboard. Zeitschrift für Männer und Jungenarbeit«, gründete den Verlag, später auch die Agentur »MännerWege« mit und war in diesem Rahmen zusammen mit seinem langjährigen Kollegen Andreas Haase u.a. verantwortlich für den Aufbau des Väterportals NRW. Mit der Agentur war er auch Gründungsmitglied des »Bundesforum Männer« und war dort in der »Fachgruppe Jungen und junge Männer« aktiv. Er war Beiratsmitglied im bundesweiten BMFSFJ-Projekt »Neue Wege für Jungs« während dessen Pilotphase, organisierte über viele Jahre ein »Praxistreffen Jungenarbeit« für Kolleg*innen der Offenen Arbeit in Hamburg, koordinierte 17 Jahre lang den Hamburger Boys Day (»Was für Jungs!«) und leitete 13 Jahre das berufsorientierende Förderprojekt »Soziale Jungs Hamburg«. Seit 2020 ist er im Beratungsteam NRW des Männerhilfetelefon, engagiert sich darüber hinaus zusammen mit Frank Keil für das online-Portal »MännerWege« und arbeitet in eigener Praxis als Berater, Coach und Supervisor. Er lebt in Hamburg und ist nebenbei auch gern als Fotograf und Kleingärtner unterwegs. Über seine fotografische Arbeit kann man mehr erfahren auf den Portalen photocase, times-magazine und Instagram.

»Männer, die warten können, gewinnen.«

Der MännerWege Fragebogen – beantwortet von Ralf Ruhl, Göttingen

Spuren eines Hundes am Strand

Interview: Alexander Bentheim
Fotos: Alexander Bentheim

 
Was war oder ist dein persönlich-biografischer Zugang zu Jungen-, Männer- und Väterthemen? Was dein politischer und fachlicher Zugang?
Mein Vater, Jahrgang 1926, war Zeit seines Lebens von der in der Nazi-Zeit und im Krieg eingeprügelten Angst geprägt. Die hat er mit Härte überspielt. Und mir weitergegeben mit Jähzorn, Kälte, Abwesenheit. Entsprechend stark war die Sehnsucht nach einem anwesenden, zugewandten Vater, der mir Halt gibt, Orientierung, mich schützt, anerkennt und stärkt. So war mein Einstieg in die Männerbewegung der Kampf gegen das Bild des harten Mannes, der alles aushält. Logischerweise habe ich mit Jungenarbeit und Väterarbeit losgelegt.

Welche waren damals und sind heute deine zentralen Themen der Jungen-, Männer- und Väterarbeit?
Anfangs war es die Anerkennung, dass Männer wichtig sind für ihre Kinder, dass sie eine genauso starke Bindung zu ihren Kindern haben wie die Mütter, dass sie diese Beziehung genauso gut leben können. Heute ist das grundsätzlich anerkannt, es fehlen aber immer noch die wesentlichen Ressourcen, um Männern gleichberechtigte Elternschaft zu ermöglichen. Das liegt am Familienrecht, am immer noch vorherrschenden Identifikationsmuster Mann = Erwerbsarbeit – bei Männern und Frauen, bei den Möglichkeiten flexibler Lebensgestaltung und den Ansprüchen hoher Verfügbarkeit des Arbeitsmannes seitens der Arbeitgeber.

Wie haben sich deine Tätigkeiten in der Jungen-, Männer- und Väterarbeit entwickelt, ggf. verändert?
Ich bin mit den Themen gealtert bzw. habe meine Themen meinem Lebensalter angepasst. So bin ich aus der Jungenarbeit vor vielen Jahren ausgestiegen. Dass Männer eine spezifische Ansprache brauchen ist inzwischen unumstritten. Auch, dass es männliche Erzieher in Kitas und Lehrer in (Grund)Schulen braucht. Wobei ihnen mit dem Generalverdacht auf sexuellen Missbrauch seitens Eltern oder weiblichem Personal immer noch jede Menge Steine in den Weg gelegt werden und eine Gleichberechtigung hier noch lange nicht erreicht ist. Ich freue mich sehr, dass es inzwischen normal ist, Väter mit ihren Kindern auf dem Spielplatz und im Stadtbild zu begegnen, auch in der Provinz. Zu Beginn meiner Tätigkeit war ich oft der einzige Mann auf dem Spielplatz, erst recht in der Krabbelgruppe. Da hat sich viel getan.

