Ein Brief von Herrn H., die Nachwirkungen von Corona und warum wir alle so dünnhäutig sind.
Text: Frank Keil
Foto: pylonautin, photocase.de
Herr H. hat mir geschrieben, er schreibt mir einmal im Jahr, stets zwischen Ende Juli und Anfang August. Seinem Brief liegt dann die von ihm abgezeichnete rote Zählerkarte und die Abrechnung bei, wie viel für Strom ich ihm diesmal überweisen muss, die Beträge schwanken zwischen 15 und maximal 30 Euro. So viel an Strom habe ich dann in dem betreffenden Jahr verbraucht, für den elektrischen Rasenmäher, für die elektrische Heckenschere, für ein wenig Licht am Abend, wenn es Herbst wird oder noch nicht Sommer ist, für meinen Laptop, denn in meinem zugewucherten Kleingarten im Norden der Stadt fahre ich gerne und am liebsten zum Schreiben. Es gibt dort kein Wlan, der Handy-Empfang ist schlecht, ich habe meine Ruhe und kann an meinen Sätzen feilen oder auf der Suche nach Eingebung kreativ in den Himmel starren.
Am 1. Juli eines jeden Jahres ist der Termin zum Ablesen des Stromzählers. Man schaut sich die Ziffern auf dem Stromzähler an, trägt sie in die Karte ein, dann geht man zu Herrn H.‘s akkurat bepflanzter Parzelle, wo an der Eingangspforte ein kleiner, blecherner Briefkasten hängt, und man wirft die ausgefüllte Zählerkarte dort hinein. Und Herr H. rechnet dann aus, was man diesmal zu bezahlen hat, so ist der Ablauf. Es ist eigentlich ganz einfach und nicht weiter kompliziert. Nur – ist man nicht unbedingt am 1. Juli in seiner Parzelle. Und wenn, hat man vielleicht seine Karte zuhause gelassen (bei mir liegt sie in der Schublade meines Schreibtisches, ich brauche für die wichtigen Dinge einen festen Ort). Oder man vergisst es einfach, Alltagsmensch der man ist. Denkt sich: ‚Ach, das mache ich am Wochenende‘. Und dann war Wochenende und irgendwie ist man nicht dazugekommen, man hat sich um irgendetwas anderes gekümmert, während Herr H. auf die Karte wartet. Herr H. ist für die Parzellen der Nummern 82 bis 132 zuständig, er wartet also auf die Zählerkarten von 50 Kleingärtnern und Kleingärtnerinnen.
Herr H. schreibt: »In diesem Abrechnungsjahr fehlten mir am 17.7.2023 noch 21 Zählerkarten, das sind 42%, ein trauriger Rekord!« Überhaupt schwappt einem aus dem kurzen Brief, der diesmal der zurückgesandten Zählerkarte beiliegt, sehr viel mühsam unterdrückter Ärger entgegen. »Vielleicht klappt es ja beim nächsten Termin besser«, schließt er leicht resigniert.
Zufällig (wenn es Zufälle gibt, eine Frage für sich) trudelt Herrn H.‘s Brief ein, da lese ich gerade einen Essay von Klaus Hurrelmann in der »Süddeutschen Zeitung«. Ich habe einiges von ihm während meines Studiums gelesen, was immer klug und bedenkenswert war. Hurrelmann ist salopp gesagt der Erfinder der »Shell-Jugend-Studie«, die man getrost als wegweisend bezeichnen darf. Mittlerweile ist er 79 Jahre alt und noch immer forschend tätig, etwa mit der Nachfolge-Studie »Jugend in Deutschland«. In seinem Essay schlägt er einen weiten Bogen vom aktuellen Umfrage-Erfolg der AfD über die Siegeszüge der Rechtspopulisten in diversen Ländern und Regionen hin zum schwachen Bild der Ampel-Koalition und weiter geht es zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie. Er konstatiert eine weitverbreitete pessimistische Stimmung in der Bevölkerung; Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit hätten sich festgesetzt und würden nicht weichen. Und eine Krise jage die andere. Vielen ist vieles zu viel. Er schreibt: »Viele Menschen aller Altersgruppen sind erschöpft, am Rande ihrer psychischen Kräfte. Sie bräuchten dringend Ruhe und Schonung, um sich zu regenerieren und ihre ‚Freudlosigkeit‘ zu überwinden. Genau das aber ist ihnen nicht möglich.« Und so würden sich politisch wie im Privaten immer mehr die Kräfte durchsetzen, die auf komplizierte Fragen behaupten einfache Antworten zu wissen, denen man nur folgen müsse und dann sei endlich Ruhe und Schutz vor allem.