Das für dich nachhaltigste gesellschaftliche oder historische Ereignis – auch im Kontext deiner Arbeit?
Das Wichtigste ist die Einführung der Partnermonate bei der Elternzeit. Das kommt einem Kulturbruch gleich. Hier wird endlich anerkannt, dass Männer nicht nur Arbeiter und Geldbeschaffer für die Familie sind, sondern dass sie eine eigene persönliche Bedeutung für Partnerschaft und Kinder haben.

Eine wichtige persönliche Erfahrung im Zusammenhang mit deiner Arbeit?
Ich habe fast immer als einziger heterosexueller Mann in Teams mit Frauen und mehrere Jahre auch mit schwulen Männern gearbeitet. Es hat jeweils viele Monate bis Jahre gedauert, bis ich mich anerkannt fühlte und die entsprechende Wertschätzung der Kolleginnen und Kollegen bekam. Dann aber habe ich sehr viel positive Rückmeldungen bekommen. Auch und gerade als »irgendwie anderer« Mann musste ich mich vor allem bei Frauen als Kolleginnen beweisen und durchsetzen.

Drei Eigenschaften, die dich in deiner Arbeit ausmachen?
Das Wichtigste: Zugewandtheit. Männer haben oft im Gespräch mit mir zum ersten Mal den Eindruck, dass ihnen jemand zuhört. Dann Geduld. Weil es häufig lange dauert, bis Männer Vertrauen fassen und sich öffnen. Und immer wieder Humor. Weil auch bei schwierigsten Themen es Leichtigkeit braucht, die Chancen für neue Sichtweisen und Perspektiven eröffnet.

Was ist für dich »Erfolg« in deiner Arbeit? Hast du ein Beispiel?
Erfolg ist für mich, wenn Männer sich öffnen und Veränderungsbereitschaft zeigen. In der Gruppe für Täter Häuslicher Gewalt – »Verantwortungstraining für Männer« – sind die Auswirkungen Häuslicher Gewalt auf Kinder im letzten Drittel des Trainings Thema. Ich zeige den norwegischen Animationsfilm »Der Wutmann«, in dem ein etwa vierjähriger Junge miterlebt, wie der Vater die Mutter verprügelt. Den Teilnehmern des Trainings stehen Tränen in den Augen. Weil sie das kennen. Weil sie das, was sie selbst als Kind erlebt haben, nie weitergeben wollten. Es aber trotzdem tun. Das schafft eine sehr tiefe, emotionale, wertschätzende Atmosphäre in der Gruppe, die persönliche Veränderung möglich macht.

Was gibt dir Sinn und Erfüllung in der Arbeit?
Erlebnisse wie eben beschrieben. Und Gespräche mit Kollegen, mit anderen aus der Männerbewegung. Wenn es da zum Flow kommt, Projekte überlegt und geplant werden, aus einem persönlichen Gefühl der Gemeinsamkeit heraus.

Was ist dir (mit) gelungen, worauf bist du (zusammen mit anderen) stolz?
Am meisten stolz bin ich darauf, dass Männer unterschiedlichen Alters und aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten mich in meiner Arbeit akzeptieren und wertschätzen, was sie dort erleben. Stolz bin ich auf die Videos, die ich mit Robert Moos für den Youtubekanal »Täterberatung Häusliche Gewalt« gedreht habe. Stolz bin ich auch auf verschiedene Artikel, die ich geschrieben habe, u.a. für die Zeitschrift »Gesundheit und Gesellschaft« der AOK. Und auf mein Buch »Kinder machen Männer stark«. Was mich glücklich macht: Dass meine Kinder meine Arbeit schätzen und anerkennen.

Mit welchen Institutionen und Personen hast du gerne zusammengearbeitet oder tust es noch?
Mit dem Göttinger Männerbüro, der Akademie Waldschlösschen, dem kidsgo-Verlag, paps e.V., mit Alexander Bentheim, Thomas Gesterkamp, Albert Krüger, Karsten Knigge, Werner Sauerborn, Robert Moos, dem Hilfetelefon »Gewalt an Männern«.

Was hat die Männer ausgemacht, mit denen du am liebsten zusammengearbeitet hast?
Freundlichkeit, Humor, Zugewandtheit, Wertschätzung, Wissen, Gelassenheit, Reflexionsbereitschaft, Offenheit.

Hast du eine Lebensphilosophie?
Männer, die warten können, gewinnen.

Wo siehst du Brüche in deiner Arbeit? Wodurch wurden die verursacht?
Es ist immer heftig zu spüren, wieviel vom alten Mann, der alten klassischen harten Männersozialisation in mir steckt. Das führt bestenfalls zu Erkenntnis, oft aber auch zu schrägen Widersprüchen. Ein starker Bruch: Es gibt kaum Nachwuchs in der Männerbewegung. Die nachwachsende Generation, die jungen Männer um 30, die wollen lieber den Mann an sich abschaffen – »Sei kein Mann« und ähnliche Titel verstopfen die Bestsellerlisten – als zu erkennen, wie und wo sie selbst Mann sind und das Männlichkeitsbild zu erweitern. Denn das würde auch bedeuten, wertzuschätzen, was an Männlichkeit und am Mannsein gut ist.

Wo liegen für dich die hartnäckigsten Widerstände gegen dein Verständnis von Jungen-, Männer- und Väterarbeit?
Bei konservativen Kräften in Wirtschaft und Politik, die am althergebrachten Bild der Geschlechterhierarchie festhalten. Weil sich Männer und Frauen so am besten ausbeuten lassen. Bei Pädagoginnen, Müttern, Kinderbuchautorinnen, für die ein Penis so bedrohlich ist, dass sie Kinder grundsätzlich vor allem Männlichen bewahren müssen. Bei etablierten Kräften der Frauenbewegung, die weiterhin die Deutungshoheit über alles, was Familie und Kinder angeht, allein für sich beanspruchen – so weit, dass noch nicht einmal gesehen wird, dass Täterarbeit Opferschutz bedeutet.

Was treibt dich – trotz manchmal widriger Umstände – weiter in deiner Arbeit an?
Ich bin alt und brauche das Geld 🙂 Gute Gespräche mit Kollegen und Kolleginnen. Freundschaft. Wissen, dass die Arbeit wichtig ist. Zu sehen, dass sie Früchte trägt. Bei Projekten und bei einzelnen Personen.

Welche Projekte würdest du gerne noch umsetzen, wenn du die Möglichkeiten dazu hättest? Und was möchtest du gegen Ende deines beruflichen Lebens erreicht haben?
Meinen persönlichen Väter-Podcast. Die Einrichtung von Schutzwohnungen für Männer in ganz Deutschland, vor allem aber in Hessen. Den Blick auf Jungen und Väter in Kinder- und Jugendbüchern schärfen durch gute und prägnante Rezensionen. Und einen Nachfolger für meine Arbeit in Eschwege gefunden haben. Am besten auch eine Regelfinanzierung für die Täterarbeit in Hessen erreichen.

Eine nicht gestellte Frage, du aber dennoch gerne beantworten möchtest?
Mein Männer-Lieblingsbuch: »Das etruskische Lächeln« von Jose Saramago. Mein Lieblingsfilm: »Second Best« mit William Hurt in der Regie von Chris Menges.

 
 
 

 
 
 
:: Ralf Ruhl, Jahrgang 1957, lebt in Göttingen, ist Vater eines Sohnes und einer Tochter, inzwischen auch Großvater. Er arbeitet bei der Beratungsstelle für Schwangerschaft, Familie und Sexualität der AWO Werra-Meißner in Eschwege. Seit Mitte der 1980er Jahre ist er in der Männerbewegung aktiv, hat das Männerbüro Göttingen mitbegründet, die Jungenarbeit der Pro Familia in Göttingen etabliert, den Fachbereich Männerbildung im Verein niedersächsischer Bildungsinitiativen geleitet, die Zeitschrift »paps« als Redakteur geleitet, das Internetportal www.vaeterzeit.de mitgegründet und als Redakteur geleitet. Jetzt arbeitet er mit Männern, die ihre Frauen verprügeln, und mit Männern, die selbst Opfer Häuslicher Gewalt wurden. Und schreibt und schreibt, wobei er besonders gern Kinder- und Jugendbücher für www.maennerwege.de rezensiert.