Und er entdeckt Anzeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung, der Einzelnen wie der bundesdeutschen Gesellschaft generell. Natürlich ist ihm bewusst, dass es nicht unheikel ist, eine am Ende psychiatrische Diagnose auf die Gesellschaft und ihre einzelnen Felder per se anzuwenden. »Man muss mit der Metapher der posttraumatischen Belastungsstörung vorsichtig sein, das sehe ich auch. Aber meine Idee ist ja nicht, diese Menschen zu pathologisieren, sondern zu zeigen, dass Politik mit dieser nachvollziehbaren Verunsicherung und Orientierungslosigkeit der Menschen umgehen muss. Und das nicht nur rational«, sagt er in einem nachfolgenden Interview zu seinen Überlegungen in der »taz«. Er sagt weiter: »Alle Erfahrungen aus der Psychiatrie sagen, dass eine posttraumatische Belastungsstörung heilbar ist. Das braucht Zeit, der wichtigste Schritt ist, wieder die Kontrolle über das eigene Leben zu gewinnen.« Und: »Dazu muss ich das Trauma, das mich umgeworfen hat, verstehen. Ich muss anerkennen, dass es jetzt Bestandteil meines Lebens ist und ich damit leben muss.«
Ich kann damit viel anfangen. Treffe ich mich mit Freunden, Freundinnen, Bekannten oder Kolleg*innen, sprechen wir bald über Corona, obwohl das doch eigentlich so lange her ist, aber wann war Corona noch mal genau und wie waren die einzelnen Phasen? Wir erzählen uns, wie schnell uns etwas aus der Fassung bringt, wie dünnhäutig wir geworden sind und auch, dass wir uns regelrecht zwingen müssen, wieder mehr unter Leute zu gehen, auf Partys und Feste. Und dass irgendwie kein Ende in Sicht ist (da sind wir dann meistens bei Donald Trump angekommen und sagen gleichzeitig Sätze wie »Ist doch schlimm, dass dieser Arsch uns so beschäftigt, das ist doch nicht okay, oder?«). Und wir listen auf, was uns fassungslos und wütend macht, was nichts anderes ist als eine Umschreibung dafür, wie hilflos und ausgeliefert wir uns fühlen: dem nicht endenden Krieg in der Mitte Europas gegenüber, die längst gekippte Stimmung in weiten Teilen Ostdeutschlands, die immer härter werdende Politik gegenüber Geflüchteten (heute morgen wurde im Radio der tunesische Innenminister zitiert, dass es stimme, dass man in seinem Land afrikanische Geflüchtete zurückschicke und in der Wüste aussetze, aber es seien nur wenige, also nicht viele, und die Toten, die man entdeckt habe, seien nicht auf tunesischem Staatsgebiet aufgefunden worden) und vielleicht ist ja auch dieser Text wenigstens zum Teil von einer KI geschrieben worden, die nächste, noch gar nicht einzuschätzende Bedrohung nicht nur für Menschen meiner Zunft. Und schaue ich ganz für mich in die wirklich gute Pflegeeinrichtung meiner bald 90-jährigen Mutter und wie man dort mit dem Personalmangel und den monatlich steigenden Kosten kämpft und denke ich dann an mein Älterwerden, oh je …
Oder vor zwei Tagen auf einer Redaktionskonferenz; wir kennen uns dort alle gut und sind uns recht vertraut: Ein Kollege erzählte, er schaue abends keine Nachrichten mehr. Nicht die »Tagesthemen«, nicht das »Heute-Journal«. Nicht aus Prinzip oder so; nicht aus Misstrauen gegenüber den Medien, was man manchmal zu hören bekommt. Sondern sozusagen aus dem Gegenteil heraus: Die ja fundierte und ausführliche Berichterstattung über den Krieg gegen die Ukraine, die derzeit und bis auf weiteres kaum absehbaren Folgen der Klimakrise, die lokalen Kriege und politischen Krisen in allen Teilen der Welt, die gesellschaftliche Spaltung bei uns, dazu das Zögern der Politik, er wolle gerade das nicht mehr sehen. Er könne nicht mehr. Er komme selbst nicht mehr aus dem Krisen-Modus heraus, es mache ihn nur hilflos und wem sei damit geholfen. Hurrelmann sagt dazu: »Wichtig ist dabei, dass ich nicht ständig an das Ohnmachtsgefühl erinnert werde.« Und so gesehen macht es der Kollege für sich genau richtig.
Herr H. hat seine Art gefunden, seinem Ärger auf die Welt, seinem Frust und wohl auch seiner Enttäuschung Luft zu verschaffen. Er berechnet uns Kleingärtner*nnen diesmal je eine »erhöhte Aufwandpauschale« für den »erheblichen Mehraufwand« in Höhe von vier Euro. Das geht in Ordnung, ich habe ihm gleich heute morgen als allererstes das Geld überwiesen. Jede und jeder braucht derzeit unbedingt sein Ventil.